Vom 16. April bis am 24. Juli 2022 zeigt das Leopold Museum in Wien im ersten Untergeschoss die Ausstellung Alfred Kubin. Bekenntnisse einer gequälten Seele (gleichnamiger Katalog: Amazon.de). Der österreichische Zeichner fantastischer Visionen und geheimnisvoller Illustrationen war zudem Autor des Romans Die andere Seite (Amazon.de). Er beschrieb sich selbst als „Organisator des Ungewissen, Zwitterhaften, Dämmerigen, Traumhaften“. Seine Arbeiten zeugen von Gewalt, kriegerischer Zerstörung, Seuchen, Naturkatastrophen und der Manipulation der Massen, weshalb er uns gerade heute wieder anspricht. Neben der Alltagsrealität beschreibt er Rätsel jenseits der sichtbaren Welt.
Kubins Werke werden im Leopold Museum mit Arbeiten von Künstlern des 19. Jahrhunderts und der klassischen Moderne, die ihm als Inspirationsquellen seines Schaffens dienten, in einen Dialog gesetzt. Insgesamt sind in der Ausstellung 248 Werke von Alfred Kubin, Max Klinger, Francisco de Goya, James Ensor, Odilon Redon, Félicien Rops und anderen Künstlern ausgestellt, darunter 16 Gemälde, 175 Arbeiten auf Papier, 7 Plastiken und Skulpturen sowie 50 Archivalien. Von den Arbeiten auf Papier und Gemälden stammen rund 120 von Kubin und 76 von anderen Kunstschaffenden. Von allen 248 Exponaten der Ausstellung stammen 162 von Alfred Kubin, 65 davon kommen aus der Sammlung des Museum Leopold in Wien.
Biografie von Alfred Kubin
Der Biografie von Lena Scholz im Katalog ist zu entnehmen, dass Alfred Kubin (1877-1959) als erstes Kind eines Obergeometers und einer Pianistin in Leitmeritz (Litoměřice) in Nordböhmen zur Welt kommt und in Salzburg bei der Mutter aufwächst, während dem der Vater zuerst als Landvermesser in Dalmatien arbeitet. Seine Kindheit und Jugend sind von traumatischen Erlebnissen, vom Scheitern und von Depressionen gezeichnet.
Nach der Geburt zweier Töchter stirbt seine Mutter bereits 1887 mit 40 Jahren an Schwindsucht. Der Vater heiratet die Schwester seiner verstorbenen Frau, die leider ein Jahr später im Kindbett nach der Geburt von Kubins Halbschwester stirbt. Alfred Kubin wird nach nur zweijährigem Besuch des Gymnasiums in Salzburg ohne Abschluss entlassen. 1891 kehrt er an die Gemeindeschule in Zell am See. Sein Vater heiratet erneut.
Mit 14 Jahren absolviert der Sohn eine kunstgewerbliche Ausbildung an der Staatsgewerbeschule in Salzburg, wo er erneut nur schlechte Zeugnisse erhält. 1892 beginnt er in Klagenfurt bei seinem Onkel Alois Beer eine Fotografenlehre, die nicht ohne Konflikte verläuft und 1896 in einem in Kubins autobiografischen Schriften dokumentierten Selbstmordversuch am Grab seiner Mutter gipfelt.
Der Vater schickt den Sohn zurück nach Klagenfurt, doch der Onkel entlässt ihn fristlos. Trotz seiner schwachen körperlichen Konstitution wird Alfred Kubin 1897 als Freiwilliger in die Armee aufgenommen. Bereits drei Wochen nach seinem Dienstantritt in Laibach erleidet er während der Beerdigung eines Divisonskommandanten eine schwere Nervenkrise und wird daraufhin mehrere Monate lang im Grazer Garnisonsspital behandelt.
Nach seiner Entlassung kehrt er zu seinem Vater nach Zell am See zurück, wo er ein Jahr lang bleibt. In dieser Zeit schafft er zahlreiche Zeichnungen und Kopien von Bildern aus Illustrierten. Auf Anraten eines Freundes der Familie wird Alfred Kubin zum Kunststudium nach München geschickt; dies wird durch eine kleine Erbschaft seiner Grosseltern ermöglicht.
Lena Scholz erläutert, dass Alfred Kubin zuerst die private Zeichenschule von Ludwig Schmidt-Reutte und ab Mai 1898 die Zeichenklasse von Nikolaus Gysis an der Akademie der bildenden Künste besucht. Er besucht den Unterricht jedoch nur unregelmässig und bricht das Studium nach kurzer Zeit ab. Die Besuche der Alten Pinakothek in München begeistern ihn, doch lösen sie Zweifel an seiner eigenen künstlerischen Begabung aus. Der Schriften von Nietzsche und Schopenhauer verstärken sein pessimistisches Weltbild.
1899 entdeckt Alfred Kubin im Münchner Kupferstichkabinett Radierungen von Max Klinger. Besonders beeindruckt ist er vom Zyklus Paraphrase über den Fund eines Handschuhs. Er erlebt einen krisenhaften „Sturz von Visionen schwarz-weisser Bilder“, den er in seinen Notizbüchern grafisch festhält. In Kombination mit dem Ausbruch hallzinatorischer Erscheinungen bei einem Variété-Besuch führt dies zu einem mehrjährigen künstlerischen Schaffensrausch, bei dem hunderte Blätter schwarz-weiss gespritzter und lavierter Tuschfederzeichnungen entstehen, die sein alptraumhaft-fantastisches Frühwerk bilden. In dieser Zeit rezipiert er neben den Werken von Max Klinger vor allem auch jene von Francisco José de Goya y Lucientes, Félicien Rops, Edvard Munch, James Ensor und Odilon Redon.
Um 1900 taucht Alfred Kubin mehr und mehr in die Münchner Künstler- und Literatenszene ein. Er verkehrt in den Cafés Stefanie und Elite. Er lernt insbesondere den aus Würzburg stammenden Dichter Max Dauthendey sowie Otto Julius Bierbaum und dessen neu gegründete Jugenstil-Zeitschrift Die Insel kennen. Im Herbst 1901 trifft er den Kunstmäzen und seinen späteren Verleger Hans von Weber. Dieser wird eine Mappe mit Faksimile-Drucken nach Zeichnungen von Alfred Kubin herausgeben und damit entscheidend zu dessen Etablierung als Künstler beitragen.
Im Dezember 1901 stellt Alfred Kubin auf Vermittlung des Insel-Kreises erstmals in der Berliner Galerie Paul Cassirer aus, die der Kunsthändler 1898 zusammen mit seinem Cousin Bruno eröffnet hat. Auf Vorschlag des Präsidenten Max Liebermann waren die Cassirers die geschäftsführenden Sekretäre der Berliner Sezession geworden, was ihnen auf dem Kunstmarkt zu einer herausragenden Position verhalf. Kubins Ausstellung in der Galerie Paul Cassirer sorgt in der Presse für einiges Aufsehen, wobei die Stimmen von Entrüstung bis zu Bewunderung reichten.
Am 3. Januar 1903 bezeichnet der Schriftsteller Richard Schaukal in der Wiener Abendpost Alfred Kubin als den „österreichischen Goya“ und als „Zeichner von schrankenloser Fantasie und individuellster Gestaltung“. In der Früjahrsausstellung der Wiener Secession ist er mit 12 Arbeiten vertreten. Seine Familie war nach Schärding übersiedelt. Dort lernt er im März 1903 seine spätere Verlobte Emmy Bayer kennen. In München wiederum trifft er Oscar A. H. Schmitz, dessen Novelle Haschisch für Aufregung gesorgt hat. Durch Schmitz erhält Kubin Zugang zum Schwabinger Kreis (oder George Kreis) rund um Stefan George, Karl Wolfskehl und Ludwig Klages, dem später zudem die Gräfin Franziska (Fanny) von Reventlow angehören wird.
Im September 1903 reist Alfred Kubin zusammen mit dem Schriftsteller und Philosophen Fritz von Herzmanovsky-Orlando reist Kubin im September 1903 nach Dalmatien. Sie bleiben einander jahrzehntelang verbunden, was durch einen beinahe 50 Jahre anhaltenden Briefwechsel dokumentiert ist. Im Dezember 1903 erleidet Kubin einen weiteren Schicksalsschlag, als seine an Typhus erkrankte Verlobte Emmy Bayer in einer Münchner Klinik verstirbt.
Im Januar 1904 is Alfred Kubin mit über 30 Blättern in der neunten Ausstellung der von Wassily Kandinsky geleiteten Phalanx-Vereinigung vertreten. Im Februar lernt er Hedwig Gründler kennen, die verwitwete Schwester von Oscar A. H. Schmitz kennen, die er im September jenen Jahres heiratet. Sie bringt einen kleinen Sohn in die Ehe und leidet an einer schweren Gesichtsneurose, die in den kommenden Jahren zahlreiche Kuraufenthaltete und für Alfred Kubin längere Phasen der Trennung und Einsamkeit mit sich bringen. Die Krankheit hat zudem eine jahrzehntelange Morphium-Abhängigkeit seiner Frau zur Folge.
Alfred Kubin gerät in eine Schaffenskrise. Im Frühjahr 1905 reist er nach Wien, wo er Künstler der Wiener Secession trifft und insbesondere von Koloman Moser neue künstlerische Impulse erhält, so Lena Scholz. Von Koloman Moser lernt er die Kleisterfarbenmalerei, bei der Kleister mit Aquarellfarbe übernommen wird. Damit verbindet sich ein motivischer und stilistischer Wandel, der von Kubins Publikum zunächst jedoch nur verhalten aufgenommen wird.
Im Mai 1906 erwirbt das Ehepaar Kubin das Schloss Zwickledt, ein abgeschiedenes Landgut im oberösterreichischen Wernstein am Inn. Laut Lena Scholz halten Kubins Selbstzweifel an. Ab 1907 widmet er sich vermehrt der Gestaltung von Buchillustrationen, die für ihn zu einer wichtigen Einnahmequelle werden. Zu seinen ersten Projekten gehören Illustrationen zum Roman Der Golem von Gustav Meyrink (Amazon.de) – das Buch erscheint ein Jahr später jedoch ohne Kubins Arbeiten – sowie die Bebilderung eines Novellenbandes von Edgar Allan Poe.
In nur acht Wochen, während dem er vier weitere illustriert, schreibt Alfred Kubin den fantastischen Roman Die andere Seite (Amazon.de), der 1909 im Verlag Georg Müller veröffentlicht und eifrig rezipiert wird. In jenem Herbst fordert ihn der Maler Alexej von Jawlensky auf, der Neuen Künstlervereinigung München beizutreten. Auf deren erster Ausstellung in der Galerie Thannhauser – bekannt für die Vermarktung von Van Gogh – ist Kubin mit einer Reihe von Zeichnungen vertreten.
1910/11 erhält Kubin als Folge der Veröffentlichung seines bebilderten Romans vermehrt Aufträge für Buchillustrationen, laut Lena Scholz unter anderem für Werke von Edgar Allan Poe, Otto Julius Bierbaum, Gérard de Nerval, Fjodor Dostojewski, E. T. A. Hoffmann, Oscar A. H. Schmitz und Wilhelm Hauff. Zudem erscheint Alfred Kubins zweite Mappe, die Sansara-Mappe, mit Reproduktionen von 40 Originalzeichnungen der letzten Jahre, die seinen Stilwandel gegenüber dem Frühwerk deutlichmachen. Beilage ist Kubins erste umfangreiche Selbstbiografie, die er in den folgenden Jahrzehnten fortsetzen wird.
1911 trifft er Paul Klee, mit dem in fortan ein intensiven künstlerischer Austausch verbindet. Auf Anraten von Wassily Kandinsky und Gabriele Münter tritt Kubin 1911 aus der Neuen Künstlervereinigung München aus und der neugegründeten Gruppe des Blauen Reiters als externes Mitglied bei. Im Münchner Simplicissimus und im Almanach des Blauen Reiters erscheinen erstmals Reproduktionen seiner Federzeichnungen.
Auf der zweiten Ausstellung des Blauen Reiters in der Münchner Galerie Hans Goltz 1913 ist Alfred Kubin mit elf Werken, unter anderem den Originalzeichnungen der Sansara-Mappe, vertreten. Zudem rezipiert er Klees Illustrationen zu einer Ausgabe von Voltaires Candide. Klee regt ihn zur Beteiligung an einer Mappe der 1911 gebildeten Münchner Künstlervereinigung Sema an, der Kubin 1912 seine erste Lithografie beisteuert.
1913 hat Alfred Kubin hat in München in der Galerie Thannhauser seine erste Einzelausstellung mit 50
Arbeiten. Franz Marc schlägt ihm die Beteiligung an einer Bibelausgabe gemeinsam mit ihm, Kandinsky, Klee, Erich Heckel und Oskar Kokoschka vor. Der Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 verhindert die Fertigstellung dieses Projekts. Kubins Illustrationen zum Propheten Daniel werden jedoch 1918 in einem eigenen Buch herausgegeben.
Im September 1913 beteiligt sich Alfred Kubin am Ersten Deutschen Herbstsalon, der in der Berliner Galerie Der Sturm von Herwarth Walden staffindet. Laut Lena Scholz ist dies die wichtigste Galerie-Ausstellung der internationalen Avantgarde in Europa vor dem Ersten Weltkrieg.
Nachdem Alfred Kubins Beteiligung zuvor abgelehnt worden war, ist er 1914 in einer Ausstellung der Neuen Münchner Secession neben Alexej von Jawlensky, Paul Klee und August Macke vertreten und wird zudem ihr ausserordentliches Mitglied. Ab sofort stellt er dort regelmäßig in den Graphischen Ausstellungen aus. Doch mit Kriegsbeginn werden die Mitglieder des Blauen Reiters zerstreut. Macke und Marc fallen in den ersten Kriegsjahren an der Front. Kubin wird bei mehrmaligen Musterungen zurückgestellt.
Durch den Krieg und insbesondere den Kriegstod von Franz Marc entladen sich bei Alfred Kubin im März 1916 lange angestaute Spannungen und Depressionen. Der Künstler bezeichnet sie als „buddhistische Krise“, die einen Wendepunkt in seinem Leben darstellt. Er tritt in Kontakt mit dem Philosophen Salomo Friedländer (Mynona), dessen Schriften eine Leitlinie für ihn bilden. Es folgt ein 30-jähriger Briefwechsel. Zudem wird sein Schwager Oscar A. H. Schmitz für Alfred Kubin in den Kriegsjahren zu einer seiner wichtigsten Bezugspersonen.
1917 nimmt Kubin an der Jahresausstellung der Münchner Secession und der zwölfteiligen Sonderausstellung der Kestner-Gesellschaft in Hannover teil. Er beteiligt sich 1919 mit sechs Blättern an der umfangreichen Ausstellung Moderne deutsche Grafiken der Galerie Thannhauser. 1921 findet in der Münchner Galerie Goltz eine erste, umfassende und hochgelobte Retrospektive mit über 100 Blättern von Alfred Kubin statt. Der Künstler begegnet dem jungen Hamburger Apotheker Kurt Otte, dem späteren Gründer des Kubin-Archivs. In dieser Zeit wird zudem Hedwig Kubin von der Morphiumsucht geheilt, woraufhin Kubin dem verantwortlichen Arzt Dr. Laudenheimer die Mappe Strindberg, Nach Damaskus widmet.
In der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg sieht Alfred Kubin 1922 die Sammlung Prinzhorn. Dies veranlasst ihm, den Essay Die Kunst der Irren zu verfassen, der im Kunstblatt von Paul Westheim veröffentlicht wird. Unter dem Titel Traumland I und Traumland II erscheint im Berliner Fritz Gurlitt Verlag ein weiteres wichtiges Mappenwerk.
Alfred Kubin lernt das Malerehepaar Reinhold und Hanne Koeppel kennen und besucht die beiden erstmals an ihrem Wohnort im Bayerischen Wald. Der Bayerische und der angrenzende Böhmerwald werden für Kubin zudem zu einem künstlerisch tiefgreifenden Erlebnis. Bis ins hohe Alter wird er in diesen Regionen seine Ferien verbringen und deren Märchen- und Sagenwelt in sein eigenes künstlerisches Schaffen einfliessen lassen, so zum Beispiel in seine Illustrationen zum Rübezahl (1925) und seinen Band Dämonen und Nachtgesichte (1926).
Anlässlich seines 50. Geburtstages richtet 1927 unter anderem die Münchner Neue Pinakothek eine Ausstellung zu Kubin aus. Ernst Jünger schreibt 1929 in der Zeitschrift Der Widerstand eine Rezension zu Die andere Seite. Es ist der Auftakt eines 20-jährigen Briefwechsels zwischen Kubin und dem Schriftsteller. Im Münchner Graphischen Kabinett Günther Franke findet 1930 mit 250 Exponaten die grösste Kubin-Ausstellung seit 30 Jahren statt. In einem Kubin-Sonderheft der Zeitschrift Das Kunstblatt erscheint 1931 Kubins Aufsatz Fragment eines Weltbildes, in dem er sich grundlegend zu seiner Weltanschauung äußert.
Hitler kommt 1933 durch eine Koalitionsregierung an die Macht, die er danach rasch zur Diktatur ausbaut. Für Alfred Kubin bedeutet dies vorerst Ertragseinbussen, Grenz- und Geldschwierigkeiten sowie die Sorge um seine Frau Hedwig, die jüdische Vorfahren hat. Nun lassen sich Verleger für seine Arbeiten nicht mehr so einfach finden. Einige seiner Illustrationsentwürfe werden erst nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht werden.
Laut Ernst Klee (Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. S. Fischer, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-10-039326-5, S. 342), im Katalog des Leopold Museums nicht erwähnt, wurden 63 seiner Werke als „Entartete Kunst“ diffamiert und konfisziert, ohne jedoch mit einem Ausstellungsverbot belegt zu werden; er konnte 1941/42 im NS-Propagandablatt des Generalgouvernements, der Krakauer Zeitung, mehrere Zeichnungen publizieren.
Laut Lena Scholz verhält sich Alfred Kubin während der Nazi-Herrschaft bedeckt und verbringt die Sommer, auch mit wechselnden Freundinnen, im Böhmerwald. Vor allem die Beziehung mit der österreichischen Grafikerin und Malerin Emmy Haesele (1894-1987) löst eine tiefe Ehekrise aus. Alfred Kubin hatte zudem Affären mit seine Schwägerinnen Emma Schitz und Tilly Spier, der Schwester seiner Frau (im Katalog nicht erwähnt).
Zu Alfred Kubins 60. Geburtstag im Jahr 1937 wird der Künstler in zahlreichen, meist österreichischen Galerien gewürdigt, u. a. in der Graphischen Sammlung Albertina in Wien. 1939 erscheint sein Sammelband Vom Schreibtisch eines Zeichners, der einzelne Schriften Kubins zusammenfasst und zu einer wichtigen Quelle für die Rezeption seines Werkes wird. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges kehrt Kubin überstürzt vom Böhmerwald nach Zwickledt zurück.
Der Tod seines Freundes Paul Klee im Jahr 1940 erschüttert Kubin zutiefst. 1941 erscheint Kubins mit zahlreichen Illustrationen ausgestatteter Band Abenteuer einer Zeichenfeder. Die Kriegsjahre verbringt Kubin zurückgezogen in Zwickledt, steht jedoch weiterhin in regem Briefkontakt mit Freunden und Vertrauten.
Nach dem Krieg erhält Alfred Kubin erhält wieder vermehrt Illustrationsaufträge, unter anderem zu Werken Ernst Jüngers und Georg Trakls. 1947 wird er Ehrenbürger der Stadt Linz. Im Sommer 1948 stribt seine Frau Hedwig an den Folgen ihrer langen Krankheit. Alfred Kubin arbeitet an grossformatigen Blättern zu Arthur Honeggers Totentanz, die als sein letztes Mappenwerk im Gurlitt
Verlag erscheinen. 1950 und 1952 ist Alfred Kubin auf der Biennale in Venedig vertreten, 1951 wird ihm der Österreichische Staatspreis für Literatur, Musik und bildende Kunst verliehen. 1955 vermacht der Künstler in einem Schenkungsvertrag testamentarisch seinen gesamten zeichnerischen Nachlass dem österreichischen Staat und dem Land Oberösterreich gegen die Auszahlung einer Leibrente.
Am 20. August 1959 stirbt Alfred Kubin nach langer Krankheit in Zwickledt. Er wird in Wernstein am Inn begraben. Sein künstlerischer Nachlass wird der Wiener Albertina und dem Oberösterreichischen Landesmuseum in Linz übergeben. Seine Bibliothek und das Wohnhaus in Zwickledt gehen in den Besitz des Bundeslandes Oberösterreich über. 1962 werden sie in die „Kubin-Gedenkstätte Zwickledt“ umgewandelt, die seit 1992 vom Oberösterreichischen Landesmuseum betreut wird. Das von Kurt Otte betreute Kubin-Archiv in Hamburg wird 1971 von der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München, angekauft und 1983 übernommen.
Der Text von Lena Scholz beruht teilweise auf Annegret Hoberg: Alfred Kubin: Drawings, 1897-1909. Katalog zur Ausstellung in Neue Galerie, New York. Hardcover, Prestel, 2008, 232 Seiten. Das englische Buch bestellen bei Amazon.de, Amazon.com.
Weitere Angaben zu Katalog und Ausstellung im Leopold Museum in Wien
Der Ausstellungskurator und Direktor des Leopold Museum schreibt im Katalog (Amazon.de) von Alfred Kubins dystopischen Visualisierungen, die den Symbolismus und die fantastische Kunst des 19. Jahrunderts weiterführen. Sie setzen sich aus realier und imaginärer Wirklichkeit zusammen. Sie bilden eine Synthese, in der das Unheimliche der pessimistischen Weltkonstruktionen immer wieder mit Humor, Ironie, und Übertreibung versehen ist.
Um 1900 pendelte das Weltbild zwischen bürgerlich-positivistischer Wissenschafts- und Vernunftgläubigkeit und irrationaler, anti-utilitaristischer Schicksalsgläubigkeit. Der angsterfüllte Alfred Kubin teilte das letztere und schuf beängstigende Vorstellungen von apokalyptischen Dämonen, die sein Dasein zu Qual machten. James Ensor und Alfred Kubin schätzten beide Hieronymus Bosch und Pieter Brueghel und wurden von deren unheimlichen, eigentümlichen Mischwesen inspiriert.
Alfred Kubins Schaffen entfaltet sich vor der Hintergrund des Niedergangs des Habsburgerreichs sowie den Schrecken der beiden Weltkriege. Sein gesundheitlicher Zustand bewahrt in zwar vor der direkten Kriegsteilnahme, dennoch plagen ihn Ängste, und zwar lange vor den Kriegen. Bereits sein Frühwerk um 1900 ist geprägt von Visionen von Qual, Folter, Chaos und Mord.
Alfred Kubin erlebt den Zweiten Weltkrieg zurückgezogen auf seinem Landgut im Zwickledter Schlösschen. Gegenüber den Nazis, die sein Werk als „entartet“ einstuften, verhielt er sich vorsichtig zurückhaltend.
Die Ausstellung im Leopold Museum in Wien widmet sich unter anderem Kubins Projektionen des Weiblichen. Er wurde mit 10 Jahren geprägt durch den tragischen Tod seiner Mutter. Der Psychoanalytiker und Psychiater August Ruhs arbeitet in seinem Katalogbeitrag heraus, wie der Umstand auf den Jungen wirkte, dass sein Vater ein Jahr danach seine Tante heiratete, die so zu seiner Stiefmutter wurde: „Ihre Nähe im Zusammenhang mit einer neuartigen ödipalen Konstellation dürfte für die libidinöse Verfassung des Jungen eine besondere Herausforderung gewesen sein, zumal sich die konfliktbeladene Beziehung zum Vater verschärft hatte.“
Wie oben erwähnt starb die zweite Frau seines Vaters nach nur einem Jahr ebenfalls. Zudem erlebte Alfred Kubin als Elfjähriger einen sexuellen Übergriff einer schwangeren Erwachsenen sowie später den Tod seiner ersten grossen Liebe, Emmy Bayer. All dies beeinflusste den Jungen nachhaltig. In seiner Kunst dominieren Darstellungen des Weiblichen als Bedrohung. Wie um die Jahrhundertwende weit verbreitet, ist auch sein Blick auf die Frau von Themen wie Schicksal, Macht, Verderben und Vernichtung beeinflusst. Die Triebhaftigkeit und Grausamkeit des Mannes wiederum veranschaulichte der Künstler in Motiven der Folter und Vergewaltigung sowie des Mordes.
Ein weiterer von Katalog und Ausstellung Alfred Kubin. Bekenntnisse einer gequälten Seele beleuchteter Aspekt ist die Krise des Individuums in der Zeitenwende um 1900. Sigmund Freuds Die Traumdeutung (Amazon.de) erschien 1899. Von dieser Publikation sowie inbesondere von Carl Gustav Jungs Konzept der Archetypen war der Künstler fasziniert, der sich mit Fragen nach Geburt, Leben und Tod, mit schrecklichen Visionen aus Kindheits- und Jugendtagen auseinandersetzte. In seinen Zeichnungen wie auch in seinem Roman Die andere Seite (Amazon.de) aus dem Jahr 1909 verarbeitete er Schreckensvisionen und Konflikte, Angstzustände, Schuldgefühle, Minderwertigkeitskomplexe. Der Vater schlug ihn in jungen Jahren und bestrafte ihn zudem mit Liebensentzug.
Mit 27 schrieb Alfred Kubin in München: „Der Tod, das Nichts ist das Ziel der Welt (…). Jeder läuft wie eine Maschine den vorgezeichneten Weg unbedingt ab.“ Die Kubin-Forscherin und langjährige Leiterin des Kubin-Archives im Lenbachhaus München Annegret Hoberg bezeichnet in ihren Bildanalysen im Katalog diesen Zustand des ohnmächtigen Ausgeliefertseins an eine Schicksalsmacht als „ausweglose Geworfenheit des Menschen in kosmische Leere“ – sei es im Hinblick auf eine Naturkatastrophe, eine als bedrohlich imaginierte Weiblichkeit oder eine Pandemie.
Im letzten Raum der Ausstellung und natürlich auch in einem Teil des Katalogs wird der Fokus auf unheimliche Orte in Kubins Œuvre gerichtet, darunter apokalyptische Naturkatastrophen, Hochwasser und Stürme. Das Zwickledter Schlösschen, in das sich der Künstler zusammen mit seiner Frau Hedwig über Jahrzehnte hinweg zurückzieht, soll dämmrig-düstere Facetten gehabt haben wie sein literarisches Traumreich „Perle“ im Roman Die andere Seite. Kubins Ängste seien mit dem Älterwerden wohl gelindert, jedoch nicht aufgelöst worden. Der unheimlichste Ort für Kubin sei wohl das Jenseits und damit der Tod gewesen. Als er sich an seinem Sterbebett 1959 einer ärztlichen Behandlung unterzieht, sagt er einen für sein Leben und Werk beispielhaften Satz: „Nehmen Sie mir meine Angst nicht, sie ist mein einziges Kapital“ (Otto Breicha: Alfred Kubin. Das zeichnerische Frühwerk bis 1904, Salzburg 1977, Seite 200).
Hans-Peter Wipplinger, Herausgeber: Alfred Kubin. Bekenntnisse einer gequälten Seele. Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, Köln, Leopold Museum, Wien, 2022, 328 Seiten, mit rund 230 Farb- und 32 Schwarz-Weiss-Abbildungen. Mit Beiträgen von Hans-Peter Wipplinger, August Ruhs, Burghart Schmidt, Annegret Hoberg, Lena Scholz. Den Katalog zur Ausstellung im Leopold Museum in Wien bestellen bei Amazon.de.
Annegret Hoberg und Matthias Mühling, Herausgeber: Alfred Kubin und der Blaue Reiter. Der Katalog zur Ausstellung im Lenbachhaus München im Jahr 2018-19, Wienand Verlag, 304 Seiten. Das reich illustrierte, gebundene Buch mit Beiträgen von Matthias Mühling, Annegret Hoberg und Daniel Oggenfuss bestellen bei Amazon.de.
Im Zusammenhang mit der Ausstellung Alfred Kubin und der Blaue Reiter machte die Städtische Galerie im Lenbachhaus in München Recherchen zur Provenienz der Werke ihrer Sammlung, woraufhin es am 15. Mai 2019 zur Restitution von 16 Zeichnungen Alfred Kubins an die Erben von Maximilian und Hertha Morgenstern kam, da die Werke dem Sammler-Ehepaar einst NS-verfolgungsbedingt entzogen worden waren.
Zitate und Teilzitate in dieser Buchkritik / Rezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.
Buchkritik / Rezension vom 2. Juli 2022 um 17:12 österreichischer Zeit. Zuletzt aufdatiert am 5. Juli 2022 um 10:18.