Alfons Kaiser hat mit Karl Lagerfeld. Ein Deutscher in Paris eine 383-seitige Biografie des bedeutendsten deutschen Modemachers verfasst. Das Buch (Amazon.de) beginnt mit der Vorgeschichte zu Vater und Mutter.
Der Vater Otto Lagerfeld
Otto Lagerfeld junior, eines von elf Kindern, wurde ein Kaufmann wie sein Vater. Dabei hatte er einige Abenteuer zu bestehen, so im Auslandeinsatz in Venezuela und Kolumbien. Er setzte sich dem Gelbfieber aus. Zudem führte die Revolution im Nachbarland Kolumbien zu Unruhen. In Maracaibo geriet der 21jährige Kaufmann in Sachen Kaffeebohnen in Kriegsgefangenschaft. Da sich keine Aufstiegschancen boten, zog er nach wenigen Jahren in die USA, wo bereits zwei seiner Brüder arbeiteten. Er kam zwei Tage nach dem grossen Erdbeben von 1906, das mehr als 3000 Menschenleben kostete, in San Francisco an. In Kent bei Seattle im Bundesstaat Washington arbeitete für die noch junge Carnation Evaporated Milk Company, die für ihr expandierendes Dosenmilch-Geschäft einen ehrgeizigen Handelsreisenden gut gebrauchen konnte.
1907 landete er über Japan, Manila und Hongkong in Wladiwostok, wo er eine Vertretung für Dosenmilch aufbaute. Kondensmilch war damals ein relativ neues Produkt, das sich vor allem für Gegenden eignete, in denen es an Frischmilch fehlte.
Alfons Kaiser beschreibt, wie Otto Lagerfeld mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Deutscher in Russland in Kriegsgefangenschaft geriet. Er landete in der Verbannung in Wechojansk in Jakutien. Es war ein Gefängnis ohne Gitter. In den Wirren der Revolution gelang ihm 1918 über Sankt Petersburg die Rückkehr nach Hamburg, wo er im folgenden Jahr eine Firma mit Carnation-Dosenmilch gründete. 1923 gründete Otto Lagerfeld eine eigene Marke unter dem Namen Glücksklee. Laut unserem Autor konnte Karl am Beispiel seines Vater sehen, wie man eine Marke aufbaut. Allerdings war Glücksklee bereits 10 Jahre alt, als er auf die Welt kam (Karl Lagerfeld: 1933-2019). Wie auch immer, der Sohn war stolz auf den Vater und trug noch in den 1970er Jahren ein Glücksklee-Blatt am Revers.
Die Lagerfelds und die Nazis
Karl Lagerfelds Mutter begrüsste zu Beginn die Nazis. Später jedoch war sie von ihnen enttäuscht. Der Vater soll eventuell Nazi-Organisationen vor allem aus berufllichen, nicht ideologischen, weltanschaulichen Gründen beigetreten sein. Die Entnazifizierungskommission nahm ihm nach dem Krieg ab, dass er der Partei aus Opportunismus beitrat, was er bereits im Mai 1933 getan hatte. Später wollte Karl nichts mehr davon wissen. Die Anekdote, die Karl Lagerfeld über ein Schlagabtausch eines Lehrers mit seiner Mutter führte, kann allerdings durchaus wahr sein. Der Lehrer sagte: «Könnten Sie Ihrem Sohn nicht mal sagen, er soll sich die Haare abschneiden?» Da packte sie den Schlips des Lehrers, schleuderte ihn hoch in sein Gesicht und fragte: «Wieso? Sind Sie noch Nazi?»
Karl Lagerfeld selbst behauptete, er sei 1938 und nicht 1933 geboren worden, was ihm bei seiner Modekarriere half (Wunderkind) und ihn bei den Franzosen unverdächtig machte, ein Nazi gewesen zu sein, so zumindest die Argumentation einiger, Alfons Kaiser inklusiv. Allerdings wäre auch ein im Jahr 1945 erst Zwölfjähriger wohl kaum von den Franzosen als Nazi verurteilt worden. Auf einem in dieser Biografie (Amazon.de) abgedruckten privaten Foto aus dem Jahr 1938 ist vor dem Haus der Lagerfelds in Bissenmoor eine hohe Fahnenstange mit aufgezogener Hakenkreuzflagge zu sehen. Im Vordergrund mit dem Rücken zur Kamera: der kleine Karl. Die Nazi-Vergangenheit seiner Eltern erwähnte der Modemacher nie. War er zu klein und konnte sich nicht daran erinnern? Hat er es verdrängt? Hat er im Angedenken an seine Eltern einfach gelogen? In jedem Fall profitierte Karl von der «Gnade der späten Geburt». Allerdings behauptete er noch 1990 im französischen Fernsehen, sein Vater sei Schwede.
Der Aufstieg zum bedeutendsten Modemacher der Welt
Alfons Kaiser schreibt, schon Lagerfelds erster Schritt in die grosse Mode habe mühelos gewirkt. 1954 war das Internationale Wollsekretariat (IWS), eine Marketing-Organisation vor allem australischer Schafzüchter, sehr wichtig für Modeschüler und Modejünger in Paris. In Zeiten aufkommender Synthetikfasern warb das IWS für Schurwolle und veranstaltete den «Concours du Dessin de Mode»: Junge Designer sollten Modeskizzen einreichen, die Siegerentwürfe würden von etablierten Marken hergestellt, und es winkte eine Stelle als Assistent. Karl Lagerfeld gewann den ersten Preis für den Entwurf eines Mantels. Der erst 18jährige Yves Saint Laurent, der bereits im Vorjahr einen dritten Platz errungen hatte, bekam den Preis für das schönste Kleid – und wurde Christian Diors Assistent. Mit Colette Bracchi, der Gewinnerin in der Kategorie Kostüm, gehörte noch eine Dame zu den Siegern. Sie kommt danach allerdings in dieser Biografie nicht mehr vor. Yves Saint Laurent hingegen wurde ein (jahrelanger) guter Freund, ehe sich die zwei Modemacher in den 1970er Jahren zerstritten. Der Grund hiess Jacques de Bascher, der 1989 an Aids verstarb. Die letzten vier Nächte schlief Lagerfeld im Spital neben dem Kranken auf einem Feldbett.
Vor Jacques de Bascher soll es zwischen Karl und Yves keinen Neid gegeben haben. Der Algerienfranzose Yves Saint-Laurent war wie Karl ein Aussenseiter in Paris und stammte ebenfalls aus einem gut betuchten Haus. Sie waren verwandte Seelen. Allerdings machte der Mann aus Nordafrika rascher Karriere und war lange bedeutender. Selbst noch in den 1970er Jahren, als Karl für Chloé arbeitete, stand Lagerfeld nur an zweiter Stelle der Gunst der Modewelt.
Zurück zum IWS-Wettbewerb von 1954: Karl Lagerfeld war im Balmain-Studio gewesen, das seinen Mantel für den Abend der Preisverleihung herstellte. Pierre Balmain bot ihm dort gleich eine Assistentenstelle an. Lagerfeld erzählte später, er habe auch ein Angebot von Cristóbal Balenciaga bekommen, doch Pierre Balmain war jünger und just 1954 in aller Munde, weil er für Audrey Hepburns Hochzeit mit Mel Ferrer das weit ausgestellte Brautkleid mit Wespentaille entworfen hatte. Bei Balmain lernte Lagerfeld die Grundlagen des Metiers.
Dies sind nur einige wenige der von Alfons Kaiser zusammengetragenen Informationen. Wer mehr über Karl wissen möchte, muss die Biografie von Alfons Kaiser lesen. Nur noch soviel: Lagerfeld war ein strenger Chef.
Alfons Kaiser: Karl Lagerfeld. Ein Deutscher in Paris. C.H. Beck, Oktober 2020, 383 Seiten. Die Biografie bestellen bei Amazon.de.
Alfons Kaiser: Karl Lagerfeld. Ein Deutscher in Paris. C.H. Beck, Oktober 2020, 383 Seiten. Die Biografie bestellen bei Amazon.de.
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Rezension / Buchkritik vom 15. Dezember 2020 um 20:43 deutscher Zeit.