Gegen alle Fakten bleibe es eine beliebte Fiktion, die Anhänger und Funktionäre des Nationalsozialismus seien hauptsächlich desorientierte Kleinbürger gewesen oder hätten zumindest einer eingrenzbaren sozialen Kohorte angehört, schreibt der Historiker Götz Aly in seinem neuen Buch Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1945.
Götz Aly: Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1945. Verlag S. Fischer, 768 Seiten. ISBN-13 : 978-3103973648. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und das Buch bestellen bei Amazon.de.
Götz Aly unterstreicht, dass der Nationalisozialismus Staat und Gesellschaft zunehmend verschmolzen habe, doch habe ihn – verglichen etwa mit dem Herrschaftssystem Stalins – ein hohes Mass an innerer Pluralität ausgezeichnet. Laut dem Historiker begünstigte indirekt der Verzicht auf das Einfordern blinder Gefolgschaft den Vernichtungsterror.
Die Nazis errichteten mit Hilfe ungedeckter Kredite nicht nur Prunk- und Zweckbauten, sondern ebenfalls ohne solide Finanzierung verteilten sie soziale Wohltaten, die integrativ wirkten. Götz Aly erwähnt den Mindestlohn, Rentenerhöhungen, Kindergeld, Krankenversicherung, Kündigungs- und Mieterschutz, etc.
Der Historiker kommt zum Schluss, dass bis 1939 die durch und durch negativen Energien im trügerischen Schein eines allgemeinen Aufschwungs gespeichert worden und danach in beispiellosen Eroberungs-, Raub- und Vernichtungskriegen zur Explosion gebracht worden seien.
In zwölf Kapiteln analysiert Götz Aly wie die Massenbasis des nationalsozialistischen Staates entstand und mit welchen Methoden sie stabilisiert wurde. Er untersucht die Alters- und Sozialstruktur der NSDAP-Mitglieder, die Folgen der hemmungslosen Staatsverschuldung und die Gefühls- und Stimmungsschwankungen im Krieg.
Vor 1933 wählten laut Götz Aly Protestanten mehr als doppelt so häufig die NSDAP als Katholiken (ich: von denen viele die Zentrumspartei wählten). Die Beschleunigung des Lebens, das laut dem Autor höchst agile Management der Staatsführung und die sozialintegrative Wirkung der von Deutschen begangenen Grossverbrechen stehen im Zentrum des zweiten Teils des Buches.
Der Nationalsozialismus präsentierte sich als identitäre Massenbewegung, die für das Ende erlittener Demütigungen eintrat, was Götz Aly als nicht unaktuell erscheinenden Umstand bezeichnet. Denkmäler wurden gestürzt, Strassen umbenannt.
Die Nazis manipulierten Informationen, zerstörten öffentliche Räume, in denen frei diskutiert werden konnte, machten soziale Geschenke an die Massen bei zunehmend autoritärer Staatsführung.
Götz Aly betont die unseriöse Politik ungedeckter Staatsschulden, die einem Kartenhaus gleichkam, das immer wieder neu (schein-) stabilisiert werden musste. Adolf Hitler verfügte 1934 nicht ohne Grund, den Reichshaushalt nicht mehr zu veröffentlichen. Mit dem Anleihengesetz aus demselben Jahr zwangen die Nazis Aktionäre, einen Teil ihrer Dividenden in zehnjährigen Staatsanleihen anzulegen.
In einem Unterkapitel zu den riesigen Schulden, die Hitler dem deutschen Volk verheimlichte, unterstreicht Götz Aly, dass trotz des festen Vorsatzes zur Ausplünderung fremder Länder Deutschland den Krieg nur zur Hälfte aus den Raub- und Beutezügen bezahlen konnte. Die andere Hälfte musste bis zum Endsieg von den Deutschen aufgebracht werden. Die deutsche Führung zwang daher Banken und Lebensversicherungen, Sparkassen und Bausparkassen, ihre Einlagen in Reichskriegsanleihen anzulegen, ohne die jeweiligen Kontoinhaber zu fragen. Das wohlhabende deutsche Bürgertum hingegen wollte wie bereits 1938 nicht in Staatsanleihen investieren, sondern bevorzugte Aktien, die stark im Wert stiegen, was Goebbels im September 1941 empörte. Am 4. Dezember jenen Jahres folgte die Meldepflicht für die seit Kriegsbeginn gekauften Wertpapiere. Im Frühjahr 1942 folgte die Kontrolle der Aktienkurse. Anfang 1943 erging ein allgemeiner Kursstop für Aktien. Zwecks Alternativen waren nun die Freunde des Aktienhandels gezwungen, Kriegsanleihen zu kaufen, freute sich die NS-Führung.
Im Immobiliensektor gab es laut Götz Aly ähnliche Bewegungen. Der wachsenden Nachfrage nach bebauten und unbebauten Grundstücken stand kein nennenswertes Angebot gegenüber. Der Flucht in Sachwerte begegnete der Finanzstaatssekretär Fritz Reinhardt im April 1942 mit einer Verkaufssperre für verstaatlichte Gründstücke aus dem Besitz von Juden. Flüssiges Geld sollte in Richtung Sparbuch kanalisiert werden. Im Gegensatz zu Nazideutschland finanzierten Grossbritannien und die USA den Krieg mit langfristigen Kriegsanleihen. Dafür fehlte Hitler in Deutschland der Mut für eine solche – materiell unterlegte – Volksabstimmung.
Götz Aly wendet sich gegen den Begriff Naziideologie. Er betont vielmehr die inhaltliche Unbestimmtheit des nationalsozialistischen Programms. Es ging dem Regime um Machtgewinn und Machterhalt. Gegen Ende seines Buches hält er fest, der Sammelbegriff Faschismus sei für Hitlerdeutschland ungeeignet. Der Historiker erwähnt unter anderem, dass sich Hitlers Diplomaten, Militärs und Spitzenbeamte in ihrer überwältigen Mehrheit selbst dann als willige Vollstrecker betätigten, wenn sie der NSDAP innerlich fernstanden, während dem sich zum Beispiel italienische Beamte, Offiziere und Militärbefehlshaber weigerten, Juden aus Italien und den italienisch besetzten Teilen des Balkans an Deutschland auszuliefern. Solange kein besserer Begriff gefunden werde, schlägt Götz Aly vor, von Hitlerdeutschland zu sprechen.
Der Historiker ist der Meinung, Hitlers Staat lasse sich weder als Einpersonenherrschaft oder Diktatur einer kleinen Machtelite noch als hauptsächlich terrorgestützte, auf reiner Willkür beruhender Autoritarismus oder als Herrschaft des Pöbels (Ochlokratie) bezeichnen. Neben dem Polizei-, Überwachungs- und Militärapparat setzten die Nazis auf Zuspruch der Volksmassen, zumindest partielles Mitmachen dank Sozial-, Arbeits-, Gesundheits- und Ernährungspolitik, kurz das Volkswohl.
Laut dem Historiker existierte kein genuin nationalsozialistischer Antisemitismus. Doch hätten die Führer der NSDAP früh erkannt, wie ihnen der Programmpunkt „Kampf gegen die jüdische Vorherrschaft“ einen weit über den engeren Kreis ihrer Gefolgschaft hinauswachsende Zustimmung verschaffen würde. Einmal an der Macht, belegten sie Juden mit Berufsverboten und einteigneten sie.
Gleich zu Beginn seines Buches verweist Götz Aly auf einen Bericht von Hauptmann Hans Tröbst (1891-1939) aus dem Jahr 1923, der den Jüngtürken als militärischer Berater gedient hatte. Darin ging es um die Verherrlichung des türkischen Völkermordes an den Armeniern, der Adolf Hitler als Vorbild diente. Hitler liess bei Tröbst 1923 um ein Treffen anfragen. Tröbst nahm in jenem Jahr am gescheiterten Hitler-Putsch in München teil. In Mein Kampf, 1925/26 veröffentlicht, bekennt sich Hitler zur Ausrottung der „Vergifter“ des deutschen Volkes, der „internationalen jüdischen Volksmade“.
Wie konnten Hitler und die Nazis 12 Jahre lang an der Macht bleiben? Dies gelang laut Götz Aly nicht nur trotz aller Verbrechen, sondern auch wegen dieser Verbrechen. Der Historiker beleuchtet die Herrschaftstechniken Hitlers, seiner engeren Mitarbeiter und Vertrauten. Viele der angewandten Mittel erschienen für sich genommen als harmlos. Erst in der Kombination und besonderen Intensität entfalteten sie ihre spezifische Wirkung, die alle rechtlichen, moralischen und religösen Normen gesprengt hätten, so Götz Aly.
Neben Adolf Hitler ist der Minister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, die zentrale Figur in diesem neuen Buch von Götz Aly, der Lesenswertes zusammenträgt, zum Teil neue Fragen stellt und die dazugehörigen Antworten auf den Punkt bringt. Dieses dicke Buch ist Pflichtlektüre in einer Zeit, in der der Ruf nach einem starken Mann bzw. einer starken Frau weltweit zu hören ist. Götz Aly widmet sich am Ende des Buches diesem Thema im Kapitel: „Was geschah, kann wieder geschehen.“
Der Autor bezieht sich öfters auf den bezüglich der Nazis mehrfach weitsichtigen, liberalen Wirtschaftsprofessor Wilhelm Röpke sowie, insbesondere am Buchende, auf Yehuda Bauer, den er u.a. mit den Worten aus seiner Bundestagsrede von 1998 zitiert: „Das Fürchterliche an der Shoa ist eben nicht, dass die Nazis unmenschlich waren; das Fürchterliche ist, dass sie menschlich waren – wie Sie und ich.“ Ich würde sagen: Das Problem ist die menschliche Natur.
Dies sind nur einige wenige Erkenntnisse aus einem über 700-seitigen Buch zum dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Mehr bei Götz Aly: Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1945. Verlag S. Fischer, 768 Seiten. ISBN-13 : 978-3103973648. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und das Buch bestellen bei Amazon.de.
Wer sich für die sozial- und finanzpolitischen Techniken interessiert, mit denen die NS-Führung das Volk, die Soldaten und die Heimatfront, insbesondere die Frauen, bei Laune hielt, sollte zudem das Buch Hitlers Volksstaat: Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus (Fischer Taschenbuch, 2006, 480 Seiten; bestellen bei Amazon.de) von Götz Aly lesen.
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Rezension/Buchkritik von Götz Aly: Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1945 vom 1. September 2025. Hinzugefügt um 16:12 deutscher Zeit.