Das Museum der bildenden Künste Leipzig (MdbK) widmet Max Klinger (1857–1920) anlässlich seines 100. Todestages eine noch bis am 16. August 2020 dauernde, umfassende Ausstellung (Katalog), die das Schaffen und Werk des sächsischen Künstlers in einen europäischen Kontext stellt, denn der Leipziger wurde massgeblich durch seine Reisen und mehrjährigen Aufenthalte im Ausland geprägt. Insbesondere die Metropolen Paris, Wien und Rom spielten für seinen künstlerischen Werdegang eine bedeutende Rolle.
Max Klinger wurde am 18. Februar 1857 in Leipzig als zweites von fünf Kindern des wohlhabenden Seidenfabrikanten Heinrich Louis Klinger und dessen Ehefrau Eva Emilie Auguste Richter geboren. Seine Heimatstadt besitzt nicht nur die grösste Klinger-Sammlung der Welt mit mehreren Hauptwerken, allen grafischen Zyklen, zahlreichen Zeichnungen und Entwurfsgipsen, sondern sein Name ist dort weiterhin auch ausserhalb der Museumsmauern präsent: Klingerhain, Klinger-Schule und Klinger-Chor, die Gedenktafel an seinem Geburtshaus in der Petersstrasse, sein Sockel für das (erst 2013!) vollendete Wagner-Denkmal auf dem Promenadenring.
Max Klinger war zu seiner Zeit ein bedeutender Künstler. In den Jahren 1883-87, 1894-95 sowie 1900-02 wohnte und arbeitete er in Paris. In den 1880er Jahren hatte er ein eigenes Atelier im Viertel Montparnasse, wo er wichtige Gemälde seines Frühwerks schuf, die unter dem Einfluss des französischen Impressionismus entstanden. Hier entdeckte er zudem die Aktmalerei für sich und konzipierte die Ausgestaltung der Villa Albers, seinem ersten „Gesamtkunstwerk“ aus Malerei, Skulptur und Architektur.
Max Klinger in Paris: Begegnung mit Rodin
Im Jahr 1900 machte er in Paris die persönliche Bekanntschaft mit Auguste Rodin, dem berühmtesten französischen Bildhauer seiner Zeit. Hieraus entspann sich eine mehrjährige Korrespondenz, in deren Folge Max Klinger 1904 die erste Ausstellung mit Skulpturen und Zeichnungen Auguste Rodins in Leipzig betreute, an die sich 1908 eine noch größere Ausstellung vor allem mit Zeichnungen Rodins anschloss. Aus dieser Schau können dank grosszügiger Leihgaben des Musée Rodin in Paris Werke Rodins jetzt im MdbK Leipzig gezeigt werden. Rodins erotische und moderne Werke waren damals umstritten. 1906 führte ihre Ausstellung in Weimar zur Entlassung des dortigen Museumsdirektors Harry Graf Kessler! Der Kunstsammler, Mäzen, Diplomat und Pazifist hatte sich übrigens in Weimar auch für Manet, Monet, Renoir, Cézanne und andere künstlerische Neuerer eingesetzt, doch das ist eine andere Geschichte.
Zurück zu Klinger und Rodin: Nicht vergessen werden darf, dass der Deutsche den Franzosen nicht nur bewunderte, sondern diesem Ankäufe befreundeter deutscher Sammler vermittelte. In der Leipziger Ausstellung werden zentrale Themen gezeigt, die von beiden Künstlern in ihrer jeweiligen Handschrift behandelt wurden. Ausgehend von Rodins Skulpturen Der Kuss und Der Mensch und sein Genius beleuchten die Exponate die Themen Geschlechterkampf, Paar sowie kreative Schöpfung.
Max Klinger in Rom
Von 1888 bis 1893 weilte Max Klinger in Rom. Diese Jahre gehören zu seinen lehrreichsten und produktivsten. Die Radierung trat in seinem Werk zurück, die Malerei in den Vordergrund. Später kam die Bildhauerei hinzu. Symbolistische, mythologische und religiöse Themen dominierten. Mit dem 1891 in Rom begonnenen und 1897 in Leipzig fertiggestellten Gemälde Christus im Olymp veränderte Max Klinger seine Figurenauffassung und seine ästhetische Anschauung. Unter dem Eindruck der Werke der Antike, der Renaissance und des Barocks, die er in Rom sah, stand von nun an der nackte Mensch im Zentrum seines Schaffens. Ab 1892 widmete er sich vermehrt der Bildhauerei, mit der er sich bis dahin nur autodidaktisch beschäftigt hatte. Er begann die Arbeit an den Marmorstatuen Salome und Kassandra. Sie wurden bald darauf vom MdbK Leipzig angekauft und begründeten seinen Ruf als Bildhauer.
Max Klinger in Wien: Begegnung mit dem Werk Klimts und grösste Erfolge
In Wien feierte Max Klingers seine grössten Erfolge. Hier zeigte der Künstler 1898 anlässlich des 50-jährigen Thronjubiläums Kaiser Franz Joseph I. im Wiener Künstlerhaus seine Werke Die Kreuzigung Christi und Die Badende. Hier wurde seine Beethoven-Skulptur 1902 in der Sezessions-Aussstellung gezeigt und triumphal gefeiert, und hier begegnete Klinger unter anderem dem Werk Gustav Klimts. Von diesem Künstler sind ebenfalls repräsentative Gemälde und Zeichnungen im MdbK Leipzig zu sehen. Den Umschlag des Katalogs ziert übrigens Klingers Beethoven-Skulptur, die ein extra dafür ins Leben gerufenes Komitee noch 1902 erfolgreich von Wien nach Leipzig holen konnte. Neben der Beethoven-Skulptur und den Gemälden Die Kreuzigung Christi und Die Badende gehört zudem noch Christus im Olymp zu den Hauptwerken, die in der Dauerausstellung im MdbK ganzjährig zu bewundern sind.
Weitere Themen der Sonderausstellung in Leipzig sind die Rolle der Frau im Werk des Künstlers, der Einfluss Klingers auf Käthe Kollwitz sowie eine Rekonstruktion der geplanten Treppenhausausmalungen im Museum der bildenden Künste Leipzig am Augustusplatz.
Den Schreibenden haben in der MdbK-Ausstellung die grossartigen, silbernen Tafelaufsätze (im Katalog nicht abgedruckt!) zur Weihe des neuen Rathauses 1905, die wegen fehlender Glasschalen erst 1910 fertiggestellt wurden, die weiblichen Akte Klingers sowie die Gegenüberstellung Kollwitz-Klinger am meisten beeindruckt.
Max Klinger und Kätze Kollwitz
Käthe Kollwitz und Max Klinger waren sich einige Male begegnet. Die Künstlerin schreib 1930 dazu, Klinger sei der stärkste Eindruck ihrer Jugend gewesen. Der Einfluss des Leipzigers auf das frühe Radierwerk von Kätze Kollwitz wurde bereits in der zeitgenössischen Kunstkritik kontrovers diskutiert. Im MdbK und im Katalog wird die Beziehung erstmals vertieft betrachtet und umfassend dokumentiert. Der Schwerpunkt liegt auf den verbindenden literarischen Einflüssen sowie der Beschäftigung mit dem Medium Grafik, insbesondere der Radierung. Ihre innovative, konzeptionelle und technische Umsetzung steht im Vordergrund.
Im Mittelpunkt der Gegenüberstellung des grafischen Oeuvre der zwei Künstler finden sich Max Klingers drei Zyklen Ein Leben, Dramen und Eine Liebe sowie von Kätze Kollwitz Ein Weberaufstand, Bauernkrieg sowie Werke aus deren Umfkreis. Anhand von Zustandsdrucken, verworfenen Fassungen und dazugehörigen Druckplatten können Analogien in den Arbeitsprozessen der zwei Künstler veranschaulicht werden.
Die Frauenakte von Max Klinger
Im MdbK ist Max Klingers letzter, 1916 abgeschlossener Grafikzyklus zu sehen: Zelt. Im Zentrum des grausamen und fantastischen Märchens steht eine junge Frau, die von Tieren, Frauen und Männern jeglichen Alters begehrt und verfolgt wird. Neben den 46 Blättern des Zyklus Zelt sind Werke aus Klingers über 40-jährigen Oeuvre zu sehen, die die Themen Sexualität, Liebe und Eerotik sowie das Verhältnis der Geschlechter zueinander behandeln. Herausragend sind Werke wie Weiblicher Akt (Gertrude Bock) um 1912/14 (Kat. 190) und Weiblicher Akt stehend (1910; Kat. 193), der Vorlage zur Studie Nr. 14 des Albums Zwanzig Studien.
Die Qualität von Klingers späten Frauenakten hängt mit seiner neuen Liebe, Gertrud Bock (1893-1932), zusammen. Wann, wie und wo genau sich die beiden kennenlernten, ist nicht eindeutig festzustellen. Wahrscheinlich stand Getrud zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Ella in der Leipziger Akademie dem Künstler Modell. Im Katalog findet sich ein Aktfoto von Gertrud Bock aus dem Jahr 1909, das ein unbekannter Fotograf machte (Universitätsbibliothek Leipzig). Es erklärt, warum sich der reife Künstler in die junge Dame verliebte.
Bereits 1903 hatte Max Klinger einen Weinberg mit dazu gehörigem Weinbergshaus in Grossjena erworben, wo er zusammen mit seiner damaligen Lebensgefährtin, der Schriftstellerin Elsa Asenijeff, glückliche Tage verbrachte. Hier schuf er Radierungen, Zeichnungen, Aquarelle und Ölbilder. Er war ein Grossstadtflüchtling. In Leipzig besass er Villa und Atelier, stand jedoch unter Beobachtung. Wohl um ungestört seine damals skandalöse Liaison ohne Trauschein mit Elsa Asenijeff leben zu können, zog er nach Grossjena.
Im Herbst 1909 lernte Max Klinger die blutjunge Gertrud Bock kennen. Sie wurde wie erwähnt später sein Modell und – nach einem Schlaganfall mit rechtseitiger Lähmung – am 22. November 2019 seine Ehefrau; bereits zuvor hatten sie einige Jahre lang zusammen gelebt. Der Künstler verstarb am 4. Juli 2020 auf seinem Weinberg, auch bekannt als „Klingerberg“, wo er auf eigenen Wunsch und gegen den Friedhofszwang seine letzte Ruhestätte fand.
Der lesenswerte, reich bebildete Katalog enthält Beiträge von rund 10 Spezialisten zu den verschiedenen Lebensabschnitten, Klinger prägenden Städten und Künstlern sowie zu spezifischen Themen wie seinem letzten Grafikzyklus Zelt oder seinen Athlethenfiguren im Zusammenhang mit der frühen Bodybuilding-Bewegung.
Der Katalog herausgegeben von Alfred Weidinger für die Stadt Leipzig: Klinger. Mit Beiträgen von F.Berger, C. S. Dietrich, M. A. Hurttig, J. Nicolaisen, S. Petri, M. Pommer, J. Stoschek, S.Weeratunga. Hirmer Verlag, 23,5 x 30 cm, gebunden, 312 Seiten mit 299 Abbildungen in Farbe. Den Katalog / Das Buch bestellen bei Amazon.de.
Die Ausstellung im MdbK Leipzig dauert noch bis am 16. August 2020. Sie präsentiert über 350 Werke von Max Klinger und anderen Künstlerin wie Auguste Rodin, Gustav Klimt, Käthe Kollwitz oder Edgar Degas. Danach wird die Schau vom 16. Oktober 2020 bis am 31. Januar 2021 unter dem Titel Max Klinger und Europa in der Bundeskunsthalle Bonn gezeigt werden.
Im Max-Klinger-Haus Grossjena ist zudem noch bis am 1. November 2020 eine kleine, sehenswerte Ausstellung anlässlich des 100. Todestages des Künstlers zu sehen. Das Grab im Weinberg, Blütengrund 3, 06618 Naumburg-Großjena.
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Rezension vom 4. August 2020. Hinzugefügt um 23:47 deutscher Zeit.