Der Militärputsch in Niger vom 26. Juli 2023 gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Mohamed Bazoum (*1960) fand kaum Gegenwehr. Noch immer genügen in zu vielen afrikanischen Staaten einige Hundert Soldaten, um einen gewaltsamen Regimewechsel durchzusetzen. In Niger spielte den Putschisten in die Hände, dass in der Hauptstadt Niamey die Opposition dominiert, eine Mehrheit Mohamed Bazoum kritisch gegenübersteht.
Bei einer Wahlbeteiligung von knapp 70% landete Mohamed Bazoum in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl vom 27. Dezember 2020 im gesamten Land Niger mit 39,33% auf dem ersten Platz, der Zweitplatzierte Mahamane Ousmane kam auf lediglich 16,99%. Bei einer Wahlbeteiligung von nur noch 62,9% in der Stichwahl vom 21. Februar 2021 siegte Mohamed Bazoum mit „nur“ noch 55,75% gegenüber 44,25% für Mahamane Ousmane, der enorm zulegen konnte.
Der schlechte Verlierer Mahamane Ousmane focht erst im Juni 2021 das Wahlresultat wegen angeblicher “Menschenrechtsverletzungen” und “Diskriminierungen an”. Er behauptete, die Wahlkommission und das Verfassungsgericht seien ihrer Rolle nicht gerecht geworden. Der Protest führte zu nichts. Mahamane Ousmane focht die Wahl übrigens nicht in Niger an, sondern bei der Economic Community of West African States (ECOWAS), die heute in aller Munde ist, weil sie den Putischsten im Extremfall mit der Anwendung von Gewalt drohte, sollten sie nicht bis am 6. August 2023 die verfassungsmässige Ordnung wieder herstellen und Präsident Bazoum nicht erneut sein Amt ausüben lassen. Das Ultimatum ist nun schon einige Zeit verstrichen, ohne dass dies ernste Konsquenzen gehabt hätte.
Gerüchte wollen wissen, dass Präsident Bazoum plante, den Putschistenführer General Abdourahamane Tchiani (*1960 or 1961) von seinem Amt als Kommandant der Präsidentgarde abzulösen, das dieser seit 2011 innehatte, weshalb der General angeblich putschte.
Niger hat seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1960 bereits fünf erfolgreiche sowie einige fehlgeschlagene Coups erlebt. Den letzten Versuch vereitelte der heutige Putschistenführer General Abdourahamane 2021 als Kommandant der Präsidentengarde selbst, dies nur einige Tage bevor der damalige Präsident Mohamadou Issoufou (*1952) abtrat und seinem demokratisch gewählten Nachfolger Mohamed Bazoum das Amt übergeben sollte.
Niger ist mit rund 1.26o.000 km² ein riesiges, jedoch mausarmes Land, in dem Wüsten rund zwei Drittel der Fläche bedecken. Laut der Weltbank lebten 2021 rund 42% der Menschen in Niger in extremer Armut, das Bruttoinlandprodukt pro Kopf und Jahr betrug 2022 nur $533. Die Landwirtschaft trägt rund 40% zum Bruttoinlandsprodukt bei.
Im Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen (Human Development Index, HDI) lag Niger 2014 weltweit an letzter Stelle, mit gut 60% der Bevölkerung, die mit weniger als einem Euro pro Tag auskommen musste. Im neuesten HDI rangiert Niger auf Platz 189 von 191 Ländern.
Die Inflation in Niger lag vor dem Putsch bei über 20%. Rund ein Drittel der Nigrer ist arbeitslos, wobei die Jugendarbeitslosigkeit bei über 40% liegt. Laut dem amerikanischen Aussenministeriums ist 2023 China mit $5,11 Milliarden der grösste ausländische Direktinvestor (FDI) in Niger, gefolgt von Frankreich mit $2,109 Milliarden, der Türkei mit $365 Millionen, Grossbritannien mit $205 Millionen und der Elfenbeinküste mit $192 Millionen.
2014 war Niger hinter Kasachstan, Kanada und Australien der weltweit viergrösste Uranproduzent und deckte rund 40% der französischen Nachfrage ab. Seit 1968 baute Areva in Niger Uran ab. Der französische Staatskonzern zahlte früher nur 5,5% an Steuern, die 2014 auf immer noch tiefe 12% angehoben wurden, wobei damals laut Presseberichten im Gegenzug Areva de facto die Mehrwertsteuer erlassen wurde. Die Franzosen versprachen damals, jährlich zusätzlich €100 Millionen in Entwicklungsprojekte zu stecken. Das war jedoch ein erbärmliches Angebot, da der IWF 2013 schätzte, dass Areva einen jährlichen Gewinn von €9 Milliarden einfuhr, was knapp dem Doppelten des BIP von Niger entsprach. Mit 6000 Angestellten war Areva damals der grösste Arbeitgeber in Niger.
2023 trägt die Nuklearenergie noch immer 70% zu Frankreichs Elektrizitätsproduktion bei, doch der Anteil an Uran aus Niger beträgt nur noch 18%. Kasachstan mit 20% und Australien mit 19% sind die grössten Exporteure nach Frankreich, so die Kernergieagentur (NEA).
Bei der globalen Uran-Produktion steht heute laut NEA Kasachstan mit 46% klar an erster Stelle, gefolgt von Namibia mit 12%, Kanada mit 10%, Australien mit 8%, Usbekistan mit 7%, Russland mit 6% und Niger mit 5%. Frankreich hängt folglich heute nicht mehr vom Uranabbau in Niger ab.
Der Uranabbau durch Areva stand jahrelang im Fokus von Umweltorganisationen. 2008 erhielt die Firma gleich zweimal den Public Eye Award (den People’s Award und den Global Award) verliehen, mit dem NGOs Konzerne „auszeichnen“, sich sich besonders verantwortungslos gegenüber Mensch und Umwelt verhalten.
Korruption und Mismanagement führten unter Anne Lauvergeon (“Atomic Anne”), die Areva von 2001 bis 2011 führte, in ein totales Desaster. Das Unternehmen musste vom Staat gerettet und restrukturiert werden. Es wurde teilweise vom staatlichen Stromversorger EDF übernommen, der wiederum selbst gerettet werden musste, weil er 2015 einen Schuldenberg von €64 Milliarden angehäuft hatte.
In Niger kam Areva schon früh unter Druck von Terroristen. 2013 zahlte der französische Staat angeblich zwischen €20 und €25 Millionen Euro, um vier Angestellte der Firma freizubekommen, die drei Jahre zuvor von al-Kaida als Geiseln genommen worden waren.
Bereits 2007 hatten Tuareg die chinesische Bergbaufirma Sino-U in Niger attackiert, die Uran nach China exportierte, nachdem die nigrische Regierung das einst Frankreich und Areva vorbehaltene Geschäftsfeld für Investoren aus China, Indien und Kanada geöffnet hatte.
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Nicht nur Niger ist unter Druck. Die gesamte Sahelzone wird von Terroristen, Söldnern und Putschisten heimgesucht. Allein seit 2020 gab es erfolgreiche Coups in Mali (2020, 2021), in Guinea (2021) sowie in Burkina-Faso (im Januar und September 2022). Hinzu kommt ein nicht erfolgreicher Militärputsch in Guinea-Bissau (Februar 2022).
2017 intervenierten Truppen aus dem Senegal in Gambia, als der dort seit rund 22 Jahren regierende, überraschend abgewählte Präsident Yahya Jammeh sein Amt nicht an seinen Nachfolger Adama Barrow übergeben wollte. Präsident Jammeh hatte zuerst das Wahlresultat anerkannt, doch nach einer Woche davon wieder Abstand genommen und wegen „Unregelmässigkeiten“ eine Neuwahl angeordnet, dabei hatte nur einer „Unregelmässigkeiten“ zu verantworten: Jammeh selbst. Im Wahlkampf hatte er Kritiker und Oppositionelle verfolgen, inhaftieren, zu Gefängnisstrafen verurteilen lassen und Vertretern der Opposition sogar mit dem Tod gedroht.
Nachdem in Gambia Verhandlungen mit dem abgewählten Präsidenten Jammeh gescheitert waren, verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Resolution, laut der die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) zum Eingreifen in Gambia autorisiert wurde, und der demokratisch gewählte Präsident Adama Barrow wurde in der gamischen Botschaft in der senegalesischen Hauptstadt Dakar als Nachfolger von Jammeh vereidigt. Erst danach sandte das ECOWAS-Mitglied Senegal Truppen in den kleinen ECOWAS-Nachbarstaat Gambia.
Bildet Gambia einen Präzedenzfall für ein ECOWAS-Eingreifen in Niger? Damals war die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft mit ihren einst 15 Mitgliedsstaaten noch geschlossen. Seit den Coups in Burkina Faso, Mali, Guinea und Niger ist deren ECOWAS-Mitgliedschafts suspendiert. Burkina Faso und Mali haben bereits angekündigt, bei einer ECOWAS-Militärintervention würden sie Niger beistehen. Zudem ist Niger über hundertmal so gross wie Gambia. Keine Macht in der Region hat wirklich Interesse an einem Krieg, schon gar nicht das mausarme Niger. Rationale Argumente sind allerdings nicht immer entscheidend. Vernünftig ist allerdings das Argument, dass die ECOWAS und deren derzeitiges Führungsmitglied Nigeria keinen vierten Militärputsch in der Region durchgehen lassen können, insbesondere nicht nach der Drohung mit einem Ultimatum, will die Organisation nicht als Papiertiger dastehen. Der letzte Rest an Glaubwürdigkeit der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft steht auf dem Spiel.
Die Junta in Niger spielt die antikoloniale Karte. Zusammen mit Mali, Burkina Faso, Gambia und anderen Länder ist auch Niger eine ehemalige französische Kolonie. Nach der Unabhängigkeit all dieser Staaten ab den 1960er Jahren intervenierte Frankreich in seinen ehemaligen Kolonien rund vierzigmal.
2017 hatte Frankreich noch immer Militärabkommen mit 12 Staaten, die zudem finanziell und wirtschaftlich durch den Franc CFA an die ehemalige Kolonialmacht gebunden waren. Seit 2013 und bis heute hat Frankreich noch immer 1,500 Soldaten in der Hauptstadt Niamey stationiert, auf einer Erweiterung des Flughafens, was strategisch klug ist. Kampflugzeuge, Drohnen und weiteres Militärmaterial lagern hier, denn Niger ist in den letzten Jahren zum Schlüsselland in Frankreichs Kampf gegen islamistische und andere Terrorgruppen in der Sahelzone aufgestiegen, denn die französischen Truppen wurden nach den Coups in den Nachbarstaaten Mali und Burkina Faso 2021 bzw. 2022 aus jenen Ländern rausgeworfen, doch französische Militärs sind noch immer stationiert in Niger, Tschad, Dschibuti (Djibouti), Gabon und im Senegal.
Im Tschad unterstützte Frankreich den Übergang vom ehemaligen Offizier und Langzeit-Präsidenten (1990-2021) Idriss Déby Itno, der beim Kampf gegen FACT-Rebellen getötet wurde, zu seinem Sohn Mahamat Déby, ebenfalls ein Offizier, der zum Teil in Frankreich ausgebildet wurde.
Mahamat Déby wurde vom Militär in Tschad für 18 Monate als Interimspräsident eingesetzt, das gleich noch die gewählte Regierung und die Nationalversammlung auflöste. Nicht nur Macron, sondern auch die US-Administration hatten diese Lösung unterstützt, was natürlich zur Anschuldigung der Ungleichbehandlung führte, da die Militärcoups in Mali und Burkino Faso von Frankreich und den USA verurteilt wurden. Zudem kam es im Oktober 2022 im Tschad zu Protesten, bei denen bis zu 200 Menschen getötet wurden. Mahamat Déby ist noch immer im Amt. Die Glaubwürdigkeit des Westens ist angeschlagen.
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Da hat Putin ein leichtes Spiel, seine Propaganda zu verbreiten. Jewgeni Prigoschin ist nicht nur mit seinen Wagner-Söldnern in der Sahel-Zone und darüber hinaus aktiv (wenn auch noch nicht in Niger), sondern zudem mit seiner Internet Research Agency, die ungehindert Desinformationen verbreitet, nicht zuletzt über existierende und zum Teil neu geschaffene lokale Medien in Sprachen der Region.
Die PMC Wagner Gruppe, russische Trolle und direkt oder indirekt von Russland kontrollierte Firmen waren bzw. sind aktiv in Angola, Kamerun, Tschad, der Elfenbeinküste, der Zentralafrikanischen Republik, in der Demokratischen Republik Kongo, in Ägpyten, Eritrea, Ghana, Guinea, Guinea-Bissau, Kenya, Libyen, Madagaskar, Mozambique, Nigeria, Rwanda, im Senegal, in Südafrika, im Südsudan und Sudan, in Syrien, Sambia und Simbabwe. Die Liste ist vielleicht nicht vollständig.
Putin und Prigoschin beeinflussen seit Jahren die öffentliche Meinung in diesen Ländern über soziale Medien, lokale Medien und Influencer. Darüber hinaus beuten sie in Afrika Minen aus und verdienen auch mit anderen Mitteln Geld, denn für den russischen Mafiastaat geht es immer auch um Geld.
In Guinea unterstützte Russland Präsident Alpha Conde in seinem umstrittenen Versuch, über eine Verfassungsänderung per Referendum nochmals zwei weitere Amtszeiten von je sechs Jahren über sein im Jahr 2020 endendes Mandat im Amt zu bleiben. Guinea ist Russlands grösster Bauxit-Lieferant. Dieser Rohstoff ist für den bedeutendsten russischen Aluminiumhersteller Rusal entscheidend. Nach dem Militärputsch im Jahr 2021 war der Kreml allerdings schlau genug, auch mit dem neuen Regime gute Beziehungen zu unterhalten. Im März 2023 traf der Sprecher der Staatsduma, Putin-Vertraute und für manche als dessen möglicher Nachfolger gehandelte Wjatscheslaw Wolodin mit dem Präsidenten des Nationalen Übergangsrates von Guinea, Dansa Kourouma, in Moskau zusammen.
Prigoschin sendet nicht nur Söldner. In der Zentralafrikanischen Republik organisierte er laut dem französischen Journalisten Vincent Hugeux mit seiner Gruppe Wagner die Miss Bangui-Wahlen 2018 und 2019, liess eine lokale Radiostation neu bemalen, gründete eine neue Radiostation, die in der wichtigsten lokalen Sprache Sango sendet, womit natürlich zudem Jobs verbunden waren, und brachte den Sänger Saif Keita und andere kulturelle Ikonen dazu, wilde Verschwörungstheorien – insbesondere gegen Frankreich – zu verbreiten.
Der in Frankreich geborene Kémi Séba ist ein umstrittener Panafrikanist und geopolitischer Journalist. Seine Eltern kamen ursprünglich aus Benin. Zwischen Oktober 2018 und Juli 2019 erhielt er von Prigoschin $440,000. Kémi Séba bestreitet weder ein Treffen mit Prigoschin noch die Annahme von Geld, doch er behauptet, dieses diene nur dazu, Logistikkosten zu decken, Prigoschin sage ihm nicht, was er zu sagen und schreiben habe.
Russland kauft sich kulturellen und politischen Einfluss in Afrika, indem es Veranstaltungen organisiert und sponsort, lokale Medien unterstützt und gründet, in lokalen Sprachen über lokale und regionale Influencer und andere Persönlichkeiten Propaganda verbreitet.
Beim Afrika-Gipfel vom Juli 2023 in St. Petersburg war Prigoschin zugegen, trotz seinem Marsch auf Moskau mit Söldnern und Militärs nur Wochen zuvor. Putin scheint schwach und ihn noch zu brauchen, insbesondere in Afrika. Allerdings waren bei der Ausgabe 2023 “nur” noch 17 afrikanische Staatschefs anwesend, während es beim Afrika-Gipfel in Sotschi 2019 noch 43 gewesen waren. Dennoch sandten noch immer 45 Staaten Botschafter und andere Vertreter. Die Afrikaner sind heute gegenüber russischen Versprechen skeptischer geworden. 2019 wurden in Sotschi 64 Abkommen mit Staaten sowie zusätzliche mit der Afrikanischen Union unterzeichnet, von denen bis heute allerdings nur 15 zum Leben erweckt wurden. Die Agentur, die diese Abkommen hätte überwachen sollen, wurde 2023 begraben. Putins Bäume werden in Afrika nicht in den Himmel wachsen. Vieles ist nur Schaufensterpolitik. Doch zur Destabilierung reicht es allemal.
Während und nach dem Militärputsch in Niger bekundeten Demonstranten in Niamey Unterstützung für Putin und Russland und forderten den Abzug der Franzosen. Die Kreml- und Prigoschin-Propaganda funktionert. Existierende Ressentiments der lokalen Bevölkerung gegen die ehemalige Kolonialmacht Frankreich sowie zum Beispiel gegen eine angebliche LGBT-Agenda helfen dabei.
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Präsident Bazoum war eine Schlüsselfigur im Kampf des Westens gegen den islamistischen Terror in der Sahelzone. Boko Haram, al-Kaida, der sogenannte IS, aber auch aus Libyen vertriebene Tuareg-Kämpfer, die Wagner-Söldner und vielerlei kleinere islamistische Gruppen sowie Gangsterbanden terrorisieren und destabilisieren eine ganze Grossregion.
Der Militärputsch vom 26. Juli 2023 wurde von den USA, Frankreich, der Kommission der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS und vielen anderen verurteilt, selbst von Russland, obwohl der Coup Putin in die Hände spielt. Der Kreml versucht seit einiger Zeit, Frankreich in der Sahelzone zu schwächen, obwohl Präsident Macron wiederholt davor gewarnt hat, Putin zu „demütigen“ und obwohl er mehrfach versucht hat, zwischen Russland und der Ukraine zu vermittlen, wo doch sein Platz ganz eindeutig auf der Seite der Ukraine, des Westens und der NATO sein sollte.
Der Offizier und Interimspremierminister Abdoulaye Maïga (*1981) in Mali, der einst für das Frühwarndirektorat der ECOWAS gearbeitet hatte, warnte die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft eindringlich vor einer Militärintervention in Niger, da dies einer Kriegserklärung gegenüber Burkina Faso und Mali gleichkomme.
Nigeria ist Nigers wichtigster Nachbar. Mit rund 230 Millionen leben dort rund zehnmal so viele Menschen wie in Niger. Damit ist Nigeria bevölkerungsmässig Afrikas grösstes Land. Hinzu kommt, dass die Wirtschaft (BIP) dort rund dreissigmal so gross ist wie jene im gerade von einem Putsch destabilisierten Nachbarstaat.
Nach dem Coup 2023 hat ECOWAS gegenüber Niger Wirtschafts-, Finanz-, Handels- und Reisesanktionen verabschiedet. Die Energiesanktionen treffen Niger brutal, das laut der International Renewable Energy Agency bis zu 90% seiner Energie aus Nigeria bezieht.
Die Grenzen zwischen den zwei Ländern wurden zur Kolonialzeit künstlich gezogen. Deshalb sind Ethnien und religiöse Würdenträger dies- und jenseits der Grenze teilweise identisch. Familienbande und Wirtschaftsbeziehungen sind in dieser gut integrierten Region überstaatlich, weshalb die Durchsetzung von Sanktionen problematisch ist.
General Tchiani und seine Junta behaupteten, dass der Coup geschah, um den graduellen und sonst unabwendbaren Zerfall Nigers zu stoppen und die andauernde Unsicherheit im Land zu stoppen. In Wahrheit wurde das Land unter Präsident Bazoum sicherer, während dem in Mali und Burkina Faso Terrorakte und die Destabilisierung zunahmen, nachdem dort Coups stattgefunden hatten, die französischen Truppen zum Abzug gezwungen und durch Wager Söldner ersetzt worden waren.
Nigers Sicherheitslage ist allerdings schon länger tatsächlich fragil. 2015 verübte die islamistische Terrorgruppe Boko Haram im Nachbarstaat Nigeria Terrorakte, wodurch alleine schon rund 150,000 Menschen nach Niger flüchteten. Ende August 2022 stellte der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen fest, dass in Niger rund 350,000 vertriebene Personen und 294,467 Flüchtlinge lebten, hauptsächlich aus den Nachbarstaaten Nigeria, Mali und Burkina Faso kommend.
2015 war das Jahr der Attacke auf das Satiremagazin Charlie Hebdo in Paris, das nicht nur viele unschuldige Leben in Frankreich kostete, sondern zudem zu Gewalt in Niger führte. Der damalige Präsident Mahamadou Issoufou war eines von nur sechs afrikanischen Staatsoberhäuptern, das nach Paris reiste, um am berühmten Marsch gegen den Terrorismus teilzunehmen, was nicht alle Muslime in Niger begrüssten.
Die Lage in diesem afrikanischen Armenhaus, das eine zentrale Rolle im Kampf des Westens gegen den Terrorismus spielt, ist kompliziert. Noch immer befinden sich hier vor allem amerikanische und französische, aber auch deutsche und italienische Truppen. Die Junta hat die französischen Militärs bereits aufgefordert, das Land zu verlassen. Die Franzosen antworteten, dies könne nur der demokratisch gewählte Präsident Bazoum anordnen.
Die Franzosen mit ihrer unrühmlichen kolonialen und post-kolonialen Geschichte in Afrika können kaum eingreifen. Präsident Macron hatte am 2. März 2023 in Gabon erklärt, die Zeiten der Françafrique seien vorbei. Übrigens hatte bereits Präsident Hollande in seinem Programm zur Präsidentschaftswahl 2012 versprochen, mit der Paralleldiplomatie und den dubiosen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien aufzuräumen. Noch unter Präsident Mitterrand war dessen ältester Sohn Jean-Christophe unter dem Spitznamen „Papa hat mir gesagt“ (Papa m’a dit) bekannt und so in Afrika jahrelang unterwegs.
Neun der fünfzehn ECOWAS-Staaten habe ihre Militärchefs nach Accra in Ghana entsandt, wo sie über das weitere Vorgehen bezüglich Niger beraten. Benin, Guinea-Bissau, die Elfenbeinküste, Nigeria und der Senegal haben öffentlich die Bereitschaft zu einer Militärintervention bekundet. Kap Verde lehnt eine Beteiligung ab. Die in Accra nicht vertretenen, wegen Militärcoups in ihren Ländern von der ECOWAS suspendierten Staaten Burkina Faso, Guinea und Mali wollen im Falle einer ECOWAS-Militärintervention ihrerseits Niger militärisch beistehen. Hinzu kommt, dass in den beiden Ländern Ghana und Nigeria, in denen die Regierungen eine Militärintervention befürworten, die Parlamente zustimmen müssten, doch diese sind (bisher) dagegen. Hinzu kommt, dass die Anwendung von Gewalt insbesondere im wichtigsten Staat der Region, Nigeria, bei der Bevölkerung mehrheitlich auf Ablehnung stösst. Sollte allerdings zum Beispiel Präsident Bazoum, der wie sieben oder acht Minister seiner Regierung von den Putschisten festgehalten wird, etwas geschehen, könnte sich das ändern.
Trotz der parlamentarisch unklaren Lage in Ghana und Nigeria sagte heute der ECOWAS-Kommissar Abdel-Fatau Musah, alle ECOWAS-Mitglieder ausser Kap Verde und den suspendierten Staaten seien bereit, Soldaten für die regionale Eingreiftruppe zu stellen, sollte eine Militärintervention nötig werden, die als letzte Möglichkeit zur Wiederherstellung der verfassungsmässigen Ordnung in Niger und zur Rückkehr von Präsident Bazoum in sein Amt nach wie vor nicht ausgeschlossen wird. Die zweitägige Sitzung der ECOWAS-Militärführer in Accra ist übrigens noch nicht abgeschlossen, doch eine grosse Entscheidung wird heute nicht erwartet.
Die USA haben klar gemacht, dass sie nicht nur eine Rückkehr zur verfassungsmässigen Ordnung wünschen, sondern zudem, dass sie die Putschisten für den Gesundheitszustand von Präsident Bazoum verantwortlich machen. Der nigerianische Präsident Bola Tinubu hat heute gerade die Putschisten ebenfalls davor gewarnt, dass eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes des abgesetzten Präsidenten ernste Konsequenzen hätte.
Mohamed Bazoum wiederum hatte kurz nach dem Coup die Internationale Gemeinschaft und inbesondere die USA via die Washington Post um Hilfe gebeten und davor gewarnt, Russlands Wagner Söldner könnten in Niger aktiv werden. Die Putschisten haben daher wohlweislich bisher die amerikanischen Truppen in Niger nicht zum Abzug aufgefordert und auch sonst die Vereinigten Staaten – anders als die Franzosen – von Kritik verschont. Wagner Söldner sind bisher noch nicht in Niger aktiv geworden. Russland hält sich zurück.
Die Situation ist verfahren. Wären vorgezogene Neuwahlen eine Ausweg aus der Sackgasse? Könnten so alle – die Putschisten, ECOWAS und der Westen – das Gesicht wahren? Ein Krieg schadet allen. Eine Akzeptierung des Coups wäre ebenfalls für alle – ausser für die Putschisten – schlecht.
[Hinzugefügt am 19. August 2023 um 11:02 deutscher Zeit: Der Kommissar für Politische Angelegenheiten, Frieden und Sicherheit der ECOWAS, Abdel-Fatau Musah, sagte am Ende der der zweitägigen Tagung der Organisation in Accra am 18. August, die Mitgliederstaaten – mit Ausnahme der suspendierten Mitglieder sowie ohne Kap Verde – seien jederzeit bereit zu intervenieren und sie hätten sich auf einen „D-Day“ zur militärischen Intervention, als letztes Mittel, geeinigt, sollten die diplomatischen Bemühungen nicht zu einer Rückkehr zur verfassungsmässigen Ordnung in Niger führen. Der genaue Tag sei jedoch geheim („The D-Day is also decided, which we are not going to disclose.“). Die drei suspendierten Staaten, in denen das Militär die Macht übernommen hat, Niger, Burkina Faso und Mali, liessen nun ihrerseits verlauten, sie hätten sich auf mögliche Massnahmen gegen eine ECOWAS-Militärintervention, auf eine gemeinsame Verteidigungsstrategie geeinigt.]
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Der vom Militär in Niger weggeputschte, demokratisch gewählte Präsident Mohamed Bazoum im Jahr 2016. Foto via Wikipedia/Wikimedia.
Artikel vom 18. August 2023 um 17:27 deutscher Zeit.