Brücke und Blauer Reiter

Feb 03, 2022 at 13:45 869

Der Expressionismus der Exponenten der beiden Künstlervereinigungen Brücke und Blauer Reiter fasziniert bis heute. Vom 21. November 2021 bis am 27. Februar 2022 zeigt das Von der Heydt-Museum Wuppertal in Zusammenarbeit mit den Kunstsammlungen Chemnitz sowie dem Buchheim Museum der Phantasie in Bernried am Starnberger See Werke der Klassischen Moderne aus den entscheidenden Jahren zwischen 1905 und 1914 von Ernst Ludwig Kirchner, Karl Schmidt-Rottluff, Erich Heckel, Max Pechstein, Emil Nolde und Otto Mueller für die Brücke sowie von Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, Franz Marc, August Macke, Alexej von Jawlensky, Marianne von Werefkin und Paul Klee für den Blauen Reiter.

Die Ausstellung wird danach vom 27. März bis am 26. Juni 2022 in den Kunstsammlungen Chemnitz sowie vom 16. Juli bis am 13. November 2022 im Buchheim Museum der Phantasie in Bernried am Starnberger See zu sehen sein.

In den Katalog-Essays wird das Erbe des Expressionismus unter Einbeziehung der aktuellen Fragen von Gender Studies, Postkolonialismus- und NS-Forschung von den Autor*innen Frédéric Bussmann, Sibylle Discher, Sandra Duhem, Isgard Kracht, Roland Mönig, Daniel J. Schreiber, Franka Schumann, Anna Storm, Frank Ugiomoh diskutiert. Sie analysieren dabei Schlüsselwerke der Klassischen Moderne, die in den Ausstellungen gezeigt werden.

Die Herausgeber erinnern in ihrem Vorwort daran, wie die Expressionisten nach Erfolgen in der Weimarer Republik von den Nazis verfemt und verfolgt wurde. In der unmittelbaren Nachkriegszeit erwachte dann wieder eine positive Aufmerksamkeit für diese Vertreter der Klassischen Moderne. Dabei wurde die teilweise ambivalente Rolle einiger – so von Nolde – im Nationalsozialismus gerne verschwiegen und erst in jüngerer Zeit wieder ans Licht gebracht.

Laut den Herausgebern vollzog die deutsche Nachkriegsgesellschaft – die westdeutsche jedenfalls – Anhand der Expressionisten gleichsam stellvertretend einen Akt der Wiedergutmachung gegenüber der in Hitlers Drittem Reich verspotteten Kunst der Moderne. Bei der nun eintretenden kunsthistorischen Kanonisierung wurden manch andere Künstler übersehen, die nicht ins Raster passten. Die Schlüsselfiguren von Brücke und Blauer Reiter jedoch wurden als Exponenten einer klassisch gewordenen Moderne wiederentdeckt. Die von den Nazis geschlagenen Lücken der kulturellen Erinnerung wurden durch Ausstellungen und Publikationen wieder geschlossen. Zugleich wurden die Expressionisten zu Kronzeugen des westdeutschen Aufbruchs in Freiheit und Demokratie in Abgrenzung vom Ostblock, insbesondere der DDR, und für die Westanbindung vereinnahmt. Im Vorwort wird zudem unterstrichen, dass die DDR wiederum ihre eigene Lesart der Epoche – und der expressionistischen Kunst – entwickelte, auf bemerkenswerte Weise oszillierend zwischen künstlerischer Adaption und ideologischer Ablehnung.

Laut den Autoren gab es allerdings nur eine einzige bedeutende Ausstellung, die den Dialog zwischen Brücke und Blauem Reiter zum Gegenstand machte: 1996 organisierte das Museum am Ostwall in Dortmund die Schau Von der Brücke zum Blauen Reiter. Farbe, Form und Ausdruck in der deutschen Kunst von 1905 bis 1914.

Seitdem hat sich laut den Herausgebern das Verständnis jener Epoche, unsere Auffassungen vom Werk der einzelnen Künstler*innen, unsere Kenntnisse von den Dynamiken innerhalb der beiden Künstlergruppen sowie zwischen ihnen tiefgreifend verändert. Paradigmenwechsel innerhalb der kunsthistorischen Forschung, die Aufarbeitung der NS-Zeit mit ihren Verstrickungen von Kunsthistorikern und Künstlern in das nationalsozialistische System, Gender Studies und postkoloniale Forschungen (siehe Kirchner und Nolde) haben dazu ebenso beigetragen wie der rasante gesellschaftliche und weltanschauliche Wandel der letzten Jahre.

Chemnitz ist die Heimatstadt und Herzregion der Brücke-Künstler, weshalb die dortigen Kunstsammlungen eine bedeutende Sammlung an Expressionisten aufgebaut haben. Die Herausgeber erinnern daran, dass Erich Heckel und Ernst Ludwig Kirchner dort Teile ihrer Kindheit und Jugend verbrachten, Karl Schmidt- Rottluff wurde im seinerzeit benachbarten, heute eingemeindeten Rottluff geboren. Viele Werke gingen im Rahmen der Nazi-Aktion »Entartete Kunst« und aufgrund des Krieges verloren und – nicht untypisches für ein DDR-Museum – konnten nach 1945 kaum zurückerworben werden. Durch Leihgaben, vereinzelte Ankäufe und Schenkungen seit den 1970er-Jahren und verstärkt nach 1990 konnte der Bestand an Brücke-Künstlern, inbesondere an Werken von Karl Schmidt-Rottluff, beträchtlich erweitert werden. Die 2007 in die Kunstsammlungen Chemnitz eingebrachte Sammlung des Münchner Galeristen Dr. Alfred Gunzenhauser brachte vor allem Werke des Blauen Reiters in die Stadt. Gabriele Münter und Alexej von Jawlensky werden in Chemnitz heute in grosser Breite präsentiert Zudem ist geplant, im Elternhaus samt der Mühle der Familie Schmidt in Rottluff ein Karl Schmidt-Rottluff und der Brücke gewidmetes Museum einzurichten.

Das Wuppertaler Von der Heydt-Museum widmet sich seit seiner Öffnung 1902 der avantgardistischen Kunst jener Zeit. Dies ist in erster Linie das Verdienst des Bankiers und Sammlers August Freiherr von der Heydt, seiner Familie und seinem gesellschaftlichen Umfeld. Schwere Verluste infolge von Nationalsozialismus und Kriegszerstörung konnten teilweise wieder ausgeglichen werden, nicht zuletzt durch die Schenkungen bzw. das Vermächtnis Eduard von der Heydts in den 1950er- und 1960er-Jahren, so unsere Aussstellungsmacher.

Das Buchheim Museum der Phantasie in Bernried am Starnberger See wurde 2001 dem Publikum übergeben. Es beherbergt die Sammlung des Künstlers, Schriftstellers und Verlegers Lothar-Günther Buchheim. Den Schwerpunkt bilden die Maler der Brücke. Hinzu kommen zudem Werke der Vertreter des Blauen Reiters sowie weitere Künstler*innen der deutschen und internationalen Moderne. Es ist das Verdienst Buchheims, in der Nachkriegszeit, als der figurative Expressionismus nicht mehr zeitgemäss erschien, diese bedeutsame Strömung gesammelt und in Büchern, die laut den Ausstellungsmachern noch heute als Standardwerke gelten, wieder bekannt gemacht zu haben.

Im Katalog (Amazon.de) führt Daniel J. Schreiber mit einem historischen Überblick über Gemeinsamkeiten und Gegensätze von Brücke und Blauem Reiter in das Thema ein. Roland Mönig erklärte Genese und Gehalt des Begriffs »Expressionismus«. Die Kunsthistorikerin und Provenienzforscherin Isgard Kracht beleuchtet die widersprüchliche Rezeption der Expressionisten im Nationalsozialismus. Frédéric Bussmann zeigt die Rezeptionsgeschichte des Expressionismus in BRD und DDR und untersucht die kunsthistorische Kanonbildung in der Nachkriegszeit. Frank Ugiomoh, Professor für Kunst, Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Universität von Port Harcourt in Nigeria, widmet sich dem Expressionismus im Zusammenhang mit Primitivismus und Kolonialismus. Er sieht Kunst als Chance zum interkulturellen Dialog. Die Rollenmodelle, die für Künstlerinnen im Expressionismus vorherrschten, beleuchtet die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Von der Heydt-Museums Anna Storm. Franka Schumann, Volontärin an den Kunstsammlungen Chemnitz, widmet sich den technischen und materialikonografischen Aspekten expressionistischer Kunst. Die Mainzer Kunsthistorikerin und Autorin Sibylle Discher untersucht die Rolle von Mäzenen und Sammlern für den Expressionismus. Sandra Duhem vom Frankreichzentrum der Universität des Saarlandes in Saarbrücken ordnet den Expressionismus in den Kontext der europäischen Moderne ein.

Laut den Herausgebern präsentiert der Band Brücke und Blauer Reiter neue Erkenntnisse und Forschungsansätze in kunstgeschichtlicher, kunsttheoretischer, sozialgeschichtlicher und stilgeschichtlicher Hinsicht, unter Berücksichtigung von Gender Studies, postkolonialistischen Ansätzen und mit hoher Transparenzbereitschaft bezüglich nationalsozialistischer Verstrickungen.

Der Katalog, herausgegeben von Frédéric Bußmann, Roland Mönig, Daniel J. Schreiber: Brücke und Blauer Reiter. Gebundene Ausgabe, Wienand Verlag, 2021, 304 Seiten. Autor*innen: Frédéric Bussmann, Sibylle Discher, Sandra Duhem, Isgard Kracht, Roland Mönig, Daniel J. Schreiber, Franka Schumann, Anna Storm, Frank Ugiomoh. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Zitate und Teilzitate in dieser Buchkritik / Rezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Rezension / Buchkritik vom 3. Februar 2022 um 13:45 deutscher Zeit.