Das Standardwerk von Sybille Ebert-Schifferer
Bestellen bei Amazon.de oder Amazon.fr
Die Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden, Sybille Ebert-Schifferer, die Lehraufträge an den Universitäten Frankfurt und Bonn wahrnimmt, ist einem grösseren Publikum dank der für das Fernsehen leider fast einmaligen Diskussionen Bilderstreit. Kunst im Gespräch auf 3sat bekannt. Mit dem prachtvollen, grossformatigen Band zur Geschichte des Stillebens legt sie ein Werk vor, das nicht nur wegen seiner Farbabbildungen eine Zierde für jede Bibliothek ist, sondern auch durch seinen Inhalt besticht.
Die Geschichte des Stillebens umfasst die Entwicklung dieser heute bei Kunstsachverständigen, Intellektuellen, Sammlern und <einfachen> Menschen beliebten Gattung der Malerei von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Vor allem Mosaike und Malereien aus römischer Zeit sind uns von den Anfängen dieser Kunstform erhalten geblieben. Doch auch den Griechen war die Mimesis, die Nachahmung der Natur bis zur Täuschung, nicht fremd. Stilleben dienten in der Antike der Dekoration und Repräsentation (Xenien). Die eigene Fähigkeit zum Konsum wurde dargestellt, zum Beispiel im Speiseraum. Aber auch bereits im privaten Empfangsraum begegnete der Gast der Vorführung des Ertrags der Domäne des Hausherrn. Danach verschwand das Stilleben für längere Zeit aus der europäischen Kunst (die arabische, chinesische oder japanische Geschichte dieser Gattung bleibt bei Ebert-Schifferer ausgeblendet). Im Mittelalter galt die irdische Realität als nicht abbildungswürdig. Diese Einstellung änderte sich erst gegen Ende der spätscholatischen Philosophie mit dem Nominalismus von Wilhelm von Ockham (1285-1349). Der bedeutendste Schüler Giottos, Taddeo Gaddi (1300-1366) knüpfte wieder an die illusionistische Malerei an und schuf zum Beispiel Scheinnischen in Florenz, gefüllt mit Gegenständen. Im 15. Jahrhundert, als Memento mori, <Bedenke, dass du sterben wirst>, eine jedermann geläufige Mahnung war, erschienen Totenschädel auf den Rückseiten niederländischer und italienischer Portäts. Vanitas-Darstellungen – verbunden mit programmatischen Texten – fanden weite Verbreitung. Um 1504 entstand das früheste bekannte, signierte und datierte Trompe-l’oeil. Das Stilleben stammte von Jacopo de‘ Barbari (ca. 1440 bis vor 1515). Die einsetzende Forschung und Auseinandersetzung mit Mensch, Tier und Natur gab dem Stilleben neue Impulse. Die weltbekannten Naturstudien von Leonardo da Vinci (1452-1519) sind hierzu ein Beispiel. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts sind keine autonomen Stilleben bekannt. Stillebenpartien waren in Historienbilder und Porträts integriert. Die <symbolische Bedeutung von Dingen und die Funktonalität ihrer illusionistischen Darstellung> verschmolzen dabei innerhalb der Bildaussage. Im 16. Jahrhundert entstanden Gemälde <christlicher Mahlzeiten> als Anspielung auf das Abendmahl und unterstrichen so die Frömmigkeit der dargestellten Personen. Bald hielten Überfluss und Laster Einzug ins Bild. In niederländischen Küchenstücken finden sich obszöne Anspielungen. Fleischliche Genüsse – im engsten Wortsinn – rückten ebenso in den Vordergrund. Der Fleischerladen wurde zu einem Motiv der Malerei. Doch auch die Naturillustration machte Fortschritte, zum Beispiel mit Albrecht Dürer (1471-1528). Auch Giuseppe Arcimboldos (1527-1593) <Gemüse- und Fruchtporträts> sind jedem Kunstinteressierten ein Begriff. Der Kaiser wurde in einem Capriccio oder Scherzo als Jahreszeit gefeiert.
Sybille Ebert-Schifferer zeichnet das Entstehen der ersten modernen Stilleben um 1600 nach, die sich gleichzeitig an verschiedenen Orten in Europa sich entwickelten: In den Niederlanden, in Deutschland, Spanien und Italien. Die frühesten Vanitas- und Mahlzeitdarstellungen stammten aus den Niederlanden. Bei der Früchtemalerei gingen italienische Künstler voran. Teller mit Pfirsichen von Ambrogio Figino (ca. 1550-1608) ist ein Beispiel. Die Blütezeit des Stillebens allerdings folgte im 17. und 18. Jahrhundert. Mahlzeit-, Vanitas- und Früchtestilleben wurden äusserst beliebt. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stieg das Trompe-l’oeil zur eigenen Gattung auf. Die Anzahl der hervorragenden Künstler explodierte. Georg Flegel, Daniel Soreau, Jan Brueghel der Ältere oder Abraham Mignon seien hier nur einige Namen. Sybille Ebert-Schifferer zeichnet von allen Künstlern Kurzporträts, zeigt ihren Beitrag zur Entwicklung der Stilleben-Malerei auf und verweist auf weiterführende Literatur. Der Personen- und Sachindex erlaubt es zudem, leicht die gewünschte Stelle im Buch zu finden. Bei der Vielzahl der aufgeführten Künstler ist es natürlich immer möglich, dass der eine oder andere Leser etwas zu wenig genau beschrieben findet. Wir hätten zum Beispiel gerne mehr über Rachel Ruysch erfahren (1664-1750), die von Willem van Aelst (1627-1682) beeinflusst war, der Amsterdam zu einem Hauptzentrum der Stillebenmalerei machte. Nicht nur weil sie <zusammen mit Jan van Huysum […] den entscheidenden Schritt zum technisch perfekten, dekorativen Blumenstilleben des 18. Jahrhunderts> machte oder weil einige ihrer Stilleben (nicht nur Blumen) vor einigen Jahren im Auktionshandel hohe Preise erzielten, sondern weil sie eine Frau ist. Bis zum 20. Jahrhundert sind hervorragende Künstlerinnen – nicht nur der Stillebenmalerei – die Ausnahme. Die Autorin verliert leider kann Wort darüber. Abgesehen von diesem Detail widmet sich Sybille Ebert-Schifferer ausführlich und zurecht auf über 150 Seiten der Blütezeit der Stillebenmalerei.
Dass die dem Band gewidmete Gattung nicht ohne Einfluss auf das 20. Jahrhundert ist, beweist ein Blick auf das Werk von Samuel van Hoogstraten (1627-1678). Sein Steckbrett-Stilleben (Abb. 119) verweist wie das Steckbrett mit Briefen, Federmesser und Schreibfeder (1658) von Wallerant Vaillant (1623-1677) auf Jasper Johns, Robert Rauschenberg oder Andy Warhol. Bekannt ist der Zusammenhang zwischen unserem Jahrhundert und den amerikanischen Stillebenmalern John Frederick Peto (1854-1907), William Michael Harnett (1848-1892) oder Ferdinand Danton Jr. (1877-1912). Dantons Time is Money(1894) zeigt eine Uhr und Dollarnoten, die an einer Holztür festgemacht sind.
Daneben beschäftigt sich Sybille Ebert-Schifferer mit dem Biedermeier, Courbet, den Impressionisten, Cézanne, den Fauves und den Expressionisten, Kubismus, Magischem Realismus oder der Pop-Art. Kurzum, der Band führt bis in die Gegenwart und zeigt auf, dass das Stilleben nicht nur hoch im Kurs steht, sondern sich auch beständig weiterentwickelt hat. Gleichzeitig aber besteht ein traditionalistischer Stil, der sich weiterhin weitgehend auf die Abbildung, die realistische Darstellung beschränkt. Sybille Ebert-Schifferers Band spricht sowohl den Geist wie auch die Sinne an. Trotz seinem hohen Preis ist ihr Band jedermann zu empfehlen.
Sybille Ebert Schifferer: Die Geschichte des Stillebens. Hirmer, 1998. Das Buch bestellen bei Amazon.de oder Amazon.fr.
P.S. Heute schreibt man Stilleben mit drei „l“: Stillleben [31.1.2019].