Die 1969 in Jena (DDR) geborene vormalige Stellvertretende Parteivorsitzende und ehemalige Fraktionsvorsitzende der SED-Nachfolgepartei Die Linke, Sahra Wagenknecht, hat eine Abrechnung mit den Selbstgerechten auf der politischen Linken verfasst: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt.
In ihrem Vorwort meint Sahra Wagenknecht, es sei nicht unwahrscheinlich, dass die Bilder aus den Vereinigten Staaten uns wie durch ein Brennglas in unsere eigene Zukunft schauen liessen, wenn wir nicht den Mut aufbrächten, möglichst bald einen neuen Weg einzuschlagen. Denn auch Deutschland sei tief gespalten. Auch hier zerfalle wie in den USA der gesellschaftliche Zusammenhalt. Sie beklagt, die Worte Gemeinwohl und Gemeinsinn seien aus der Alltagssprache nahezu verschwunden.
Für Sahra Wagenknecht haben Emotionen Argumente abgelöst. Das sei nicht erst seit Corona so, sondern bereits frühere Kontroversen seien so ausgetragen worden. Das erste Mal sei dies bei der Debatte über Zuwanderung und Flüchtlingspolitik so gewesen. Es wurde moralisiert statt argumentiert. Widerspruch war nicht erwünscht. Nicht viel sachlicher sei die Klimadebatte 2019 verlaufen. Für Sahra Wagenknecht scheint es, dass unsere Gesellschaft verlernt hat, ohne Aggression und mit einem Mindestmaß an Anstand und Respekt über ihre Probleme zu diskutieren. An die Stelle demokratischen Meinungsstreits seien emotionalisierte Empörungsrituale, moralische Diffamierungen und offener Hass getreten.
Für Sahra Wagenknecht wird das Meinungsklima nicht nur von rechts, so von Trump und der AfD, vergiftet. Die erstarkte Rechte sei nicht die Ursache, sondern selbst das Produkt einer zutiefst zerrissenen Gesellschaft. Viele sozialdemokratische und linke Parteien hätten soziale Absicherungen zerstört, die Märkte entfesselt und so die gesellschaftliche Ungleichheit und die Lebensunsicherheit extrem vergrössert. Sie hätten den Aufstieg der Rechten zudem politisch und kulturell unterstützt, indem sie sich auf die Seite der Gewinner geschlagen hätten und viele ihrer Wortführer seither die Werte und die Lebensweise ihrer einstigen Wählerschaft, ihre Probleme, ihre Klagen und ihre Wut verächtlich machten.
Sahra Wagenknechts führt zum Linksliberalismus aus, dieser sei weder links noch liberal, sondern widerspreche in Kernfragen beiden politischen Richtungen. Es fehle den Linksliberalen an der Toleranz, die den Liberalismus auszeichne. Sie zeigten vielmehr äusserste Intoleranz gegenüber anderen Meinungen. Der Liberalismus trete zudem für rechtliche Gleichheit ein, die Linksliberalen hingegen für Quoten und Diversity, also für die Ungleichbehandlung unterschiedlicher Gruppen.
Laut Sahra Wagenknecht gehört es zum linken Selbstverständnis, sich vor allem für die einzusetzen, die es schwer haben und denen die Gesellschaft höhere Bildung, Wohlstand und Aufstiegsmöglichkeiten verwehre. Der Linksliberalismus dagegen habe seine soziale Basis in der gut situierten akademischen Mittelschicht der Grossstädte.
Sie schreibt zudem, dass der Linksliberalismus am Niedergang der Debattenkultur einen grossen Anteil habe. Weiter hinten im Buch bezeichnet sie insbesondere die Grünen als Lifestyle-Linke. Im Mittelpunkt ihrer linken Politik stünden nicht mehr soziale und politökonomische Probleme, sondern Fragen des Lebensstils, der Konsumgewohnheiten und moralische Haltungsnoten. Sie schreibt andernorts zudem, die Grünen hätten in Deutschland die FDP als Partei der Besserverdiener abgelöst. Zur Linkspartei meint Sahra Wagenknecht, diese sei heute ebenfalls überwiegend eine Akademikerpartei, die von ähnlichen Bevölkerungsgruppen wie SPD und Grüne gewählt würden.
Sahra Wagenknecht beklagt die Debattenkultur, bei der Andersdenkende als Rechte, Klimaleugner, Aluhut eingestuft würden. So einfach sei die linkslliberale Welt. Deswegen stehe links heute in
den Augen vieler nicht mehr für Gerechtigkeit, sondern für Selbstgerechtigkeit: für einen Stil der Auseinandersetzung, von dem sie sich verletzt, moralisch herabgesetzt und abgestossen fühlten.
Kein Wunder, dass mit Die Selbstgerechten Sahra Wagenknecht (wieder einmal) vielen politisch Linken als Nestbeschmutzerin gilt. Einige wollten sie gar (wieder einmal) aus ihrer Partei rausschmeisen.
Die promovierte Volkswirtin Sahra Wagenknecht muss sich allerdings auch Fragen gefallen lassen. Das Stichwort „Miete“ kommt in ihrem Text oft vor, nicht jedoch der „Mietendeckel“. Sie sass bzw. sitzt für Nachfolgeorganisationen der kommunistischen SED im Parlament: PDS und Die Linke. Der SED ging es um das Primat der Partei. Nur in einer Diktatur konnten sich die Vertreter des „real exisistierenden Sozialismus nach sowjetischem Vorbild“ an der Macht halten. Wohlgemerkt in einem System, das wirtschaftlich nicht funktionierte. Und dass die DDR-Diktatur für Gemeinsinn und Zusammenhalt steht, kann niemand behaupten.
Zudem ist Sahra Wagenknecht mit dem streitbaren Oskar Lafontaine (*1943) verheiratet. Der ehemalige Kanzlerkandidat der SPD kehrte den Sozialdemokraten im Streit mit Kanzler Schröder den Rücken. Er ging zur WASG, die durch sein Zutun ein Wahlbündnis mit der PDS einging und zur Linkspartei wurde, in der Lafontaine dann jahrelang Fraktions- und Parteivorsitzender war. Ausgerechnet die PDS bzw. Die Linke sollten bzw. sollen Deutschland wirtschaftlich, gesellschaftlich, etc. voranbringen? Debattenkultur bei den SED-Nachfolgern? Bei Lafontaine und Wagenknecht findet man Widersprüche über Widersprüche.
Obwohl beide Politiker in den Augen vieler selbst einen Haushalt von selbstgerechten Intellektuellen bilden, ist das Buch Die Selbstgerechten lesenswert, denn Sahra Wagenknecht geht auch dahin, wo es weh tut. Die Autorin behandelt Themen wie Spaltung der Gesellschaft, Zuwanderung, Nationalstaat, Identitätspolitik, Linksliberalismus, Umweltpolitik, Digitialisierung, Datenschnüfflerei und vieles mehr im Detail und offeriert ihre Vorschläge für eine bessere Zukunft. Auch wer ihr oft widersprechen möchte, findet dennoch Anregungen für Debatten, die geführt werden müssen.
Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Campus Verlag, April 2021, 345 Seiten. Das gebundene Buch bestellen; digitale Ausgabe als Kindle-eBook runterladen; Audio-CD Hörbuch runterladen.
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Buchkritik / Rezension von Die Selbst-Gerechten vom 1. August 2021 um 10:52 deutscher Zeit.