Dietmar Berger: Dalís Cello

Dez 03, 2022 at 20:37 768

Im Werk des vor allem als surrealistischer Maler bekannten Grafikers, Bildhauers, Autors und Bühnenbildners Salvador Dalí (1904-1989) spielte das Cello als Bildgegenstand eine bedeutende Rolle. Ab dem Jahr 1920, als der 16-jährige Maler das Porträt des Cellisten Ricardo Pichot schuf, bis zu seinem letzten Gemälde Der Schwalbenschwanz (1983), das der Künstler selbst als sein Vermächtnis betrachtete, finden sich immer wieder wichtige Arbeiten in Öl, auf denen das Streichinstrument abgebildet ist. In seinem Buch Dalís Cello. Über ein herausragendes Motiv in Dalís malerischem Werk (Amazon.de) geht der Cellist Dietmar Berger dem im Untertitel erwähnten Thema auf den Grund.

In Dalís Werkphasen, von den impressionistischen frühen Arbeiten an über die surrealistische und die klassische Zeit bis zur späten Serie der Katastrophenbilder, stellt der Künstler das Cello in immer neuer Form, in neuem Zusammenhang dar. All diesen Schaffensphasen widmet der Autor eigene Kapitel, jeweils mit Exkursen, um Einzelaspekte zu vertiefen.

Zum ersten Dalí-Gemälde mit Cello: Salvadors Vater, der Notar Salvador Dalí i Cusí, stammte aus dem an der Costa Brava in Katalonien gelegenen Ort Cadaqués. In dem ehemaligen kleinen Fischerdorf verbrachte die Familie Dalí gewöhnlich den Sommer. Ursprünglich ebenfalls in Cadaqués beheimatet war die Familie Pichot (katalanisch: Pitxot; Dalí schreibt in seinen Biografien »Pitchot«), mit der Dalís Vater seit Jugendtagen befreundet war. Aus der Familie Pichot gingen einige bekannte Musiker und Maler hervor. Seine Schulferien verbrachte Salvador Dalí mit dieser Familie und konnte dabei das einstige Atelier von Pepito Pichots Bruder Ramon (1871–1925) nutzen.

Wie sein Freund Pablo Picasso ging Ramon um 1900 nach Paris, kehrte jedoch nach dem Ersten Weltkrieg nach Spanien zurück. Ramon Pichot malte zunächst im impressionistischen Stil und schloss sich dann dem Modernisme an. Salvador Dalí hat in seinen Schriften oft betont, wie wichtig für ihn die Bekanntschaft mit Ramon Pichots malerischem Werk war.

Pepito Pichot lernte Salvador spätestens in dessen 9. Lebensjahr kennen, erkannte sein Talent und regte früh an, dass Salvador Zeichenunterricht nehmen sollte. 1920 malte Salvador mit 16 Jahren das oben erwähnte Porträt des Violoncellisten Ricardo Pichot, eines Sohnes von Pepito Pichot, den er mit geschlossenen Augen auf einem Stuhl sitzend Cello spielend darstellt.

Laut Dietmar Berger ist dem Teenager Dalí ein relativ wirklichkeitsgetreues Bild des Cellos, der Sitzhaltung des Musikers, ja sogar der Bogenführung gelungen. Er merkt allerdings auch an, dass der Steg und der Hals des Instruments mit dem Griffbrett perspektivisch etwas zu weit nach links gerückt zu sein scheint und die beiden Wirbel zu weit oben im Wirbelkasten sitzen. Zudem sei der Kopf des Cellisten und die Breite des Oberkörpers im Verhältnis zum Rest des Bildes zu gross ausgefallen. Das Cello wirke infolgedessen wie eines in Untergröße, etwa ein 3/4tel- Cello. Dies sind nur einige Angaben aus dem Text zum ersten Cello-Gemälde von Dalí.

Bezüglich dem letzten Ölgemälde des Künstlers aus dem Jahr 1983, das bezeichnenderweise ein Cello zeigt und den Schlusspunkt unter Dalís Katastrophen-Gemälde mit vielen Cello-Bezügen setzt, merkt Dietmar Berger an, dass sich der Künstler nach dem Tod seiner Frau Gala im Vorjahr auf das Schloss Púbol zurückzog, das er einst Gala zum Geschenk gemacht hatte und das ihr als Ort der Erholung dienen sollte.

Dalís Gesundheitszustand verbesserte sich Anfang 1983 soweit, dass er seine künstlerische Arbeit wieder aufnehmen konnte, obgleich ihm infolge der Parkinsonkrankheit der rechte Arm zitterte und er daher oft aus Wut am Nachmittag die Bilder, die er am Vormittag begonnen hatte, zerstörte. Unklar ist, ob und inwieweit Dalí beim Malen Unterstützung durch einen Assistenten erhielt. Laut Dietmar Berger hat Dalí dem Bild immerhin so viel Authentizität zugebilligt, dass er sich, in theatralischer Haltung auf einem Tron-artigen Stuhl sitzend, davor fotografieren liess. Ohnehin habe sich Dalí selbst als Nachfolger der grossen Renaissancemaler gesehen, in deren Werkstätten es gängige Praxis war, dass grosse Partien ihrer Bilder von Schülern des jeweiligen Meisters ausgeführt wurden.

Die Linien im Schwalbenschwanz bilden zwei der Graphen aus René Toms Werk Stabilité structurelle et morphogénèse von 1976 nach, das u.a. seine sogenannte »Katastrophentheorie« zum Thema hat; Dietmar Berger widmet Dalí und seiner Beziehung zum Mathematiker René Thom einen Exkurs. In seinem Text »Die wichtigste Entdeckung meiner paranoisch-kritischen Methode: der Bahnhof von Perpignan« schreibt Dalí, er sei René Thom nur ein einziges Mal begegnet, allerdings im rechten Augenblick, damit er die Richtigkeit seiner Vorstellung bezeugen konnte. Thom habe ihm bestätigt, dass einer der Schlüssel zur Kontinentalverschiebung – die Europa verschont und die iberische Halbinsel gerettet habe – sich genau zwischen Sales und Narbonne befinde, genauer gesagt dort, wo der Bahnhof von Perpignan stehe.

Zu seiner Katastrophentheorie in seinem Hauptwerk Stabilité structurelle et morphogénèse von 1976 schreibt der französische Mathematiker und Philosoph René Frédéric Thom (1923–2002), unser tägliches Leben möge physiologisch ein Gewebe gewöhnlicher Katastrophen sein, aber unser Tod sei eine generalisierte Katastrophe.

Laut Dietmar Berger gelang es Thom mit seiner Katastrophentheorie, plötzlich aufretende Veränderungen von Zuständen, hervorgerufen z.B. durch den Einsturz eines Gebäudes oder infolge der Erdbewegungen eines Erdbebens, auf mathematischem Wege zu erfassen. Er weitete seine Katastrophentheorie auf die verschiedensten Gebiete aus, die einer evolutionären Veränderung unterworfen sind, darunter die Biologie, die Physik, die Ästhetik, die Geologie und die Sprache. Thom betrachtete seine Untersuchungen sogar »als ein Mittel zur Enthüllung der Strukturen, die in uns selbst existieren: eine Art der Psychoanalyse.« Besonders dieser Aspekt habe Dalí wohl gefallen.

Beim Schwalbenschwanz-Gemälde bilden die schwarzen Linien ausser der Kurve des Schwalbenschwanzes und der S-Kurve (das Horn) auch die Buchstaben D S, die Anfangsbuchstaben von Salvador Dalís Namen. Mit dieser Signatur setzte der Künstler einen Abschluss unter sein Schaffen, einen abschliessenden Kommentar über sein Werk.

Im Text von Dietmar Berger kommt der spanische Diktator Franco, dessen Regime Dalí öffentlich lobte, unkritisch gegenüberstand, obwohl franquistische Falangisten 1936 seinen guten Freund Federico García Lorca ermordeten, was ihn verstörte, nicht vor. Nur in seiner Einleitung deutet Dietmar Berger die Beziehung von Dalí zu Franco an („politischer Opportunismus“), ohne diesen beim Namen zu nennen:

„Seine Befürworter begeistern sich für seine maltechnischen Fertigkeiten, seine Zeichenkunst sowie den Reichtum seiner Fantasie und feiern jedes seiner Werke wie eine Ofenbarung. Seine Gegner werfen ihm dagegen politischen Opportunismus, Blasphemie, Geldgier und Arroganz bis zur Menschenverachtung vor. Die einen halten ihn schlichtweg für ein Genie, die anderen für einen oberfächlichen, eitlen Pfau, der zufällig gut zeichnen kann.“

Im Anhang des Buches (Amazon.de) druckt Dietmar Berger einige kurze Texte zum Thema Dalí und Cello bzw. Musik und Kunst ab. So von Horst Sohm den Beitrag Eine musikalische Soirée bei Salvador Dalí, von Geraldine Clarkson zu Tree Young Surrealist Women Holding in their Arms the Skins of an Orchestra (Dalí, 1936), von Stephen A. Diamond Warum wir Musik lieben – und Freud sie verachtete. Litt der Vater der Psychoanalyse an Musikphobie? sowie von Dirk Tölke Anspielungen. Vom Erotikrepertoire des Cellos, wobei Dirk Tölke danach nochmals mit einer Email zu Wort kommt, in der er unter anderem schreibt, dass es nicht ganz sauber klappe mit Dalís Bildern als psychoanalytisch lesbare Persönlichkeitsstudie. Dafür kombiniere Dalí zu viel. Bild und Formanalogien führten in der Bildkunst eben zu Denkverbindungen anderer Art, so wie Wortklangähnlichkeiten oder Reimzwänge.

In seinem Schlusswort schreibt Dietmar Berger, das Porträt des Cellisten Ricardo Pichot aus der Jugendzeit falle in Dalís »impressionistische Phase«, in der das Cello noch nicht zum Symbol geworden sei. In der »surrealistischen Phase« nehme das Musikinstrument eine den zerfliessenden Uhren, brennenden Girafen und langbeinigen Elefanten entsprechende Funktion als »Dalí’sches Symbol« ein. Das weiche, verformte Cello werde zum Ausdruck seiner sensiblen seelischen Verfassung und im weiteren Sinne zum Symbol für heraufziehendes Unheil. Während seiner »klassischen Periode« sei der Künstler durch die Architektur und die Malerei der Renaissance beeinfusst worden. Unter den Bildern dieser Zeit seien viele Grossformate. Diese Gemälde wirkten »glatter«, geradezu abgeklärt. Das Cello spiele hier keine Rolle. In den Illustrationen zu seinen Büchern 50 Secrets of Magic Crafsmanship (1948) und Les métamorphoses érotiques (À L’Érotitiade, Paris 1969) tauche das Cello als Allegorie für Dalís niedergeschlagene seelische Verfassung auf. Mit dem Tode Galas 1982 beginne seine Phase der Katastrophenbilder, in denen er auf sehr persönliche, fast private Weise seine Krankheit und das Alt werden thematisiere sowie sein Gefühl, von der Außenwelt bedroht zu werden. Dalí verrenke sich in diesen Werken zum Cello. In den Arbeiten seiner »Prä- und Post-Gala-Phasen« seines Lebens seien  seine persönliche Krisen besonders gut ablesbar.

Dietmar Berger schreibt, wir lebten heute, vielleicht mehr als je, in Dalís Paranoia: Dazu gehörten Corona-Pandemie, politische Radikalisierung, Klimawandel (Waldsterben, Überflutungen, Flächenbrände), persönliche Ängste.

Dies sind wie immer nur einige Angaben zu einem lesenswerten Buch, diesmal zum Cello im Werk von Salvador Dalí, dessen Bilder nahezu unbegrenzte Deutbarkeit böten, so unser Autor.

Dietmar Berger: Dalís Cello. Über ein herausragendes Motiv in Dalís malerischem Werk. Dittrich Verlag, 2022, 168 Seiten mit zahlreichen farbigen Abbildungen 24 x 16 cm, broschiert. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Dietmar Berger studierte Cello in Aachen, Düssel dorf und Leipzig und war sieben Jahre lang Berufscellist in einem Opernorchester in Dresden. Heute lebt er als Cellist und Maler in seiner Geburtsstadt Köln.

Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Buchkritik zum Thema Salvador Dali und das Cello sind der besseren Lesbarkeit wegen weitgehend nicht kursiv bzw. nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Rezension / Buchkritik vom 3. Dezember 2022 um 20:37 deutscher Zeit.