Egon Schieles letzte Jahre 1914-1918

Mai 18, 2025 at 22:37 608

Das Leopold Museum in Wien widmet seit dem 28. März und noch bis zum 13. Juli 2025 dem „Spätwerk“ von Egon Schiele (1890-1918) eine sehenswerte Ausstellung, deren Ausgangspunkt das laut den Ausstellungsmacherinnen noch weitgehend unbekannte Tagebuch seiner Frau Edith bildet.

Am 17. Juni 1915 heiratete Egon Schiele die gegenüber seinem Hietzinger Atelier wohnende Edith Harms (1893-1918). Sie verstarb bereits am 28. Oktober 1918, kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges, an der sogenannten „Spanischen Grippe“, die damals – wohl ursprünglich aus den USA kommend – auch in Wien viele Todesopfer forderte. Edith war damals im sechsten Monat schwanger. Ihr Ehemann hatte sich ebenfalls mit dieser Krankheit angesteckt und verstarb nur drei Tage später, am 31. Oktober 1918, mit erst 28 Jahren.

Egon Schiele studierte ab 1906, als er erst zarte 16 Jahre alt war, an der Wiener Akademie der Künste. Wegen Spannungen mit seinem Lehrer Christian Griepenkerl (1839-1916), einem Vertreter des Historismus, der im Katalog nicht erwähnt wird, ging er 1909 vorzeitig und freiwillig von der Akademie ab. Danach schuf er in nur einer Dekade ein einzigartiges, heute weltbekanntes Œuvre, bestehend aus rund 400 Gemälden und 3.000 Arbeiten auf Papier.

Mittels Archivalien und Kunstwerken verwebt die Wiener Ausstellung biografische, historische und künstlerische Elemente der Jahre 1914 bis 1918. Die Schau gliedert sich in neun Themenbereiche: Die Suche nach dem Selbst; Paare; Edith Anna Schiele, geb. Harms; Familie; Leben in der Armee; Landschaften; die weibliche Figur, Porträts; Erfolg und letzte Werke.

Der Katalog zur Ausstellung, herausgegeben von Kerstin Jesse, Jane Kallir und Hans-Peter Wipplinger: Zeiten des Umbruchs. Egon Schieles letzte Jahre: 1914–1918. Hardcover, Leopold Museum, Wien, Buchhandlung Walther und Franz König, Köln, 336 Seiten mit 362 Abbildungen, 23,5 x 28 cm. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und den Katalog bestellen bei Amazon.de.

Blick in die Ausstellung Zeiten des Umbruchs. Egon Schieles letzte Jahre: 1914–1918. Foto Copyright © Leopold Museum, Wien.

Das Leopold Museum in Wien verdankt seine herausragende Schiele-Kollektion der obsessiven Sammelleidenschaft des Augenarztes Rudolf Leopold (1925–2010), der ab den 1950er Jahren zusammen mit seiner Frau Elisabeth Leopold (1926–2024) viele Werke des im niederösterreichischen Tulln geborenen Malers und Zeichners zu Schnäppchen-Preisen zusammentrug. Egon Schiele war damals fast in Vergessenheit geraten. Heute gehört er zu den international bekanntesten Expressionisten.

Das Leopold Museum besitzt heute knapp 300 Werke des Künstlers, darunter 48 Gemälde, und damit die weltweit umfassendste und bedeutendste Sammlung von Arbeiten dieses Vertreters des Expressionismus.

In seinen weltbekannten expressionistischen Werken setzte sich der Künstler laut dem Direktor des Leopold Museums, Hans-Peter Wipplinger, mit der  Selbstbefragung und Widersprüchlichkeit einer ganzen Generation auseinander. So enstanden Werke mit auffallend verdrehten Körperstellungen und inszenierten Posen, teils wilder Gestik und grimassierender Physiognomie. Diese prominenten Arbeiten mit markanter, oft kantiger Linienführung und meist ausgemergelten Leibern faszinieren bis heute.

Weniger präsent ist jedoch sein „späteres“ Œuvre ab 1914, das sich merklich von den früheren Werken unterscheidet. Hans-Peter Wipplinger unterstreicht, dass Egon Schiele sich damals einem realistischeren, von tieferem Einfühlungsvermögen geprägten Stil zuwandt. Nicht nur sein Strich beruhigte sich, wurde fliessender und organischer; die Dargestellten gewannen zudem an körperlicher Fülle und Realitätsnähe.

Die privaten wie historischen Ereignisse in diesem Zeitraum wirkten sich nachhaltig auf sein Schaffen aus: Schieles Lieblingsschwester Gertrude „Gerti“ heiratete 1914 seinen Malerkollegen und Freund Anton Peschka, mit welchem sie bereits eine voreheliche Liebesbeziehung und eine gemeinsame Tochter, Gertrude, hatte. Einen Monat nach der Hochzeit kam ihr Sohn, Anton jun., zur Welt – Egon Schiele war nun zweifacher Onkel. Die Beziehung Egons zu seiner älteren Schwester Melanie, von der er sich verkannt fühlte, gestaltete sich schwierig. Sein Verhältnis zu seiner Mutter Marie war ebenfalls zeitweise angespannt.

Auf Druck seiner zukünftigen Frau und gegen seinen Willen trennte sich Schiele 1915 von seiner langjährigen Partnerin Walburga „Wally“ Neuzil und vermählte sich mit Edith Harms, die er Anfang 1914 kennengelernt hatte. Allerdings musste Schiele unmittelbar nach der Hochzeit nach Prag und später ins böhmische Neuhaus (Jindřichův Hradec) zur militärischen Grundausbildung einrücken.

Die Sinnlosigkeit und teilweise Monotonie der ihm zugewiesenen Tätigkeiten unter gleichzeitiger zeitlicher Einschränkung seiner Freiheit und seiner kreativschöpferischen Tätigkeit belasteten den Künstler sehr. Der einst unbekümmert, laut Hans-Peter Wipplinger sogar kindlich wirkende Schiele musste sich innert kürzester Zeit neuen Herausforderungen stellen, was ihn in seiner Kunst zur Konzentration auf bestimmte Themen und zu Veränderungen seines Stils führte.

Blick in die Ausstellung Zeiten des Umbruchs. Egon Schieles letzte Jahre: 1914–1918. Foto Copyright © Leopold Museum, Wien.

Laut dem Katalog war Schieles Auseinandersetzung mit dem Thema Familie ab 1914 geprägt von seinen familiären Beziehungen: Während Mütter in seinen Werken meist keine Beziehung zum Kind aufbauen und mehr tot als lebendig wirken, werden Babys zum Symbol für Lebenskraft, kreative Erneuerung und spirituelle Erlösung.

Der Kriegsdienst führte dazu, dass das jugendliche Seelenforschen und die radikalen formalen Experimente Egon Schieles nachliessen. Seine allegorischen Gemälde wurden universeller und weniger selbstbezogen, seine Porträts einfühlsamer, sein Stil realistischer.

Die zunehmende humanistische Ausrichtung des Künstlers wirkte sich auf sein Schaffen aus. Um 1915 setzte er sich vermehrt mit Paarmotiven auseinander, welche sowohl die Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau als auch jene zwischen Frauen thematisierten. Laut den Ausstellungsmacherinnen fehlte den Werken nun trotz physischer Intimität oft eine gewisse emotionale Verbundenheit. Teils punktförmige Augen lassen die Personen marionetten- und puppenhaft wirken. Sie vermitteln ein Gefühl von Entfremdung. Teil einer Paarbeziehungzu zu sein, soll für Schiele wohl bedeutet haben, Aspekte seines Selbst zurücknehmen zu müssen.

Blick in die Ausstellung Zeiten des Umbruchs. Egon Schieles letzte Jahre: 1914–1918. Foto Copyright © Leopold Museum, Wien.

Jane Kallir vom Kallir Research Institute in New York City und Co-Kuratorin der Wiener Ausstellung schreibt im Katalog, dass der Militärdienst ihres Mannes für Edith Schiele schrecklich war. Nie zuvor sei sie so allein gewesen. Sie ertrug die längeren Abwesenheiten ihres Mannes kaum. Ihr Tagebuch, das sie als ‚Trostbuch‘ bezeichnete, und das im Leopold Museum erstmals präsentiert wird, füllte sie mit Berichten über ihre unerträgliche Einsamkeit. Ihre Stimmungslage wechselte zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

Laut Jane Kallir zwangen Ediths emotionale Bedürfnisse Egon, sich auf eine für ihn völlig neue Weise mit menschlicher Intimität auseinanderzusetzen. Seine Kunst wurde einfühlsamer, als er versuchte, die wechselnden Stimmungen seiner Frau einzufangen. Er zeigte sie nachdenklich, reserviert, elegant oder etwa unversöhnlich. Seine Porträts hielten nun eine eher verhaltene Person mit nachsinnendem und melancholischem Ausdruck fest.

Laut dem Katalog zeigten Schieles Arbeiten ab 1917, als er in sein Atelier zurückkehrte und zusehends wieder Modelle greifbar waren, deutliche stilistische Veränderungen. Er zeigte sein Können in überlegten Körperhaltungen und perspektivischer Raffinesse. Einzelne Posen wurden mehrmals aufgegriffen, verfeinert und optimiert. Während die Körper an Plastizität gewannen, verloren die weiblichen Dargestellten teils an Persönlichkeit und Charisma. Die Frauen wurden mehr oder weniger zu generischen Typen – man gewinne den Eindruck, dass die späteren Akte mehr dem voyeuristischen Blick dienten als der Erkundung von Sexualität.

Die zweite Co-Kuratorin der Wiener Schau, Kerstin Jesse vom Leopold Museum, schreibt in ihrem Katalogbeitrag, dass Schieles neue empathische Haltung sich zudem auf andere Motive auswirkte. Er habe im Zuge diverser militärischer Dienste vor allem menschlich viel dazugelernt. In Gesprächen mit Soldaten, Vorgesetzten und Kriegsgefangenen erfuhr er von unterschiedlichen Schicksalen und Hoffnungen. Sein gesteigertes Einfühlungsvermögen spiegle sich in zahlreichen Soldaten- und Offiziersporträts wider, welche ab 1915 entstanden. Der neu entdeckte Realismus habe Schieles Porträts für Auftraggeber attraktiver gemacht. Er konnte seine Bekanntheit mit der Zeit auch durch das Malen prominenter Persönlichkeiten steigern.

Nach seiner Rückkehr nach Wien 1917 war Schiele laut Katalog entschlossen, eine Führungsrolle in der österreichischen Kunstszene zu übernehmen Seine Pläne für das ambitionierte Projekt „Kunsthalle“– ein „geistiger Sammelpunkt“ für Kunstschaffende und gegen kulturelle Zersetzung –scheiterte an fehlender finanzieller Unterstützung, doch andere Unternehmungen waren erfolgreich. Eine druckgrafische Mappe mit Reproduktionen von Zeichnungen Schiele war rasch ausverkauft. Der Künstler wurde zudem gebeten, bei der Umsetzung von Ausstellungen, unter anderem für das k. u. k. Heeresmuseum, mitzuwirken sowie an der Organisation der 49. Ausstellung der Wiener Secession im März 1918 mitzuarbeiten. Egon Schiele begann an einem Zyklus allegorischer Darstellungen zu arbeiten, welcher die grossen Themen des irdischen Daseins, des Todes und der Auferstehung behandeln sollte und den er in einem eigens dafür angedachten Mausoleum präsentieren wollte.

Am 31. Oktober 1918, rund sieben Monate nach seinem ersten grossen Ausstellungserfolg in der Wiener Secession im März 1918, verstarb Egon Schiele jedoch an der spanischen Grippe, die mehr Menschen das Leben kostete als der Erste Weltkrieg.

Dies und noch viel mehr zu entdecken gibt es in der Wiener Ausstellung und dem dazugehörigen Katalog. Dieser enthält vier Essays von Spezialisten, das Tagebuch von Edith Schiele sowie einen umfangreichen Bildteil.

Herausgegeben von Kerstin Jesse, Jane Kallir und Hans-Peter Wipplinger: Zeiten des Umbruchs. Egon Schieles letzte Jahre: 1914–1918. Hardcover, Leopold Museum, Wien, Buchhandlung Walther und Franz König, Köln, 336 Seiten mit 362 Abbildungen, 23,5 x 28 cm. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und den Katalog bestellen bei Amazon.de.

Zitate und Teilzitate in dieser Ausstellungsrezension/Katalogkritik von Zeiten des Umbruchs. Egon Schieles letzte Jahre: 1914–1918 sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Rezension/Katalogkritik/Ausstellungskritik von Zeiten des Umbruchs. Egon Schieles letzte Jahre: 1914–1918 vom 18. Mai 2025 um 22:37 Wiener Zeit.