Rezension des Buches von Richard C. Schneider
Der ARD-Studioleiter und Chefkorrespondent in Tel Aviv von 2006 bis 2015, Richard C. Schneider, leistet mit seinem im Januar 2018 in Tel Aviv fertiggestellten und im März 2018 veröffentlichten Buch Alltag im Ausnahmezustand. Mein Blick auf Israel einen leicht lesbaren und dennoch substantiellen Beitrag zum Verständnis von Israelis (und Palästinensern).
Richard C. Schneider ist der Sohn von jüdischen Holocaust-Überlebenden. Vater und Mutter wurden aus den Lagern befreit, während dem die Grosseltern und viele weitere Verwandte in den Gaskammern und Krematorien von Auschwitz starben. Doch die düstere Familiengeschichte trübt den Blick des Autors auf Israel nicht, sondern schärft diesen im Gegenteil.
Der Autor wehrt sich ausdrücklich und zurecht gegen die Idee, eine Jude könne nicht objektiv über Israel berichten. Er widmet dem Thema zurecht einige Seiten. Die Frage stellt sich allerdings, was los wäre, wenn die ARD einen muslimischen Palästinenser als Korrespondenten nach Israel senden würde, der kritisch über das Land berichtete?
Laut Richard C. Schneider leben viele Juden in Israel mit der ständigen Angst vor einem zweiten Holocaust, auch wenn Israel heute wirtschaftlich und militärisch noch nie so stark war. Das nütze Premierminister Netanyahu natürlich aus und schüre die Angst: Alle sind gegen uns.
Doch das war nicht immer so. Laut dem Autor hat Israel in den ersten Jahren den Palästinensern Wohlstand und Fortschritt gebracht. Israelis seien mit Begeisterung in die besetzten Gebiete gefahren, um in den palästinensischen Städten einzukaufen oder dort zum Essen zu gehen. Beide Seiten hätten davon profitiert. Richard C. Schneider erwähnt, er selbst sei bis in die 1980er Jahre hinein mit Freunden von Jerusalem aus nach Hebron zum Kaffee trinken bzw. nach Gaza oder Nuëba zu wunderbaren Fischrestaurants gefahren.
Von der parallel dazu anlaufenden Siedlungspolitik, von Terroranschlägen und Flugzeugentführungen der 1970er Jahre habe man sich nicht abhalten lassen. Die ersten Siedlungen seien von den meisten Israelis als nettes, harmloses Unternehmen einiger religiöser Eiferer gesehen worden. Neben religiös-messianischen Gründen seien die Siedlungen zudem der Versuch des Entwurfs eines politisch-ideologischen Gegenmodells zum sozialistischen Zionismus gewesen, der immerhin die Staatsgründung durchgesetzt, jedoch mit dem katastrophalen Yom-Kippur-Krieg 1973 mental und ideologisch abgedankt habe.
Neben den zwei Traumata, Shoah und die Kriege Israels, widmet sich der Autor dem politischen und wirtschaftlichen Aufstieg Israels, der zur Arroganz und Überheblichkeit geführt habe. Innerhalb der israelischen Gesellschaft sieht er Trennungslinien, zum Beispiel zwischen Aschkenasim und Sephardim, dem säkularen Tel Aviv und dem orthodoxen Jerusalem. Er beschreibt, wie sein nicht-koscheres Stammlokal in Jerusalem plötzlich umstellte auf Kost für Ultraorthodoxe, weil das ganze Viertel orthodox wurde. Tel Aviv beschreibt Richard C. Schneider als erste «hebräische» Stadt, die 1909 von einigen Familien gegründet worden sei und in der die zionistische Idee ihre «wahrste Erfüllung finden» sollte. Tel Aviv sei die Abkehr vom Erbe der Väter, ein radikaler Bruch mit der Kultur des Judentums, wie sie Jahrtausende gepflegt worden sei. Tel Aviv sei jüdisches Leben ausserhalb des Religionsgesetze, in dem das Theater die Synagoge als Versammlungsort ersetzt habe. Anders als in Jerusalem gibt es in Tel Aviv allerdings fast keine Palästinenser.
Zu Premier Netanyahu schreibt Richard C. Schneider, er sei ein «hybrides» Geschöpf, gänzlich säkular, dem Religion herzlich egal sei. Er sei ein materialistischer Genussmensch, weswegen (Bestechung und Korruption) die Polizei gegen ihn ermittle. Inzwischen ist die Justiz ja schon einen Schritt weiter. Der Autor bemerkt, Netanyahu paktiere mit den Siedler und der Ultraorthodoxie. Er beschreibt, wie alles in Israel noch weiter in Richtung fundamentalistischer Lebensführung gehe.
Dabei gehe es Netanyahu nur um die Erhaltung der Macht. Der säkulare, aschkenasische Premier, der mit seiner erstklassigen Ausbildung und Herkunft zur Elite Israels gehöre, sei dami zum Kollaborateur der religiös-reaktionären Kräfte geworden. Zugleich aber sei Netanyahu der Premier, der den Hightech Standort Israel immer weiter auszubauen versuche. Mit Erfolg, darf man hinzufügen. Und da sieht der Autor eine weitere Trennlinie: «Steinzeit» (Ultrareligiösen) gegen Start-up. Für die Siedler sei es keine spielerische Metapher oder Allegorie wenn sie vom Dritten Tempel sprächen. Sie wollten wörtlich das «Dritte Haus» dort aufbauen, wo heute Felsendom und Al-Aqsa-Moschee stünden. Ihr Vorbild sei der «jüdische Untergrund» der 1980er Jahre um Yehuda Etzion, der mit seinen Gefolgsleuten damals versuchte, die beiden muslimischen Heiligtümer in die Luft zu jagen, um den «Endkrieg» zwischen Judentum und Islam zu provozieren, damit der Messias, die Erlösung und der Dritte Tempel kämen.
Im lesenswerten Buch Alltag im Ausnahmeszustand finden sich zudem noch eine Analyse des Systems Netanyahu, «alle sind gegen uns», «Iran, Iran, Iran», das Ende der Zwei-Staaten-Lösung, die unsichtbaren Palästinenser, die Frage, ob man die besetzten Gebiete zurückgeben könne, der ewige Antisemitismus oder die raison d’être Israels, Antizionismus und Israelkritik und der antisemitische Kontinent Europa.
Richard C. Schneider hat sein Manuskript im Januar 2018 in Tel Aviv abgeschlossen. Heute müsste er noch ein trauriges Kapitel zum Nationalstaatsgesetz vom Juli 2018 hinzufügen, das den jüdischen Charakter Israels festschreibt, Israel als die «nationale Heimstätte des jüdischen Volkes» definiert, das Hebräisch zur alleinigen Nationalsprache erklärt, während dem die bisher ebenfalls offizielle Sprache Arabisch nur noch einen nicht näher definierten Sonderstatus erhielt. Muslime und Christen, Arabischsprachige und säkulare Juden sind davon nicht begeistert.
Richard C. Schneider: Alltag im Ausnahmezustand. Mein Blick auf Israel, DVA, März 2018, 294 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.
Artikel vom 8. April 2019. Hinzugefügt um 15:36 Berliner Zeit.