Das Buch Dürer im Zeitalter der Wunder: Kunst und Gesellschaft an der Schwelle zur globalen Welt der Historikern Ulinka Rublack, die in Cambridge lehrt und als führende Spezialistin der Renaissance gilt, ist hochspannend und für ein breites Publikum geschrieben.
Es geht um den zwischen 1507 und 1511 entstandenen Heller-Altar, der die Himmelfahrt Marias zeigt, und seine Folgen. Dieses Werk malte Albrecht Dürer (1471-1528) für den Frankfurter Patrizier, Kaufmann, Ratsherrn und mehrfachen Bürgermeister Jakok Heller. Teile des Triptychons, vier Tafeln für den linken und rechten zweiten Aussenflügel, gab Jakob Heller bei Matthias Grünewald in Auftrag.
Um den Preis für die Arbeiten von Albrecht Dürer entstand ein Streit. Das Tafelbild verbrannte im 18. Jahrhundert, doch die Korrespondenz zum Kunstwerk existiert noch. Sie bietet Einblicke in den damals entstehenden Kunstmarkt und zeigt laut der Historikerin Albrecht Dürer an einem Wendepunkt.
Ulinka Rublack: Dürer im Zeitalter der Wunder: Kunst und Gesellschaft an der Schwelle zur globalen Welt, erschienen bei Klett-Cotta, 2024, 640 Seiten. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und das Buch bestellen bei Amazon.de.
Der englische Originaltitel, Dürer’s Lost Masterpiece: Art and Society at the Dawn of a Global World (Das verlorene Meisterwerk Dürers) kommt dem Inhalt des Buches näher als der deutsche. 1511 fasst Albrecht Dürer einen radikalen Entschluss: Nachdem er sich mit dem Frankfurter Kaufmann Jacob Heller wegen des Auftrages zum Heller-Altar zerstritten hat, hörte er auf, Altarbilder zu malen, und wandte sich anderen Werken zu. Dieser Konflikt zeigt die neue Beziehung zwischen Kunst, Sammeln und Handel in Europa vor dem Dreissigjährigen Krieg.
Mit dem beginnenden 16. Jahrhundert wurde Kunst Teil eines wachsenden Sektors von Luxusgütern und vollzog eine umfassende Kommerzialisierung. Kaufleute und ihre Mentalität waren entscheidend für ihre Verbreitung und Entstehung. Dürer im Zeitalter der Wunder zeigt die Gedanken- und Gefühlswelten Albrecht Dürers und der Kaufleute jener Zeit. Anhand von originalen Schriftstücken, Briefverläufen und Bildern zeichnet Ulinka Rublack die Biografie Albrecht Dürers und seines Werks am Beginn des aufkommenden europäischen Kunst- und Handwerksmarkt nach. Das Buch bietet einen neuen Blick auf Albrecht Dürer und die Renaissance.
Die weltberühmten «betenden Hände» von Albrecht Dürer finden sich auf einem Albumcover des Rappers Drake, wurden von Andy Warhol aufgegriffen, sind auf vielerlei Souvenirs abgedruckt. Sie waren eine Vorzeichnung Dürers für den Heller-Altar.
Dieser sollte nicht wie zu Beginn geplant 130 Gulden kosten, sondern mit 200 Gulden deutlich mehr, da sich der Künstler arg verkalkuliert hatte. Das Tafelbild sollte prächtig und wertvoll wirken, weshalb Albrecht Dürer dafür das auf dem Markt beste und teuerste Ultramarin verwendete, das nur in Afghanistan abgebaut wurde.
Der Streit mit dem Auftraggeber eskalierte. Nachdem Jakob Heller auf Albrecht Dürers Versuch, den Preis auf 200 Gulden festzusetzen, nicht geantwortet und stattdessen begonnen hatte, den Ruf des Künstler zu beschmutzen, schrieb dieser ihm: „Ihr denkt oft in Euren Schreiben an die Materialien! Solltet Ihr 1 Pfund Ultramarin gekauft haben, Ihr hättet es für 100 Gulden kaum bekommen. Denn ich kann keine schöne Unze für unter 10 oder 12 Dukaten kaufen.“
In einem Schreiben vom 21. März 1509 machte Albrecht Dürer glaubhaft, 20 Dukaten – 25 Gulden – allein für das von ihm verwendete feste Ultramarin ausgegeben zu haben – laut Ulinka Rublack ein weiteres Zeugnis für seine Hingabe, seinen hohen Anspruch und seine Ehrlichkeit. Trotz der horrenden Kosten hatte sich der Künster dafür entschieden, das Werk zu vollenden.
Albrecht Dürer wandte am Ende 28 Prozent der Gesamtsumme, die er schliesslich von Jakob Heller erhielt (200 Gulden), für Pigmente auf, zusätzlich zu den Beträgen, die ihn andere Materialien, der Rahmen, die Schreiner und die Gehilfen kosteten. Albrecht Dürer schätzte daher den Wert des Gemäldes auf 400 Gulden. Zum Vergleich: Um 1580 verdiente ein Nürnberger Dienstmädchen neben Verpflegung, Kleidung und Unterkunft jährlich 6 Gulden, ein männlicher Bediensteter rund das Doppelte, also 12 Gulden – im Jahr!
Jemand bot Albrecht Dürer 300 Gulden für den Heller-Altar. Und Georg Thurzo – ein reicher Kaufmann und Verwandter des Bischofs von Breslau – hatte ihm gerade 400 Gulden für eine Madonna in einer Landschaft geboten. Der Marktwert von Albrecht Dürer war im Steigen begriffen. Daher kämpfte der Künstler hart für mehr Geld von Jakob Heller. Die Summe war keinesfalls überrissen.
Ulinka Rublack schreibt, dass Albrecht Dürers Vater einer der hochgeschätzten Nürnberger Goldschmiedemeister war, den der Stadtrat mit der raschen Fertigstellung der kaiserlichen Trinkgefäße beauftragt hatte; Kaiser Friedrich III. (1415–1493) kam im Geburtsjahr von Albrecht Dürer, 1471, mit einem Gefolge von 800 Pferden für 13 Tage nach Nürnberg.
Albrecht sollte in die Fußstapfen seines Vaters treten und als angesehener Goldschmied Ringe, Reliquienschreine, Kelche und Krüge anfertigen, Kokosnüsse und Strausseneier verzieren sowie Schäfte für Waffen und Spangen für Kleider herstellen, die ihm die Gunst der Kaiser einbringen würden.
Obwohl der junge Dürer sein Handwerk von seinem Vater erlernte, fand er laut Ulinka Rublack mit zunehmendem Alter Gefallen an der Fülle an Farben, der er auf den Gemälden in den Nürnberger Kirchen begegnete, und am Zeichnen nach lebendem Vorbild. Im Alter von 13 Jahren schuf er mit einer Silberfeder ein Selbstporträt. Er fragte seinen Vater, ob er bei einem Maler in die Lehre gehen könne. Sein Vater war über die Bitte seines Sohnes sichtlich verärgert. Als ungarischer Einwanderer war er erst mit 40 Jahren in seiner eigenen Nürnberger Werkstatt Meister geworden und hatte nun bereits die 50 überschritten. Es schien ihm, als wären all seine Lehrjahre vergebens gewesen, da seine Werkstatt nun nicht von seinem talentierten Sohn weitergeführt werden würde. Doch er lenkte schliesslich ein.
Innerhalb weniger Jahre tat sich Albrecht Dürer als Zeichner, Holzschneider, Aquarellist, Kupferstecher und Maler hervor, fest entschlossen, der grösste deutsche Künstler aller Zeiten zu werden.
Ulinka Rublack kommt zum Schluss, dass die deutsche Kultur nach 1555 weder stagnierte oder sich national ausrichtete, noch einfach nur in konfessionelle Polemik verwickelt und von der Dynamik der überseeischen Handelsnationen Europas abgeschnitten war. Innovative Handwerker, Kaufleute wie die Fugger, Agenten wie Hainhofer und sammelnde Herrscher positionierten Deutschland im Zentrum der künstlerischen Entwicklungen und profitierten von den Bedingungen des globalen Handels. Ein neues Zeitalter europäischer Verflechtungen brach heran, das dem Interesse an den Künsten geschuldet war.
Ulinka Rublack stellt sich der Interpretation entgegen, dass Kaufleute nur daran interessiert gewesen seien, als Mäzene Werke zu horten und Besitz anzuhäufen, dass Märkte eine anonyme Kraft seien. In der Kunst der Renaissance ging es laut der Autorin um eine neue Welt des Wissens, die sowohl mit dem Handel als auch mit dynamischen sozialen, religiösen und politischen Werten und tiefgreifenden persönlichen Überzeugungen verbunden war.
Ulinka Rublack meint, unnachgiebiges Kalkulieren und Spekulieren sei oft einher gegangen mit einer Verbindung zur Kunst als hilfreiches Medium, um Gefühle von Verlust und Hoffnungslosigkeit zu bewältigen, oder mit dem Festhalten an einer ganzen Vision, wie Gesellschaften reformiert und eine bessere, freudvollere Welt geschaffen werden könnte. Die drei von ihr näher untersuchten Kaufleute – Heller, Fugger und Hainhofer – seien tief religiöse Menschen gewesen.
Laut der Autorin wäre es irreführend, die Geschichte der Kaufleute damit abzutun, dass sie allesamt eine überflüssige Art von Konsumverhalten getriggert hätten, welches, in einem Zeitalter rücksichtsloser Habgier wurzelnd, den Weg zum modernen Materialismus geebnet habe. Sie hebt wie andere Historiker in jüngster Zeit die wichtige Rolle der Kaufleute bei der Wissensbildung und dem kulturellen Austausch in der Frühen Neuzeit hervor.
Die Autorin argumentiert, es habe verschiedene Arten von Sammlern wie auch verschiedene Arten von Kaufleuten gegeben, von denen viele von leidenschaftlicher Neugier auf der »Suche nach dem Neuen« angetrieben worden seien. Sie seien unterschiedlich risikofreudig gewesen, hätten nach Status gestrebt und sich in die Politik eingebracht. Manche – wie Hans Fugger – liessen sich von festen Prinzipien und gesundem Menschenverstand leiten, andere – wie Philipp Hainhofer – von einer grösseren Bildungstiefe.
Wie die empirischen Gelehrten schärften die Kaufleute ihre Aufmerksamkeit für das Besondere unablässig durch angewandte Forschung. Wie die Gelehrten pflegten sie die Geselligkeit, um Informationen zu sammeln. Sie entwickelten zuverlässige Systeme, mit denen sich Korrespondenz und Angaben archivieren liessen, um die darin enthaltenen Informationen und Details jederzeit abrufen zukönnen. Ihr Hauptbeschäftigungen habe in immer spezialisierteren Märkten darin gelegen, die Fähigkeit auszubilden, neue Erfindungen zu bewerten und gute von schlechten Nachahmungen sowie Nachahmungen von Originalen zu unterscheiden. Dies habe den Interessen der Gelehrten und Virtuosen entsprochen.
Ulinka Rublack folgert, dass sich Künstler mehr wie Kaufleute und Kaufleute mehr wie Kunstschaffende verhielten, als die Kunstmärkte sich immer weiter miteinander verwoben. Die Handelskulturen in vielen Teilen der Welt – so auch in China – verfügten laut der Historikerin zunehmend über die Macht, Wissen, Geschmäcker, Affekte und Identitäten zu formieren und hervorzubringen. Materialien, Dinge und die menschliche Interaktion mit ihnen seien zu einem grundlegenden Faktor für die religiösen und politischen Veränderungen in der Frühen Neuzeit geworden. Kaufleute und Kunstfreunde begründeten die Hoffnung, dass die Gegenstände über Kontinente hinweg zur politischen und religiösen Vermittlung dienen würden.
Ulinka Rublack zeigt in ihrem Buch, wie die moderne Welt von Kunst und Kommerz entstanden ist, wie Dürer Kunst produzierte. Das Heller-Altarbild dient ihr als materielle Mikrogeschichte, um aufzuzeigen, wie Dürer in einem langwierigen geistigen, physischen und technisch vollkommenen Prozess mit dem Material arbeitete und in welchem Zusammenhang dies mit der Bedeutung stand, die die Malerei für ihn hatte.
Anstatt darauf zu schauen, was Kunstwerke vielleicht über eine zeitlose ästhetische Formensprache repräsentiert haben könnten, hat Ulinka Rublack Praktiken, persönliche Beziehungen, politische Netzwerke, Marktbeziehungen sowie die Anforderungen und Möglichkeiten verschiedener Arten von Materialien und Objekten selbst untersucht.
Dabei legt sie den Fokus auf die Kaufleute. Laut ihr steht die These von »Händlern« und »Herstellern« als grundlegend voneinander getrennt im Hinblick auf ihre Denkweisen (profitorientiert versus kreativ-ästhetisch) auf wackligen Füssen.
Zwischen Dürer und Heller kam es laut der Autorn schnell zum Bruch. Es geht um die Ursprünge moderner Kunst, nicht bezogen auf ein singuläres Beispiel, sondern insofern, als Dürer sich in einen Künstler verwandelte, der für den Markt produzierte, sich weigerte, von Mäzenen abhängig zu sein, sich selbst danach bewertete, wie viel er verdiente, sparte oder konsumieren konnte. Dafür habe er einen Preis bezahlen müssen. Dürer habe die Idee von der Vollendung seiner Fertigkeiten innerhalb eines Mediums aufgegeben und dabei die Fähigkeit verloren, sich dadurch geistig und künstlerisch auszudrücken. Es bedeutete laut der Autorin die Aufgabe seines Traums, ein grosser Maler der Farben innerhalb komplexer Kompositionen zu sein.
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Rezension/Buchkritik von Dürer im Zeitalter der Wunder: Kunst und Gesellschaft an der Schwelle zur globalen Welt vom 5. Mai 2025 um 19:04 deutscher Zeit.