Barbara Klemm: Die Öffnung des Brandenburger Tors

Jul 04, 2024 at 21:26 228

„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“. Daher hat der Schirmer/Mosel-Verlag die Buchreihe Ein Bild und seine Geschichte ins Leben gerufen. Der erste Band der Reihe widmet sich dem Foto Die Öffnung des Brandenburger Tors am 22. Dezember 1989 von Barbara Klemm. Die Fotografie wird vom Historiker Ulrich Raulff kommentiert. Er beschreibt die einmalige Situation, in der es entstanden ist.

Ulrich Raulff: BARBARA KLEMM. Die Öffnung des Brandenburger Tors am 22. Dezember 1989, Verlag Schirmer/Mosel, 2024, 48 Seiten mit 7 Abbildungen. Das Buch bestellen (Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei gleichem Preis) bei Amazon.de.

Im Buch Die Öffnung des Brandenburger Tors am 22. Dezember 1989 finden sich noch einige weitere Fotos von Barbara Klemm aus jener Zeit. So von Willy Brandt, Dietrich Stobbe und Walter Momper an der Mauer in Berlin am 10. November 1989 sowie von Bundeskanzler Helmut Kohls erster Rede in der DDR (in Dresden am 19. Dezember 1989) nach dem Fall der Mauer, der in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 stattfand.

Der Historiker Ulrich Raulff (*1950) schreibt in seinem Essay, dass die Zeitungsfotografin Barbara Klemm dem Typus der (Zeit-) Zeugin nahe stehe. Ihre berühmtesten Bilder wie Brandt und Breschnew im Gespräch muteten wie Bühnenbilder an. Die Fotografin versichere jedoch, sie habe ihre Bilder niemals inszeniert. Ulrich Raulff meint, dass sich Politiker gerne als dramatische Helden und Diven geben. Denn die Politik liebe es, sich als Stück auf dem Welttheater zu präsentieren. Dafür brauche sie die Zuschauer und die Zeugen, die Kameras und die Medien. Vorsorglich hat die Politik ihnen den Zuschauersaal eingerichtet und den Ort angewiesen, von dem aus sie Zeugnis geben sollen. Aber die Fotografin wolle davon nichts wissen, verschmähe den Zuschauersaal, verweigere den präparierten Zeugenstand.

Laut Ulrich Raulff bringt Fotografie eigene Wahrheitskriterien ins Spiel. Neben dem Ereignis selbst müsse sie das Flüchtige des Augenblicks, das Ungestellte und Ungesicherte vermitteln. Ungesagt am Rand des Abgebildeten müsse der drohende Absturz spürbar bleiben.

Was die Fotografin Barbara Klemm sich angeeignet und zum Teil ihres Habitus gemacht habe, entstamme der Praxis. Die Strasse sei ihre Lehrmeisterin gewesen. Wer stehenbleibe, wer nachdenke, habe verloren.

Am Abend des 9. November 1989 öffnet sich die Berliner Mauer, ausgelöst durch ein Missverständnis, einen Hörfehler mit Folgen. Am nächsten Morgen ist Barbara Klemm in Berlin. Die Nachrichtenlage sagt, Willy Brandt werde zur Mauer kommen. Die Fotografin weiss, was sie will: Brandt vor der geöffneten Mauer.

Barbara Klemm ist hoch oben auf der Mauer. Sie fotografiert WillyBrandt und seine Begleiter in der Aufsicht. Sie macht ein Foto der Menge, die sich um einen Kreis in ihrer Mitte öffnet.

Ulrich Raulff  schreibt, dass Barbara Klemm das Fest und seine Akteure fotografiert, allen voran seine historische Hauptperson, die Mauer. Aber ihr stärkstes Bild zeigt diese gar nicht. Es zeigt drei Menschen, die sich auf sie zu bewegen. Die Präsenz der Mauer sei grösser als ihre Sichtbarkeit. Barbara Klemms Bild von Brandt am 10. November 1989 beweise dies. Ihr Foto der abwesenden Mauer sei stärker als alle Bilder des zivil erstürmten, von Feiernden eroberten Monuments.

Am 22. Dezember 1989 schaltete Barbara Klemm den Gedanken aus, wieder Teil der Meute zu sein, unterdrückte den Widerstand gegen die Inszenierung. Ihre Fotos zeigen die angetretenen Akteure, den Regen und die spiegelnde Nässe, im Hintergrund die grauen Massen des Tors. Ihre Arbeit ist getan. Doch dann umrundet die Fotografin das Brandenburger Tor, gelangt auf dessen dunkle, ruhige Westseite, legt ein Stück Weg zurück, Richtung Tiergarten, Charlottenburg. Hält plötzlich ein, bleibt stehen, dreht sich um. Sie sieht das Bild. Sie weiss, das ist das Foto, das sonst niemand hat. Das Bild von der Rückseite des Geschehens. Von der dunklen Seite der Nacht. Aufgenommen aus dem Rücken von Zeugen, die auf ein Ereignis blicken, das die Fotografie nicht zeigt. Ulrich Raulff unterstreicht: Was sie zeigt, ist nicht Teil des Ereignisses und gehört doch als seine Kehrseite dazu.

Die ist noch mehr ist zu sehen und zu lesen im Buch von Ulrich Raulff: BARBARA KLEMM. Die Öffnung des Brandenburger Tors am 22. Dezember 1989, Verlag Schirmer/Mosel, 2024, 48 Seiten mit 7 Abbildungen. ISBN 978-3-8296-0979-1. Das Buch bestellen (Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei gleichem Preis) bei Amazon.de.

Die deutsche Fotografin Barbara Klemm wurde 1939 im westfalischen Münster geboren. Sie trat nach einer Ausbildung in einem Portraitatelier in Karlsruhe ab 1959 eine Stelle als Fotolaborantin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an. Sie belieferte die Redaktion bald mit eigenen Bildern, zunächst in freier Mitarbeit, ab 1970 bis Ende 2005 als festangestellte Redaktionsfotografin für Politik und Feuilleton. Zahlreiche Ausstellungen wurden Barbara Klemms fotografischer Arbeit bereits gewidmet. Dazu gehörte 1999 eine Schau im Deutschen Historischen Museum in Berlin, und 2013 feierte eine Retrospektive im Martin-Gropius-Bau in Berlin ihr Werk. Barbara Klemm wurde für ihre Arbeiten unter anderem mit dem Dr.-Erich-Salomon-Preis für Fotografie, dem Hessischen Kulturpreis und dem Max-Beckmann-Preis der Stadt Frankfurt am Main ausgezeichnet. 2010 wurde sie in den Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste aufgenommen. Barbara Klemm lebt in Frankfurt am Main.

Zitate und Teilzitate in dieser Buchkritik / Rezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Rezension / Buchkritik hinzugefügt am 4. Juli 2024 um 21:26 deutscher Zeit.