Das Rote Wien

Sep 28, 2019 at 13:24 1137

Die ersten freien Wahlen zum Wiener Gemeinderat im Mai 1919 brachten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei die absolute Mehrheit. Damit begann ein international viel beachtetes Reformprojekt. Passend zum 100-jährigen Jubiläum zeigt das Wien Museum (MUSA) vom 30. April 2019 bis zum 19. Januar 2020 die Ausstellung Das Rote Wien. 1919-1934. Ideen, Debatten, Praxis (Katalog).

Anhand von Fotos, Karten, Objekten und Dokumenten geht über das Museum hinaus, macht sich in der Stadt selbst fest, musealisiert sie, um sie gleich wieder als gelebte Welt zu verorten.

Das Rote Wien war ein Gegenentwurf zu jahrhundertelang gewachsenen Machtstrukturen, politisch wie ästhetisch. Daher ist die Ausstellung mehr als ein reiner Ausband der Stadtgeschichte. Die Gebäude des Roten Wien sind formal kenntlich, gleichermassen architektonisches wie ideologisches Programm.

Die Reformen der Sozialdemokraten zielten auf eine tief greifende Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterinnen und Arbeiter und eine weitreichende Demokratisierung der Gesellschaft. Auf der Grundlage einer neuen Steuerpolitik wurden bis 1934 mehr als 60.000 Wohnungen sowie zahlreiche Sozial-, Freizeit- und Kultureinrichtungen geschaffen. Versorgung und Hygiene wurden gefördert. Es entstanden Schwimmbäder und Büchereien, die aus unterdrückten Arbeiterinnen und Arbeitern stolze Kulturmenschen machten sollten. Viele dieser Orte existieren weiterhin, doch das soziale Gefüge, das sie befeuerte, ist nicht mehr vorhanden. Die Ausstellung musste vor Ort gehen, also über das Museum hinaus reichen. Die Stadt wird zum eigentlichen Museum.

Die umfangreich bebilderte Buch Das Rote Wien. 1919-1934. Ideen, Debatten, Praxis (Katalog) fragt nach den historischen Voraussetzungen des Roten Wien, den Auswirkungen auf die Stadtstruktur, nach dem Verhältnis von austromarxistischer Ideologie und politischem Pragmatismus, internationalen Einflüssen und dem aktuellen Potenzial dieses politischen Experiments.

Architektur, Wohnen, Volksbildung, Schule, Arbeiterkultur, Hygiene, Fürsorge, Frauenpolitik und Wahlkämpfe gehören zum Roten Wien. Von 1919 bis 1934 ging es um die Veralltäglichung der Utopie (Wolfgang Maderthaner).

Die Ausstellung Traum und Wirklichkeit. Wien 1870-1930 im Jahr 1985 im Wiener Künstlerhaus betonte, dass die sozialistischen Ideale im Bau mehrheitlich von bürgerlichen Architekten umgesetzt wurden, nicht zuletzt von Schülern von Otto Wagner, die das Rote Wien gestalteten. Nachfolgende Ausstellungen zeigten das Rote Wien als Kollektiv oder stellten die Niederschlagung des sozialdemokratischen Aufstands in den 1930er Jahren ins Zentrum, wobei sie mit Erinnerungen von Beteiligten arbeiteten.

Noch in den 1980er Jahren sei das Rote Wien ein glühender Gegenstand gewesen, so die Macher der aktuellen Ausstellung im Museum Wien. Damals kamen die Sozialdemokraten vonseiten der Jungen im Kontext der neuen Umwelt-, Frauen- und Kulturinitiativen unter Druck. Sie erinnerten die Arbeiterbewegung und ihre politischen Führer an ihr ehemals kämpferisches Engagement, das Paternalismus, Selbstgefälligkeit und Unentschlossenheit gewichen war. Eine in Deutschland konzipierte Ausstellung von 1983 stemmte sich Gegen den Mythos der Alternativlosigkeit des Roten Wien sowohl der 1930er wie auch der 1980er Jahre. Der Fall des Eisernen Vorhanges und das Ende des real existierenden Sozialismus nach sowjetischen Vorbild schliesslich führten dazu, dass das Rote Wien in Ausstellungen der 1990er Jahre historisiert, als Teil der Vergangenheit gesehen wurde.

Das Ende des ersten Roten Wien, das die heutigen Ausstellungsmacher interessiert, kam mit den Februarkämpfen 1934 und dem Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Im Museum Wien rückt nun die alte Interpretation des Roten Wien als ein Projekt der Emanzipation und Teilhabe, als eine Idee modernen Gemeinsinns, wie es der Publizist Robert Misik nennt, wieder in den Vordergrund. Es ist ein Aufruf zur Debatte, zur kritischen Auseinandersetzung, zum Bekenntnis zu Idealen und zum Experiment.

Im Katalog abgedruckt ist eine Debatte um die Frage Was ist das Rote Wien?, in der Stichworte wie öffentliche Moralanstalt, Projekt der Spätaufklärung, Modell für eine Grossstadt fallen und für richtig befunden, während dem Begriffe wie Labor und Experiment zum Teil verworfen werden. Die nachfolgenden Artikel drehen sich um die Grundlagen und Voraussetzungen für das Rote Wien, darunter Beiträge zum Austromarxismus, zur Finanzpolitik, zu Sozialdemokratie und Antisemitismus. Weitere Kapitel beleuchten die Themen Fürsorge, Schulfreform und Bildung, Kommunikation und Kunst. Es werden nicht nur trockene Texte präsentiert, sondern das Buch ist reich bebildert, was der Illustrierung und der Vertiefung dient.

Das Rote Wien. 1919-1934. Ideen, Debatten, Praxis. Musem Wien / Birkhäuser Verlag, 2019, 472 Seiten, 30 x 24 cm, mit vielen farbigen Abbildungen. Das Buch bestellen bei Amazon.de. Die Ausstellung im Wien Museum (MUSA) ist vom 30. April 2019 bis zum 19. Januar 2020 zu sehen.

Dieser Artikel beruht auf dem Ausstellungskatalog. Der Lesbarkeit wegen wurden Teilzitate und Zitate nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Rezension des Buches Das Rote Wien vom 28. September 2019 um 13:24 österreichischer Zeit.