Albert Ballin wurde am 15. August 1857 in Hamburg geboren, wo er am 9. November 1918 freiwillig aus dem Leben schied. Dazwischen lag eine der erstaunlichsten Biografien und Karrieren eines Hanseaten. Die Quelle für diesen Artikel ist die Biografie von Eberhard Straub: Albert Ballin. Der Reeder des Kaisers (Amazon.de).
Der Sohn eines kleinen jüdischen Tuchhändlers und Reiseagenten wurde nicht nur zu „des Kaisers Reeder“, sondern schaffte im zivilen Bereich, was Wilhelm II. vergeblich mit seinem kaiserlichen Flottenprogramm auf militärischer Ebene anstrebte, zur See zur Weltmacht aufzusteigen. Die 1847 als Hamburg-Amerika-Packet-Aktiengesellschaft gegründete Hapag machte er durch seine kluge Geschäftspolitik und visionäres Unternehmertum zur führenden Reederei der Welt.
Ballins Vater Joel, der sich später Joseph nannte, kam 1804 in Horsens an der Westküste Jütlands zur Welt und zog 1832 nach Hamburg, wo er allerdings nie Deutsch schreiben lernte. Über seine Eltern ist nichts Genaueres bekannt. Straub verweist den 1913 von einem Michael Perlmann für den längst Berühmten entworfenen „Stammbaum“ ins Reich der Legenden.
Joseph Ballin war anfänglich in der Tuch verarbeitenden Industrie erfolgreich, ehe in der grosse Brand von 1842, wie viele andere Hamburger auch, schwer schädigte, ja ins Unglück stürzte. Bis zum Lebensende zahlte er an Schulden, offensichtlich auch, weil er sich verspekuliert hatte.
Dank dem bescheidenen Erbe seiner zweiten Frau konnte Joseph 1852 eine Agentur eröffnen, die Auswanderern die vielen Formalitäten abnahm. Es war ein Gewerbe, das keinen guten Ruf besass, weil dabei arme Teufel noch ärmere zu oft bei einer Art Menschenhandel übers Ohr hauten. Da die grossen Reederein nicht mit freien Agenten zusammen arbeiteten, sondern sich ihre Kunden selbst suchten, war klar, dass Joseph wohl nie in die Hamburger Gesellschaft aufsteigen würde.
Am 15. August 1857 wurde Albert Ballin als sein dreizehntes und letztes Kind geboren. Er erhielt eine für damalige Hamburger Verhältnisse ausreichende Schulbildung, wobei er nicht durch herausragende Leistungen auffiel. Das Judentum scheint keine Rolle bei seiner Erziehung gespielt zu haben. 1883 sollte Albert keine Bedenken haben, sich mit der evangelischen Christin aus gutbürgerlichen Milieu, Marianne Rauert, nach protestantischem Ritus trauen zu lassen. Er liess sich allerdings nie taufen. Er war wohl kein religiöser Mensch. Seine Ehe, wohl eine Liebesheirat, blieb übrigens kinderlos. 1893 adoptierten sie ein verwaistes Mädchen entfernter Verwandter.
Dänisch, die Sprache seines Vaters, lernte er nicht. Dafür besuchte er Englischkurse. Der junge Albert war strebsam. Nach dem Tod seines Vaters 1874 trat er in die Agentur ein, deren Geschäfte er ab 1879 in eigener Verantwortung leitete. Damals stieg der Strom der Auswanderungswilligen wieder an und brachte Ballin unerwarteten Gewinn.
Albert Ballin. Foto entstanden vor 1918. Public Domain. Wikipedia/Wikimedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Albert_Ballin_2.jpg.
Während seiner Reisen perfektionierte er neben seinem Metier auch die englische Sprache, die bei seinen Geschäften nützlich war. In England entwickelte er ein Betragen, Handeln und Reden von eleganter Einfachheit und Zurückhaltung, das Vermeiden von Übertreibungen, also die Tugenden des Gentleman. „Was er wurde, verdankte Ballin England“, fasst Straub den Sachverhalt zusammen.
1879 hatte Ballin das Glück, dass sich Edward Carr, der mit der Reederfamilie Robert M. Sloman verwandt war, für ihn interessierte, als er sich selbständig machte und im atlantischen Handel mitmischen wollte. Ballin überredete ihn dazu, seine vorerst zwei Schiffe für die Auswanderung einzusetzen. Die einfachen Frachter garantierten tiefe Preise für die Kunden, waren deshalb voll ausgelasteten und warfen Gewinn ab. So fand Ballin Zugang zum direkten Geschäft mit der Auswanderung, das ihm bisher verschlossen gewesen war.
Am 7. Juni 1881 stiess das erste Schiff mit 800 Auswanderern an Bord in Hamburg in See. Zwei Jahre später verfügte die Carr-Linie bereits über fünf Schiffe und transportierte insgesamt 16,500 Passagiere. Im Vergleich dazu waren es bei der in Hamburg führenden Hapag 55,000. Der Branchenleader musste die Preise senken, was die gesamte Konkurrenz nervös machte.
1882 wurde Zar Alexander II. ermordet. Pogrome veranlassten viele Juden, das Land in Richtung Amerika zu verlassen. Der Bremer Lloyd setzte auf Schnelldampfer. Edward Carr tat sich 1886 mit seinem Vetter Sloman zur Union-Linie zusammen, wodurch eine Flotte von zwölf Schiffen entstand. Auf Grund dieser und weiterer Ereignisse und Entwicklungen geriet der Hamburger Branchenführer Hapag weiter unter Druck. Carr überliess es seinem geschickten Berater Ballin, der nicht einmal sein Angestellter war, die Verhandlungen mit den Konkurrenten zu führen.
Ballin erreichte sein Ziel, als ihn die Hapag, in der das ehrbare Hamburg sass, im Frühjahr 1886 übernahm. Zuerst mit einem Vertrag für fünf Jahre ausgerüstet, kümmerte er sich nun um die Werbung und Beförderung der Passagiere beider Linien. Nun gehörte er dazu. Ballin und die Hapag verschmolzen in der Folge langsam zu einer Einheit. Als kommender Mann gefördert wurde er von Carl Laeisz, der den Aufsichtsrat der Hapag leitete und als „schlauer Grobian“ galt (Straub). 1888 trat Albert Ballin in den Vorstand der Hapag ein und gab seine Agentur auf. 1896 war er bereits zum Generaldirektor aufgestiegen.
Als Ballin 1886 zur Hapag kam, wandte er sich gegen seine früheren Verbündeten, die Engländer und die Agenten. Als der Stettiner Lloyd Konkurs ging, empfahl er, dort eine neue Linie einzurichten, die zusammen mit einer skandinavischen Reederei vor allem Skandinavier nach New York transportieren sollte. Bereits im Herbst 1886 gelang es ihm dadurch, die Engländer dazu zu bewegen, auf eine freie Konkurrenz im Hamburger Auswanderergeschäft zu verzichten, nicht mehr als 30% der Auswander, die nach Hamburg vermittelt wurden, zu befördern und Preisabsprachen einzuhalten. Daraufhin zog sich die Hapag ihrerseits aus dem Transport skandinavischer Auswanderer wieder zurück. Nach acht Jahren mussten sich die Engländer mit nur noch 7% der über Hamburg reisenden kontinentalen Auswanderer begnügen. Die Agenten mussten der übermächtigen Hapag weichen. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie Ballin sich mit Zuckerbrot und Peitsche, mittels „anpassungsfähiger“ Verträge, Absprachen und Kartelle auf dem Markt durchsetzte, mit dem Ziel, eben diesen einzuschränken.
Der wichtigste innerdeutsche Konkurrent der Hapag war der Norddeutsche Lloyd aus Bremen. Mit diesem und anderen wichtigen europäischen Wettbewerbern gründete Ballin den Nordatlantischen Dampfer-Linien-Verband. Gleichzeitig streckte der umtriebige Mann der Hapag bereits seine Fühler nach Amerika aus. Der Norddeutsche Lloyd erhielt 46% der atlantischen Passagiere zugesprochen, die Hapag 28%. Den grösseren Wettbewerber hatte er so vertraglich gebunden.
Albert Ballin, von Engländern gut beraten, überzeugte 1887 die Hapag, Doppelschrauben-Schnelldampfer zu bauen, als die Technik noch neu und umstritten war. Die neue Technik bot höhere Geschwindigkeit und mehr Sicherheit. 1892 stellte die Hapag die ersten vier derartigen Schnelldampfer in Betrieb. Ballin ging daran, den Norddeutschen Lloyd mit dessen Waffen zu schlagen.
Mutig war es, die Vulkan-Werft in Stettin mit dem Bau zu beauftragen. Die „Auguste Viktoria“ war der weltweit erst dritte und in Deutschland erste Doppelschraubendampfer dieser Grössenklasse. Die „Auguste Viktoria“ war das grösste Schiff, das in Deutschland gebaut wurde. Damit kam Ballin dem Kronprinzen und ab 1888 neuen Kaisers in „vorausahnendem Gehorsam“ entgegen, den Wilhelm II. sollte später den Wunsch äussern, dass deutsche Schiffe in Deutschland bestellt werden sollten. Der Name „Auguste Viktoria“ war eine Verneigung vor der jungen Kaiserin. Ballins Ziel war klar, dem Norddeutschen Lloyd die Position als „nationale“ Reederei streitig zu machen.
1891 nannte die Hapag ihr bestes und schnellstes Schiff „Bismarck“, nachdem der Kanzler vom Kaiser bereits entlassen worden war. Der Fehler wurde 1900 mit der „Deutschland“ korrigiert, die alle Rekorde brach. Später folgten mit der „Imperator“ und der „Vaterland“ neue Rekorde, jenseits der 50,000 BRT, die am 20. Juni 1914 im Beisein des Kaisers erneut gebrochen wurden, als das nunmehr grösste Schiff der Welt auf den Namen „Bismarck“ getauft wurde.
Die Hapag stieg noch vor der Jahrhundertwende ins Ostasiengeschäft ein und konkurrenzierte dort den Norddeutschen Lloyd. Ballins Taktik bestand oft – nicht nur in Asien – im Aufbauen von Allianzen mit kleineren Gesellschaften, die er immer stärker umarmte, um sie zuletzt zu kontrollieren.
Neider und Kritiker nannten den Ehrgeiz des Reeders „Ballinismus“, womit sie „einen typischen, allerdings höchst erfolgreichen Ausdruck eines recht unbestimmten <Wilhelmismus>“ meinten. Der Kaiser schätzte Ballin, und der Reeder schätzte es, vom Kaiser geschätzte zu werden, weshalb er ihn verständlicherweise ebenfalls schätzte (Straub).
Die bis um 1900 weitgehend unkomfortable Seereise machte Ballin zu einem noblen Vergnügen auf Luxuslinern, die in Komfort und Eleganz mit aristokratischen und grossbürgerlichen Palais sowie mit Grandhotels wie dem Vier Jahreszeiten oder dem Atlantic mithalten konnte, auch wenn damit nicht gleich kommerzieller Erfolg verbunden war.
Nicht zuletzt um die Auslastung in der schlechten Jahreszeit zwischen Oktober und April, wenn die Amerikaner zuhause blieben, zu verbessern, führte Ballin Vergnügungs- und Bildungsreisen ein. Im Januar 1891 sandte er die „Auguste Viktoria“ ins Mittelmeer – und traf damit den Nerv der Zeit. Das Schiff war ausgebucht.
Bereits 1898 war die Hapag unter Ballin zur weltgrössten und modernsten Reederei aufgestiegen, mit 58 Dampfschiffen mit insgesamt 336,889 BRT und mit zusätzlich 113 Frachtern (Zahl von 1897).
Ballin hatte in seinem Leben nicht nur eine gute Beziehung zu Kaiser Wilhelm II. aufgebaut, der den Reeder in seinen Briefen als Freund bezeichnete, sondern auch zum Journalisten und Schriftsteller Maximilian Harden. Nicht zuletzt in seiner Wochenzeitschrift Die Zukunft (1892-1922) gebärdete sich der nationalistische und monarchistische Harden als heftigster Feind des Kaisers. Von keinem anderen glaubte sich der jüdische Journalist so gut verstanden wie von des Kaisers „Hofozeanjuden“, wie er Ballin gleichwohl bösartig nannte. Auch alle anderen engen Freunde des Reeders waren übrigens jüdischer Herkunft, so die Bankiers Max Warburg und Carl Fürstenberg, die Mitbesitzerin der Frankfurter Zeitung Therese Simon-Sonnemann und der Chefredaktor (1906-33) des Berliner Tageblattes Theodor Wolff. Sie trafen sich allerdings nicht als Juden, sondern als Deutsche, so Biograf Straub.
In der sogenannten Eulenburg-Affäre attackierte Harden Fürst Philipp von Eulenburg, den engsten Freund des Kaisers. Er habe als Anführer einer mit Franzosen durchsetzten homosexuellen Clique, die den Kaiser beherrsche, eine konsequente Politik in der Marokkokrise von 1905/06 unterminiert. Davon konnte keine Rede sein, doch die Affäre dauerte bis 1909 an. Der Skandal wurde schliesslich begraben, indem der Kanzler Harden 1909 schriftlich versicherte, aus patriotischen Motiven gehandelt zu haben. Zum Ausgleich für die Prozesskosten überwies die Hapag 40,000 Mark an Harden. Das Reich bezahlte danach den Betrag der Hapag zurück. Ballin freute sich, „bei dieser wahrhaft patriotischen Erledigung der Sache“ mitgewirkt zu haben.
Als Reeder des Kaisers gab Ballin über die Hapag Unsummen für imperiale Repräsentationspflichten aus, wovon der Vorstand der Hapag nicht immer erfahren durfte.
Als Albert Ballin seine palastartige Villa am Rothenbaum in der Feldbrunnenstrasse bauen liess, wohnten er, seine Frau Marianne und seine Adoptivtochter im Herbst und Winter 1908/09 im „Vier Jahreszeiten“.
Zwei wirtschaftspolitische Initiativen Ballins scheiterten, so der Handelsvertragsverein, bestehend aus Handel, Schifffahrt und Industrie, sowie der Hansabund von 1909. Die Mitglieder konnten sich nicht auf gemeinsam durchzusetzende gesamtwirtschaftliche Vorstellungen einigen, da die Interessen zu unterschiedlich waren.
Die Hapag betrieb Welthandel, der Kaiser versuchte sich in Weltpolitik, nicht zuletzt in dem er die deutsche Kriegsflotte aufbaute. Ballin stand dem nicht kritisch gegenüber. Er trat mit der Hapag in den 1898 gegründeten Flottenverein ein. Für Ballin wie für die meisten Vertreter aus seinem Metier waren Welthandel, Weltindustrie, Hochseefischerei, Kolonien, Handels- und Kriegsflotte sich wechselseitig ergänzende Kräfte. Ballin bewunderte Alfred von Tirpitz, Staatssekretärs des Marineamts seit 1897, Mitbegründer des Flottenvereins und Grossadmiral seit 1911 als kongenialen Mann der Tat. Die Sympathie war gegenseitig. Im Kriegsfall würden die besten Schiffe der Hapag zu Hilfskreuzern der Marine umgerüstet werden.
In Sorge vor dem amerikanischen Imperialismus liess sich Ballin auf zweifelhafte Aktionen ein. So kaufte er mit der Hapag die dänische Insel St. John in Westindien, um sie als deutschen Flottenstützpunkt im Vorgarten der USA auszubauen. Dabei besass die Hapag auf der nahe gelegenen Insel St. Thomas bereits eine Niederlassung. Formell gehörte die Insel zu Dänemark, de facto war es aber eine „Kolonie“ der Hapag. Lauf Straub war die Reichsregierung allerdings vernünftig genug, die USA nicht unnötig zu reizen.
Mit den Engländern wurde dagegen der Konflikt gesucht. Die Herren der Weltmeere und des Welthandels sollten ihre Stellung mit den Deutschen teilen. Anstelle von Frankreich wurden die zuvor als harmlos eingestuften Deutschen zu lästigen Konkurrenten. Die Vorherrschaft der Briten war allerdings nicht ernsthaft in Gefahr, auch wenn ihr Anteil an der gesamten Tonnage der Weltschifffahrt in den Jahren von 1890 bis 1900 von 63% auf 54% sank und derjenige des Deutschen Reiches von 7% auf 9,6% stieg.
Als die USA während dem Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 das Fehlen einer eigenen Handelsflotte als Manko erkannten, denn über 90% des Aussenhandels wurde von ausländischen Schiffen abgewickelt, begann die Regierung, den Schiffsbau zu subventionieren. Der Bankier John Pierpont Morgan, bereits im Besitz von Schiffslinien, kaufte die englische Leyland-Linie, die White-Star-Linie und bewarb sich um fünf weitere britische Linien. Ballin wollte sich mit dem Amerikaner verbünden, um so die englischen Konkurrenten der Cunard-Linie zu „erobern“. Es hiess, dass die Amerikaner Ballin anboten, diesen deutsch-amerikanischen Trust zu führen. Doch beim Norddeutschen Lloyd, den Ballin ungefragt in seine Pläne einbezogen hatte, stiess er ebenso auf Widerstand wie erstmals innerhalb der Hapag, wo der Aufsichtsratsvorsitzende Max Schinkel von der Norddeutschen Bank protestierte. Der Aufsichtsrat lehnte daraufhin eine enge Verflechtung mit den Amerikanern ab. Die Auseinandersetzungen Ballins mit Schinkel nahmen da ihren Anfang.
Ballin gab nicht auf und erreichte 1902 Absprachen mit der IMMC, so hiess der Morgan-Trust, wodurch sich die amerikanischen und deutschen Reeder nicht in die Quere kommen sollten. Als unerwünschter Nebeneffekt dieser Regelung entschloss sich die britische Regierung, die letzte nationale Linie von Bedeutung, die Cunard-Linie, zu subventionieren und mit billigsten Krediten für den Bau von Schnelldampfern auszurüsten, wenn sie darauf verzichtete, sich mit ausländischen Gesellschaften zu vereinen. Ballin hatte ein Eigentor geschossen. Zudem zerbrach seine Zusammenarbeit mit IMMC bereits 1912.
Im Russisch-Japanischen Krieg versorgte die Hapag die russische Ostseeflotte mit Kohle aus Wales und verkaufte sechzehn Schiffe an den Zaren. Ballins Spiel war gewagt, denn Deutschland war neutral und England ein Verbündeter Japans. Die Russen verloren zwar den Krieg, doch Hapag verdiente dabei, und die deutsche Organisation und Planung beeindruckte das Ausland.
Hapag und Lloyd, immer noch führend im transatlantischen Personenverkehr, dominierten die Atlantikschifffahrt. Ballin gab nie den Gedanken auf, die zwei Gesellschaften eines Tages zu verknüpfen, vielleicht gar zu vereinen.
1913 kündigte Ballin alle Verträge und Kartellabsprachen der Hapag mit kontinentalen Reedereien, um die Vorherrschaft seiner Gesellschaft noch zu verstärken. Doch der Erste Weltkrieg verhinderte seine Pläne. Über den Krieg war er entsetzt, den einzig ein Sieg würde verhindern, dass die Hapag in die Rolle einer regionalen Reederei zurückfallen würde. Nicht verstehen konnte er wohl, dass er mit dem Wettrüsten in der Handelsschifffahrt mitgeholfen hatte, dass sich die nationalistischen Gemüter in Deutschland und dem mit dem Kaiserreich konkurrierenden Ausland erhitzt hatten.
Gemäss Biograph Straub fanden „sämtliche Torheiten deutscher Politik [Ballins] Beifall.“ Sei es die Affäre um das Kanonenboot „Panther“, das im Sommer 1911 nach Agadir entsandt wurde, um den Franzosen Geständnisse in Afrika abzupressen, sei es die Marokkokrise von 1905/06, welche die Engländer den Deutschen noch weiter entfremdete. Seinen Freund und Gönner Tirpitz habe er ebenso missverstanden wie die englischen Minister. Ballin sah in England überall nur guten Willen am Werk. Der Reeder war zudem launisch und unzuverlässig, sobald es sich nicht um seine Freunde handelte. Davon, dass er die Flottenpolitik von Tirpitz unterstützt, ja selbst eine Kriegsflotte gefordert hatte, wollte er im Krieg nicht mehr wissen.
Winston Churchill beschrieb er zuerst als zuverlässigen und aufrichten Freund Deutschlands, um ihn nach Kriegsbeginn als Morphinisten zu verschreien. Ballin hatte den Zusammenhang von wirtschaftlicher Expansion und militärischer Konfrontation nicht gesehen. Bis zuletzt hatte er geglaubt, England werde neutral bleiben. Er leistete sich eine Reihe von Fehlurteilen und abrupter Kursänderungen. Im April 1915 bezeichnete ihn schliesslich die Times als „Schurken Ballin“.
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges überraschte und erschütterte den Hamburger Reeder: „Das Werk meiner dreissigjährigen Arbeit liegt vorläufig in Trümmern […].“ Bei Kriegsbeginn ankerten nur 80 von 194 Hapag-Dampfern in deutsch Häfen. Zwölf Schiffe wurden sofort von den Franzosen und Engländern beschlagnahmt. Die Hapag-Flotte war wegen der englischen Blockade vom Weltverkehr ausgeschlossen.
Die Hapag und der Lloyd erhielten billige Kredite, für im Kriegseinsatz verlorene Schiffe gab es allein 1915 für die Hapag fünfzehn Millionen Mark an Entschädigungen, doch Subventionen wurde keine gesprochen. 1916 kam es zum Bruch mit Tirpitz.
Doch die Hapag darbte nicht. So konnte der Vorstand 1917 seine monatlichen Bezüge von 40,000 auf 70,000 Mark erhöhen. Auch die Angestellten wurden angemessen unterstützt. Doch je länger der Krieg andauerte, je ungeduldiger wurde Ballin, was die Ansprüche der Hapag an den Staat anbetrafen. Mit Zorn und Ohnmacht sah er, wie die Rhein- und Ruhr-Industriellen auf Grund der Rüstungsanstrengungen im Geld schwammen.
Im Oktober 1917 sicherte der Reichstag den Reedereien 50 Millionen Mark in Form billiger Kredite zu, die nach dem Krieg zurückgezahlt werden mussten. Subventionen flossen keine. Ballin akzeptierte den Kompromiss, nicht zuletzt, weil er den Bogen überspannt und selbst den Kaiser verübergehend verstimmt hatte, weil er ihn für seine geschäftlichen Absichten missbrauchen wollte.
Ballin realisierte, dass er zu alt war, um die Hapag nach dem Krieg nochmals aufzubauen. Er nahm Beruhigungsmittel. 1914 hatte er mit der Hapag eine Einkaufsgesellschaft auf die Beine gestellt, die Deutschland mit Lebensmitteln versorgte. Doch bald schon übernahm das Reich die Einrichtung. Ballin war die Leitung entzogen. Er war nur noch als Berater tätig, was ihn nicht auslastete. Seine Abneigung gegen staatlich-bürokratische Institutionen stieg durch diese Erfahrung. Wäre die Hapag auch nur kurze Zeit so wie das Reich geführt worden, so wäre sie Bankrott gegangen, stöhnte er. Sein Zorn auf Minister und Generäle stieg, je klarer ihm wurde, wie unvorbereitet sie in den Krieg gegangen waren.
Ballin befasste sich mit Projekten, die vorerst Ideen bleiben mussten. Er knüpfte Kontakte zu den Zeppelinwerken und erkannte, das dem Flugzeugbau die Zukunft gehörte. Eine Erweiterung der Reederei auf die Luftschifffahrt schien im dringend geboten. Die Hapag profitierte später von diesen Projekten und Verbindungen.
Im Ruhrindustriellen Hugo Stinnes sah Ballin einen Mann, der die Karre aus dem Dreck ziehen könne. Es schien ihm am besten, sich mit Stinnes zu verbünden, der sich bereits eine kleine Flotte zusammen gestellt hatte. Zusammen erwarben die zwei Unternehmer die Woermann- und die Ost-Afrika-Linie. Doch Ballin fand in Stinnes seinen Meister und berief ihn in den Aufsichtsrat der Hapag. Doch Stinnes dachte nicht daran, seine Schiffe in eine gemeinsame Betriebsgesellschaft mit der Hapag einzubinden.
In Rumänien und Georgien erhoffte sich Ballin in Zusammenarbeit mit Stinnes Anteile an der Ölproduktion zu sichern. Die Luftfahrt wollte er zusammen mit dem Ruhrindustriellen beeinflussen. Ballin war klug genug, keine aussichtslosen Kämpfe anzufangen, und er sah in Stinnes seinen Erben. Nach dem Krieg wollte das nicht allen in der Hapag einleuchten.
Der schwatzhafte Ballin scheiterte auch politisch, trotz seinem bei Kriegsausbruch in Berlin errichteten Büro der Hapag. Im „Kaiserhof“, danach in dem für ihn erworbenen Haus am Tiergarten bewirtete er jeden Samstag Minister, Staattssekretäre, Offiziere, Bankiers, Industrielle und Journalisten. Die Hamburger Honoratioren lud er zu Pfordte ins Hotel Atlantic ein.
Ballin gehörte zu jener Gruppe von „Anglophilen“, die Frieden mit den USA und eine Verständigung mit England wollten. Doch seine sprunghaften Launen schwächten die Partei der Besonnen, die einen „Verständigungsfrieden“ suchten. Über seinen Freund Harden versuchte Ballin, diese Gruppe zu stärken, doch Harden gelang es nie, sich in den Vorzimmern der Mächtigen Gehör zu verschaffen. Ballin wurde während des Krieges nur noch selten zum Kaiser vorgelassen. Er setzte keine Hoffnung mehr in ihn.
Am 5. September 1918 trafen sie sich auf Schloss Wilhelmshöhe zum letzten Mal. Auf Bitten einiger Industrieller wie Stinnes reiste Ballin dorthin, um den Kaiser davon zu überzeugen, dass innere Reformen, der Übergang zum Parlamentarismus und ein Waffenstillstand über Wilsons Vermittlung der einzige Weg zu einem glimpflichen Frieden seien. Einige Tage zuvor war er von Harden auf das Gespräch vorbereitet worden. Ballin besass allerdings nicht den Mut, dem Kaiser den unvermeidlichen Verzicht auf die Krone nahezulegen. Den Kronprinzen hielt er zur Nachfolge ungeeignet. Ende Oktober schloss er sich jenen an, die den Kaiser als Hindernis auf dem Weg zum Frieden aus dem Weg räumen wollten. Als der Kaiser am 1. November den Schritt immer noch nicht vollzogen hatte, packte ihn die Ungeduld. Mitleid hatte er nicht.
Als Ballin erkannte, dass er sich auch im amerikanischen Präsidenten Wilson getäuscht hatte und er für das von ihm aufgebaute Flotten-Imperium keine Zukunft mehr sah, nahm er sich mit einer Überdosis Beruhigungsmitteln das Leben. Er verstarb am 9. November 1918, am Tag, an dem der Reichskanzler Max Prinz von Baden eigenmächtig den Rücktritt des Kaisers verkündete und Wilhelm II. ins niederländische Exil aufbrach.
Ballins Frau hätte durch den Selbstmord ihres Gatten den Anspruch auf die Lebensversicherung verloren. Deshalb verschleierten nicht zuletzt die Direktoren der Hapag die Umstände seines Todes. Der Generaldirektor nahm wohl bereits am 8. November die tödlichen Medikamente und entschlief am darauffolgenden Tag in der Wünscheschen Klinik am Mittelweg. Er wurde am 13. November im Beisein mehrerer hundert Menschen beerdigt.
Quellen für diesen Artikel und Literatur zu Albert Ballin
– Eberhard Straub: Albert Ballin. Der Reeder des Kaisers. Siedler Verlag, 2001, 271 S. Mit Hinweisen auf weiterführende Literatur im Anhang. Bestellen bei Amazon.de. Der habilitierte Historiker Eberhard Straub war bis 1986 Feuilletonredaktor der FAZ und bis 1997 Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Im Siedler Verlag sind von ihm bereits Die Wittelsbacher (1994) und Drei letzte Kaiser (1998) erschienen. Seine Ballin-Biographie ist kein wissenschaftliches, sondern ein leicht lesbares Werk für den „Durchschnittsleser“ und bildet die Quelle für den nebenstehenden Artikel.
– Das Archiv der Hapag lagert heute im Hamburger Staatsarchiv. Es enthält u.a. die umfangreichen Berichte von Arndt von Holtzendorff aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, die Erinnerungen von Johannes Merck an seine Zeit mit Ballin und die Tagebuchnotizen von Johann Burchard.