Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war klar in ihrer Aussage, die sie eingespielt per Video in der Talkshow Anne Will am 20. Februar 2022 gab: Sollte Russland die territoriale Integrität der Ukraine erneut verletzen, werden die EU, die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königkreich und Kanada Russland von den internationalen Finanzmärkten und vom Import von Gütern abschneiden, die Russland braucht.
Von der Leyen gab keine Details bekannt, doch neben der Nicht-Inbetriebnahme von Nordstream2 wäre ein Ausschluss aus dem internationalen Banken-Zahlungsverkehr SWIFT denkbar, was natürlich auch dem Westen schaden würde. Die EU-Kommissionspräsidentin hatte ausdrücklich betont, dass zum Massnahmenkatalog des Westens auch für die eigene Wirtschaft schmerzhafte Massnahmen eingeplant seien. Russlands Staatshaushalt hängt zur rund 50% von Gas-, Öl- und Kohleexporten ab. Das Land ist leicht verwundbar.
Trotz aller Drohgebärden scheint es nach wie vor unwahrscheinlich, dass Russlands Präsident Putin versuchen wird, die gesamte Ukraine besetzen zu lassen, denn dort leben rund 40 Millionen Menschen. Dafür sind 130,000 bis 160,000 Mann nicht genug. Zudem sind die meisten Ukrainer Russland feindlich gesinnt. Partisanen würden den Besatzern das Leben schwer machen. Zudem leben Millionen Ukrainer in Russland. Ein Krieg der Nachbarn würde Tausende das Leben kosten, und zwar Tausende Ukrainer und Russen. Zu Beginn wäre die nationalistische Begeisterung in Russland vielleicht gross, doch rasch würde das Pendel umschwenken. Putin würde eine Invasion politisch nicht überleben. Nicht zu sprechen von den wirtschaftlichen und finanziellen Folgen durch härtere Sanktionen des Westens, die dem angeschlagenen Russland mit bereits heute hoher Inflation (8,7%) und einem schwächelnden Ruble arg zusetzen würden.
Putin könnte versucht sein, die bereits indirekt von ihm kontrollierten Gebiete in Donezk und Luhansk zu annektieren. Doch bereits eine solche Aktion würde die von Ursula von der Leyen angedrohten Sanktionen nach sich ziehen. Der (kurzfristige) Gewinn, den Putin aus einer solchen Intervention ziehen könnte, stünde in keinem Verhältnis zu den Kosten, die sich daraus für Russland ergäben. Das nennt man Abschreckung oder Dissuasion. Ist Putin bereits so verblendet, von Ja-Sagern umgeben, dass er sich auf ein solches Abenteuer einlässt? Die Ukraine ist nicht Syrien. Die gemeinsame Grenze und Geschichte, die Verflechtung der Völker sprechen gegen ein solches „Abenteuer“.
EU, USA bzw. NATO könnten zusätzlich zur langfristigen Abschreckung abwechselnd Kriegsschiffe im Hafen von Odessa stationieren, Soldaten sowie Diplomaten zur Beobachtung in ukrainische Grenzstädte senden. Putin würde es sich zweimal überlegen, tote Menschen aus EU-, USA- bzw. NATO-Staaten zu riskieren. Doch die von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und US-Präsident Joe Biden angekündigten Retorsionsmassnahmen alleine sollten bereits reichen, sofern sich Putin „rational“ verhält.
Zur Haltung von Deutschland ist zu sagen, dass die Verweigerung von Waffen für die Ukraine insofern nicht glaubwürdig ist, als dass der ägyptische Diktator al-Sisi (bzw. el-Sisi), die Türkei von proto-Diktator Erdogan und das nicht „lupenreine“ Saudi-Arabien deutsche Waffen erhielten, auch wenn laut Aussenministerin Baerbock zumindest bezüglich Ägypten zukünftige Rüstungsexporte von der Menschenrechtslage abhängig gemacht werden sollen.
Die Ukraine ist ein militärischer Zwerg, der Russland nicht bedroht. Dennoch führt Putin seit 2014 einen zum Teil offenen, zum Teil verdeckten Krieg gegen die Ukraine, dem bereits um die 14,000 Menschen zum Opfer fielen. Im Vorfeld der Annexion der Krim hatten ukrainische Nationalisten sich gegen Russisch als zweite Amtssprache ausgesprochen und vor allem angedeutet, dass der 1997 geschlossene russisch-ukrainische Freundschaftsvertrag nicht verlängert werden könnte. Mit dem alle 10 Jahre automatisch erneuerten Vertrag verbunden war die Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol auf der Krim. Dieser von Russland gepachtete Hafen ist für Präsident Putin von strategischer Bedeutung, da von hier aus der Zugang zum Mittelmeer gesichert ist. Damit war für den Kreml wohl eine rote Grenze überschritten, insbesondere, weil 2010 unter dem pro-russischen Präsidenten Janukowytsch das Parlament noch beschlossen hatte, dass die russische Schwarzmeerflotte auf der Halbinsel Krim bis 2042 stationiert bleiben darf. Der Pachtvertrag wäre 2017 ausgelaufen. Im Gegenzug zahlte die Ukraine jährlich 30% oder rund drei Milliarden Euro weniger für russische Gaslieferungen.
Aus Putins Sicht war die Maidan-Revolution von 2013-14, die den total korrupten Präsidenten Janukowytsch hinwegfegte, eine vom Ausland, vom Westen inszenierte Revolution. Er wollte nicht sehen, dass viele Ukrainer auf die Strasse gingen, weil der pro-russische Janukowytsch und seine Regierung den Weg in die Europäische Union nicht weitergehen und das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterschreiben wollte. Nebenbei bemerkt: Janukowitsch war ein Kleptokrat, der sich selbst für ukrainische Verhältnisse extrem schamlos bereicherte.
Ich war 2014 in Lemberg/Lviv, als fast keine Touristen aus dem Westen dort waren. Nur Polen und Türken fanden sich in grösserer Zahl. Soviel zur Solidarität und zur Einschätzung der Lage durch den „einfachen Bürger“ im Westen. Eine Rezeptionistin zeigte mir damals ein Foto von sich und ihrem Freund auf dem Euromaidan in Kiew, danach ein zweites Foto, auf dem sie auf dem Maidan vor einem Poster zu sehen war. Ich verstand erst, als sie mir sagte, das Poster zeige ihren Freund, der ein Held des Euromaidan wurde. Er stand zur falschen Zeit am falschen Ort und wurde von einem Scharfschützen erschossen, wobei bis heute ungeklärt ist, wer die Scharfschützen waren, auf welcher Seite sie standen.
Putin sieht die Ukraine, Moldawien, Belarus, Georgien, ja selbst das Baltikum und andere Länder als seine Einflusszone. Er sieht nicht ein, dass unabhängige Staaten eigenständige Entscheidungen treffen. Ein EU- oder NATO-Beitrittsgesuch dieser Staaten empfindet Putin als Verletzung seiner Interessensphäre, seiner Sicherheitsinteressen, ja gar als Majestätsbeleidigung. Dass z.B. die Ukraine ihre Sicherheitsinteressen durch Russland seit 2014 auf das gröbste verletzt sieht, kommt ihm nicht in den Sinn.
Gerne verweisen Russland und Russlandversteher darauf, dass bei den Verhandlungen um die deutsche Einheit Kanzler Kohl und Präsident Gorbatschow im Sommer 1990 noch ausdrücklich vereinbart hatten, dass bei einer Wiedervereinigung Deutschland als souveränes Land Mitglied der NATO bleiben könne, allerdings ohne NATO-Truppen auf dem Gebiet der DDR zu stationieren. Ein Video zeigt Aussenminister Genscher einige Monate zuvor, am 2. Februar 1990, in Washington D.C. neben seinem amerikanischen Amtskollegen James Baker stehend: «Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten. Das gilt übrigens nicht nur im Bezug auf die DDR, die wir das nicht einverleiben wollen, sondern das gilt ganz generell.»
Doch damals gab es die Sowjetunion und den Warschauer Pakt noch. Erst 1991 wurden zuerst der Warschauer Pakt, danach die Sowjetunion aufgelöst. Damit entstand eine völlig neue Situation. Die Osteuropäer suchten – völlig zurecht – den Schutz von EU und NATO. Sie waren nun wirlich souveräne Staaten und orientierten sich neu.
Im Budapester Memorandum von 1994 wiederum verpflichteten sich Russland, die USA und Grossbritannien gegenüber der Ukraine, Kasachstan und Belarus, im Gegenzug für deren Verzicht auf Nuklearwaffen, die Souveränität und die bestehenden Grenzen dieser drei Länder zu achten. Allerding sind viele Beobachter und Spezialisten der Meinung, das Budapester Memorandum habe keinen rechtlich bindenden Charakter. Wie auch immer: Russland hat nicht nur die territoriale Integrität der Ukraine nicht geschützt, sondern diese einseitig und dauerhaft verletzt. Die USA und das UK müssen sich die Frage gefallen lassen, ob sie nicht genug getan haben, um der Ukraine zu helfen.
Appeasement gegenüber Putin ist die falsche Politik. Der Kreml testet seit Jahren aus, wie weit er gehen kann. Und er stösst, wenn er kann, gerne in ein Vakuum vor, so in Syrien, als US-Präsident Obama nicht bereit war, die Respektierung der von ihm gezogenen roten Linien durchzusetzen.
Zur Zeit steht eine Integration der Ukraine in die NATO und die EU nicht auf der Tagesordnung. So dürfte es noch längere Zeit bleiben. Doch für alle Zukunft ausschliessen will das niemand im Westen. Die Ukraine ist souverän und entscheidet ohne Rücksprache mit Putin über ihre Zukunft.
Mit seiner unberechenbaren Gewaltpolitik in Transnistrien, das sich bereits 1990 von der Republik Moldau abgespaltet hat, in Georgien, Syrien und seit 2014 in der Ukraine hat Präsident Putin die Osteuropäer geradezu in die Hände von EU und NATO gestrieben. Selbst mit der Mehrheit der russischsprachigen Ukrainern hat er es verscherzt. Die Ukraine ist weitgehend geeint in der Ablehnung von Putins Aggressionspolitik. Die EU ist bis auf Ungarns Orban, der für einen Gas-Deal nach Moskau pilgerte, geeint wie selten. Allen Mitgliedern ist die Bedeutung der NATO wieder klarer geworden. Selbst Finnland und Schweden bemühen sich um eine grössere Nähe zur westlichen Verteidigungsallianz. Die transatlantischen Beziehungen zwischen USA und EU haben sich wieder verbessert.
Putin kann allerdings einige Erfolge vorweisen: Er konnte und kann mit den USA auf Augenhöhe verhandeln. Die direkt betroffene Ukraine sitzt nicht einmal am Tisch. Ebensowenig die EU. Die Ukraine dürfte auf längere Sicht weder der EU noch der NATO beitreten. Eine weitere Eskalation der Krise zum Beispiel durch einen Donbass-Einmarsch würde diese „Gewinne“ wieder zunichte machen. Doch sind Putin seine „Erfolge“ in Syrien, auf der Krim und in der Ostukraine zu Kopf gestiegen? Wir werden es bald wissen.
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Putin im Jahr 2018. Президент России Владимир Путин во время интервью журналисту американского телеканала NBC Мегин Келли. Photo copyright: www.kremlin.ru (found via Wikipedia/Wikimedia Commons).
Artikel vom 21. Februar 2022 um 17:07 deutscher Zeit.