Der italienische Ausnahmedirigent Claudio Abbado (*26. Juni 1933 in Mailand; †20. Januar 2014 in Bologna) würde heute 90 Jahre alt. Daher hier eine Buchkritik zu Wolfgang Schreiber: Claudio Abbado. Der stille Revolutionär. Eine Biographie. Sie erschien bereits 2019 bei C.H. Beck. Hardcover bei Amazon.de bestellen; das Kindle eBook bei Amazon.de runterladen.
Das Leben des jungen Abbado haben wir bereits hier nachgezeichnet. Daher geht es in dieser Rezension um einige grundsätzliche Anmerkungen von Wolfgang Schreiber sowie zur späteren Karriere des Dirigenten.
Claudio Abbado war einer der bedeutendsten Dirigenten der Musikgeschichte und ein eifriger Orchester-Gründer. Ihm verdanken wir die Jugendorchester European Community Youth Orchestra (1978) und das Gustav Mahler Jugendorchesters (1986). Hinzu kommen die Gründung des Chamber Orchestra of Europe (1981), des Mahler Chamber Orchestra (1997), des Lucerne Festival Orchestra (2003) sowie des Orchestra Mozart in Bologna (2003). Daneben dirigierte er als Chefdirigent unter anderem die Berliner Philharmoniker (1990-2002).
Wolfgang Schreiber arbeitete von 1978 bis 2002 als Musikredakteur der Süddeutschen Zeitung. Seit den 1970er Jahren hat er Claudio Abbado aus der Nähe verfolgt. Zu Beginn seiner Biografie schreibt er, der Dirigent habe gesagt, wer die Musik nicht liebe, wer sie nicht kenne, dem müsse sofort geholfen werden, denn sie sei eines der wichtigsten Dinge im Leben.
Wolfgang Schreiber geht es in seiner Biographie nicht um den Privatmann Claudio Abbado und seine Familie, sondern er sammelte vor allem Stimmen von Musikern, die mit dem Maestro einst eng zusammengearbeitet hatten, darunter der ehemalige Konzertmeister der Berliner Philharmoniker, der Geiger Kolja Blacher, der Cellist der Berliner Philharmoniker, Götz Teutsch, der Oboist der Berliner Philharmoniker, Albrecht Mayer, der mir gegenüber vor kurzer Zeit in Funchal Claudio Abbado als den eindrücklichsten Dirigenten bezeichnete, den er in seiner Karriere erlebt hat.
Der Schweizer Schauspieler Bruno Ganz, der Claudio Abbados Themenzyklen der Berliner Philharmoniker oft mit Lesungen begleitet hatte und ihm als Freund nahestand, kommt ebenfalls wie viele andere Künstler in dieser lesenswerten Biografie vor.
Wolfgang Schreiber beschreibt, wie Claudio Abbado von Herbert von Karajan entdeckt, gefördert und im Oktober 1989 als dessen Nachfolger gewählt wurde.
Claudio Abbado debütierte 1963 beim Radio-Symphonie-Orchester in West-Berlin (das heutige Deutsche Symphonie-Orchester Berlin). Im darauffolgenden Jahre kehrte er nochmals zurück und dirigierte neben «La Valse» von Maurice Ravel die symphonischen Stücke aus Alban Bergs Oper «Lulu». Herbert von Karajan, der seit acht Jahren Künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker war, sass im Publikum und erkannte die Gestaltungsenergie des Nachwuchsdirigenten aus Mailand. Er war derart beeindruckt, dass er ihn auf der Stelle nach Salzburg einlud. Er teilte seine Eindrücke über den jungen Claudio Abbado dem Komponisten und Intendanten Rolf Liebermann mit: «Es ist außer Zweifel, dass er die größte Begabung ist, die es meines Wissen heute gibt. Vor dem Orchester ist er derart sicher, als würde er schon 20 Jahre dirigieren.»
Jahrzehnte später, wenige Wochen nach dem Tod Herbert von Karajans, und zwar am 8. Oktober 1989, wurde Claudio Abbado zum Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker gewählt.
Laut Wolfgang Schreiber verkörperte er als Musiker, Dirigent und Zeitgenosse einen neuen Typus der Orchesterleitung. Von zentraler Bedeutung seien gewiss drei Aspekte gewesen: Claubio Abbado habe in der Musikwelt Erfahrung gesammelt gehabt als Dirigent der grossen Institutionen in Mailand, Wien, London und Chicago. Er sei zu Hause im klassisch-romantisch-modernen «Kernrepertoire» von Mozart und Beethoven bis Mahler und Strawinsky gewseen. Dank seiner vielen Plattenaufnahmen sei er bestens mit der Tonträgerindustrie vernetzt gewesen.
Weitere Gesichtspunkte seien hinzugekommen: Claudio Abbados Offenheit für die Musik des 20. Jahrhunderts, seine Neigung zu Literatur und Poesie, Film und den bildenden Künsten. Er arbeitete intensiv mit Jugendorchestern, er hatte in Wien ein Festival namens «Wien modern» gegründet, er hatte eine Neigung zu sozialem Handeln und zur intellektuellen «Linken» in Italien, dazu eine Abneigung gegenüber dem abgenutzten Pult- und Starvirtuosentum.
Laut Wolfgang Schreiber entschieden sich die Berliner Philharmoniker für einen ausserordentlich erfahrenen, musikalisch inspirierten und inspirierenden Dirigenten modernen Formats und neuer Ideen. Für einen Italiener, der sich als praktizierender Europäer betätigte und sich in vielen Aspekten der kulturellen Öffnung verschrieben hatte.
Wolfgang Schreiber schreibt, es mute merkwürdig an, dass ein aus Mailand stammender Dirigent nicht den großen Landsmann Arturo Toscanini zur «Leitfigur» seiner Kunst erhoben habe, sondern den Deutschen Wilhelm Furtwängler. Beide Dirigenten habe er als Jugendlicher im Konzertsaal, auch bei Proben, erlebt.
Für Claudio Abbado sei Wilhelm Furtwängler zum Inbegriff musikalischer Interpretation geworden, weil er sich bewusst war, dass die Technik des Dirigierens zwar die Basis des Berufs, aber nicht bedeutsam für die Arbeit sei, wie der Italiener selbst sagte. Wie man eine Komposition in sich hineinnehme, verdaue, verinnerliche, wieviel man über sie wisse, das zähle, so Claudio Abbado.
Wolfgang Schreiber notiert, dass es für den Mailänder darum ging, in die Tiefe vorzudringen, in einer Komposition immer wieder etwas Neues zu finden, ohne Grenzen. In dem Moment, wo einer denke, er wisse schon alles über ein Musikstück, sei er verloren, so Claudio Abbado selbst.
Die Verehrung für Wilhelm Furtwängler sei seinen frühen Hörerlebnissen zu verdanken gewesen, die ihm Furtwänglers Kraft, die tieferen Schichten der Musik zu erschließen, nahegebracht hätten, d.h. Furtwänglers Intuition für Ausdruck und Proportion – ganz im Sinne einer Überlegung, mit der sich Theodor W. Adorno zum leidenschaftlichen Verteidiger der «Aktualität Furtwänglers» erklärt hatte – gegen Arturo Toscanini: «Was Furtwängler in höchstem Maße besaß: das Organ für musikalischen Sinn, im Gegensatz zum bloßen Funktionieren, wie es als Ideal im Anschluss an Toscanini in die musikalische Welt kam.»
Claudio Abbado berief sich laut Wolfgang Schreiber zeitlebens auf Wilhelm Furtwänglers Musizieren als «werdende» Gestalt- und Sinninterpretation. Das lasse verstehen, warum der Italiener Orchesterproben lediglich als das erscheinen mussten, was sie sind: nüchterne Vorbereitung, Voraussetzung für den transzendierenden Konzertaugenblick. So lasse sich auch Abbados lakonische «Probentechnik» mit seiner Affinität zu Furtwängler in Beziehung setzen.
Der Biograf zitiert die Musikerin Karla Höcker, Furtwänglers Reisebegleiterin im letzten Lebensjahrzehnt, der ihn bei Proben beobachte: «Furtwänglers mündliche Anweisungen an das Orchester sind von knappster Sachlichkeit. Sie betreffen – scheinbar – immer nur das Musikalisch-Handwerkliche: Bogenstriche, Stärkegrade, Fermatendauer und ähnliches. Doch für ein feineres musikalisches Gefühl ist durchaus erkennbar, worum es ihm dabei geht und dass die Begleitfigur einer Solostimme, der choralartige Satz einer Brucknerschen Bläserstelle und andere Details wesentliche Elemente des Ganzen enthalten, die mit diesem in Übereinstimmung gebracht werden müssen. Dieses Gestalten aus dem Ganzen heraus, ohne daß dabei auch nur die kleinste Sechzehntelfigur unter den Tisch fällt, gehört ganz wesentlich zur Eigenart seines Musizierens.»
Musikalisch hören, das sei Claudio Abbados zentrales Anliegen «richtigen» Musizierens gewesen. So suchte er die Berliner Musiker in den Orchesterproben, für ihn das Wichtigste, zur gewissenhaften Wahrnehmung, zu einem analytischen Hören der instrumentalen Vielfalt und der darin schwingenden Klangverhältnisse anzuregen, so Wolfgang Schreiber. Besonders dem Hören der Stille, vor und nach dem Erklingen der Musik sowie im Fluss derselben und im Nachhall ihres Verschwindens, habe Claudio Abbados Wissbegier und Enthusiasmus gegolten, seit er in Luigi Nonos Musikwerken die Stille in und jenseits der Musik erlebt habe (Luigi Nono Musiknoten bei Amazon Deutschland).
Wolfgang Schreiber beschreibt, wie der Italiener zu Beginn bei den Berliner Philharmonikern mit seinem von Herbert von Karajan so fundamental unterschiedlichen Stil zuerst Staunen und Befremden hervorrief. Er zitiert den Geiger Peter Brem mit den Worten: «Es gab etliche Proben mit Stücken, die er bestimmt schon vierzig Jahre lang immer wieder bearbeitet hatte, bei denen er genau wusste, was ihm an welcher Note oder an welchem Takt besonders wichtig ist. Aber dann saß er am Pult und schaute in die Noten, als hätte er sie in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen, als hätte er gar nicht gewusst, dass es dieses Stück überhaupt gibt! Und er probierte aus, machte dieses oder jenes, oft ohne klare Anweisungen für uns.»
Claudio Abbado sei wortkarg gewesen, was seiner Abneigung gegen Befehle und Anweisungen geschuldet gewesen sei, so Wolfgang Schreiber. Er habe es wohl mit Felix Mendelssohn Bartholdy gehalten, der den Worten misstraute, denn «die scheinen mir so vieldeutig, so unbestimmt, so missverständlich im Vergleich zu einer rechten Musik, die einem die Seele erfüllt mit tausend besseren Dingen als Worten».
Manche Berliner Philharmoniker hätten sich besorgt gezeigt über fehlende Anweisungen bei den Proben, doch im Konzert sei das Wunder geschehen. Es funktionierte.
Der Schreibende hat – wie hier erwähnt – Claudio Abbado bei einem Galakonzert mit den Berliner Philharmonikern in Luzern 1990 erstmals erlebt – und war begeistert. Da war noch viel Karajan – so die Präzision – im Orchester, und Claudia Abbado steuerte das gewisse Etwas hinzu, wodurch die Berliner und ihre Musik auf eine höhere Ebene gehoben wurden.
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Wolfgang Schreiber notiert, alles rhetorisch Blendende, Aufgedrehte oder Selbstverliebte schien, bei aller Emotionalität seines Denkens und Musizierens, dem Künstler Claudio Abbado fremd zu sein. Sein Wesen habe in mancher Hinsicht dem Charakter seiner Heimatstadt Mailand entsprochen. Topographisch und mental sei er vom Süden, dem lässigen Rom oder dem brodelnden Neapel, entfernt gewesen. Er sei vom kreativen Mailand und seiner Strenge, von einem Zentrum mitteleuropäischen Zuschnitts mit moderner Arbeitsethik geprägt gewesen.
Claudio Abbado sei kein «Alpha-Tier» mit Drang nach Meinungsführerschaft gewesen, was verwundern könne, da einem Musikdirektor grosser Opernhäuser und Orchester eine gewisse Breitbeinigkeit, Machthandhabung und Egozentrik zuschrieben würde. Die künstlerischen Entscheidungen des Dirigenten seien dennoch von Durchsetzungskraft getragen gewesen. Wolfgang Schreiber attestiert Claudio Abbado Beharrlichkeit, Geradlinigkeit, aber auch Verschlossenheit. geben konnte. Der Solo-Oboist der Berliner Philharmoniker Albrecht Mayer habe sich erinnert: «Abbado würde Applaus niemals auf sich persönlich beziehen. Er verneigt sich auch nur sichtlich widerstrebend, indem er sich innerlich einen Ruck zu geben scheint, vor seinem Publikum – lieber gibt er den Beifall weiter an seine Musiker.»
Der Wiener Staatsoperndirektor Claus Helmut Drese beschrieb seinen Musikdirektor Claudio Abbado einst mit den Worten: «Er lebt ganz in der Musik, läßt sich von ihr tragen und treiben; sie ist seine Inspiration und sein Gewissen. Die Wirklichkeit des Alltags ist seine Sache nicht, er überläßt sie den Machern». Claudio Abbado machte «Versprechungen und Zusagen aus dem Augenblick heraus, aber er erwartet auch Verständnis, dass man ihn nicht beim Wort nimmt». Das Fazit lautete: «Seine komplizierte Naivität ist sein Charme.»
Am Ende seiner Biographie zitiert Wolfgand Schreiber Claudio Abbado, der einst bemerkte, «dass jeder von uns in der Musik etwas anderes sucht, etwas zutiefst Persönliches, einen Widerhall seiner eigenen Erfahrungen oder Gefühle».
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Rezension/Buchkritik vom 26. Juni 2023 um 13:12 deutscher Zeit.