Wer sich über die Geschichte der Ukraine informieren will, sollte zur 4., überarbeiteten und aktualisierten Auflage des Buches Kleine Geschichte der Ukraine (Amazon.de) von Andreas Kappeler greifen. Er hat sein Manuskript Anfang September 2014 abgeschlossen. Die Seiten 334 bis 382 widmet er dem Thema „Der Euro-Majdan, die Einmischung Russlands und die Destabilisierung der Ukraine“. Es ist also aktuell und reicht vom 13. Jahrhundert bis in die Gegenwart.
Als die erste Auflage seines Werkes 1994 erschien, war es die erste Gesamtdarstellung in deutscher Sprache aus der Feder eines Nicht-Ukrainers der Geschichte der Ukraine in 200 Jahren. Johann Christian von Engel (1770-1814) hatte am Ende des 18. Jahrhunderts die erste wissenschaftliche Geschichte der Ukraine und der Cossaken verfasst. Seither hat das Thema im deutschsprachigen Raum nicht mehr viel Aufmerksamkeit erhalten.
Andreas Kappeler erinnert daran, dass nach dem Scheitern des Moskauer Putsches vom 24. August 1991 das ukrainische Parlament die Unabhängigkeit der Ukraine erklärte. Am 1. Dezember 1991 stimmten 90% der Ukrainer in einer Volksabstimmung für die Unabhängigkeit ihres Landes, das hinter der Russischen Föderation nach Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft hinter der Russischen Föderation die wichtigste Republik der Sowjetunion war, was dieser den Todesstoss versetzte.
Die Ukraine hat mit rund 45 Millionen etwa gleich viele Einwohner wie Spanien. Hinter Russland ist sie der territorial zweitgrösste Staat Europas. Der Westen war auf das Auftreten dieses neuen Akteurs laut dem Autor nicht vorbereitet. Die Ukrainer wurden in der Regel als regionale Sondergruppe der Russen betrachtet und waren im öffentlichen Bewusstsein, in Medien, Politik und Wissenschaft kaum präsent. Die Ukrainer galten bis vor kurzem weitgehend als Russen, ihre Sprache wurde als russischer Dialekt betrachtet.
Das Buch Kleine Geschichte der Ukraine (Amazon.de) zeigt die wechsel- und oft leidvolle Geschichte der Ukrainer, deren Eliten ab dem 16. Jahrhundert polonisiert, ab dem 18. Jahrhundert russifiziert wurden. Polen und Russen betrachteten die Ukrainer weitgehend als Bestandteil ihrer Nation. Sie anerkannten sie nicht als eigenständige Nation. Das gilt für viele Russen bis heute. Andreas Kappeler verweist hier auf Äusserungen von Persönlichkeiten wie Solschenizyn, Gorbatschow und Luschkow.
Die heutige Ukraine hingegen beruft sich in ihrer Unabhängigkeitserklärung von 1991 auf eine tausendjährige staatliche Tradition, die laut dieser Sicht mit dem Kiever Reich des 10. bis 13. Jahrhunderts über das Fürstentum Galizien-Wolhynien des 13. und 14. Jahrhunderts, das teilweise ukrainisch interpretierte Grossfürstentum Litauen des 14. bis 16. Jahrhunderts und das Hetmanat der Dnjepr-Kosaken im 17. Jahrhundert bis zum kurzlebigen Hetmanat von 1918 und zur Ukrainischen Volksrepublik der Jahre 1918 bis 1920 dauert.
Andreas Kappeler verzichtet auf ein weiteres Zurückgehen in die Vergangenheit. Man könnte das Territorium von der Urgeschichte über die griechisch-römischen Kolonien bis zu den Steppenkulturen der Skythen und den Tataren beleuchten.
Der Autor schreibt klipp und klar, das die tausendjährige staatliche Tradition der Ukraine ein Mythos ist, da die Ukraine über lange Perioden Bestandteil fremder Staaten wie Litauen, Polen, Russland, des Habsburger Reiches und der Sowjetunion war. Andere ethnische Gruppen wie Russen, Polen und Juden werden aus der heutigen ukrainischen Historiographie oft weitgehend ausgeblendet.
Die Kriterien, welche die Ukraine ausmachen, sind laut dem Autor diffus. Dies gilt nicht nur für das staatliche und ethnische, sondern auch das geographische Kriterium, da es keinen klar abgegrenzten Naturraum Ukraine gibt. Die kleine Geschichte der Ukraine von Andreas Kappeler hält sich deshalb an den Raum, in dem die Ukrainer als Bevölkerungsmehrheit lebten, wobei er die Nicht-Ukrainer ebenfalls mitbehandelt, jedoch auf die Untersuchung der nach Russland und Sibirien, Nordamerika und Westeuropa ausgewanderten Ukrainer verzichtet.
Die russifizierte Elite der Ukraine bewahrte sich insbesondere im Reich der Zaren ein eigenständiges historisches Bewusstsein. Andreas Kappeler verweist insbesondere auf herausragende Vertreter der ukrainischen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert wie die Historiker Nikolaj Kostomarov und Volodymyr Antonovyc. Zu den in den 1930er Jahren verstorbenen Persönlichkeiten der ukrainischen Nationalbewegung zählt der Autor Mychajlo Hrusevskyi mit seiner zehnbändigen Geschichte der Ukraine sowie Vjaceslav Lypynskyij, der sträker die Rolle des ukrainischen Adels und der staatsbildenden Prozesse betonte.
Der zweite Weltkrieg trieb eine Welle von ukrainischen Emigranten nach Deutschland und danach in die USA und nach Kanada, wo sie bedeutende Forschungszentren gründeten. Laut Andreas Kappeler ist die ukrainische Historiographie ausserhalb der Ukraine in Nordamerika quantitativ und qualitativ führend, während dem in Sowjetrussland die „Wiedervereinigung“ von Ukraine und Russland gefeiert wurde, so 1954 beim dreihundertjährigen Jubiläum des Anschlusses der Ukraine an Russland. Den Historikern waren in der Sowjetunion enge Grenzen bezüglich der Ukraine gesetzt, worunter das Niveau der Historiographie litt.
Mit seiner Kleinen Geschichte der Ukraine will Andreas Kappeler der seiner Meinung nach „vorherrschenden russozentrischen Optik, die die Ukraine (wenn überhaupt) nur als Randgebiet Russlands zur Kenntnis nimmt, eine ukrainische Perspektive entgegensetzen“. Dabei sieht er sich von der seit durch Mychajlo Hrusevskyi entwickelten nationalukrainischen Historiographie beeinflusst, ohne deren grundlegende Arbeiten sein Buch nicht hätte geschrieben werden können. Doch der Autor übernimmt nicht vorbehaltlos deren Sicht, sondern beleuchtet diese kritisch, wie er selbst anmerkt. Dabei berücksichtigt er die Interpretationen der polnischen, russischen und jüdischen Historiographie.
Das Buch von Andreas Kappeler ist im deutschsprachigen Raum der Einstieg zur Geschichte der Ukraine. Wer die heutigen Ereignisse besser verstehen will, kommt an dieser Lektüre nicht vorbei.
Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine. 4., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Taschenbuch, Verlag C. H. Beck, Oktober 2014, 427 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de. Weitere Bücher von Andreas Kappeler bei Amazon.de.
Rezension vom 10. Januar 2015 um 17:57 CET. Buchkritik hinzugefügt zu unseren Seiten im neuen Design am 18. April 2022 um 14:55 deutscher Zeit.