Das Schokoladenmädchen von Jean-Etienne Liotard

Okt 01, 2018 at 18:27 3397

Das Schokoladenmädchen von Jean-Etienne Liotard in seinem Kontext in einer Ausstellung in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden

Das Pastell das Schokoladenmädchen (1744) des Genfer Künstlers Jean-Etienne Liotard sorgte bereits im 18. Jahrhundert für Furore. Nun zeigt es die Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden vom 28. September 2018 bis am 6. Januar 2019 unter anderem in seinem historischen, künstlerischen und kulturellen Kontext, bietet Informationen zur Biografie des Künstlers, zur Rezeptionsgeschichte des Bildes und dokumentiert mit zahlreichen Beispielen die Verwendung des populären Sujets der Chocolatière durch andere Künstler und in der Werbung bis heute.

Insgesamt sind in Dresden 100 Werke ausgestellt, darunter rund 40 Pastelle, Ölgemälde, Zeichnungen und Grafiken von Jean-Etienne Liotard. Rund 40 Leihgaben stammen aus dem Musée d’art et d’histoire in Genf, dem Louvre und der Bibliothèque nationale de France in Paris, dem British Museum in London, dem Rijksmusum in Amsterdam, dem Haus Doorn bei Utrecht, dem Schokoladenmuseum Köln, dem Getty Museum in Los Angeles, zehn Museen der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden sowie aus Privatbesitz.

Im Katalog „Das schönste Pastell, das man je gesehen hat.“ Das Schokoladenmädchen von Jean-Étienne Liotard (deutsch: Amazon.de; English edition: Amazon.comAmazon.co.ukAmazon.fr, Amazon.de) befasst sich Marcel Roethlisberger mit dem Leben und Werk von Jean-Etienne Liotard. Zusammen mit Renée Loche hat er 1978 den Katalog des Gesamtwerkes des Genfer Künstlers (L’opera completa di Liotard) zusammengestellt.

Laut Marcel Roethlisberger sind heute rund 300 Pastelle, 30 Ölgemälde, 30 Emails, 150 Zeichnungen und 15 grafische Blätter von Jean-Etienne Liotard bekannt. Die nachweisbaren Verluste von Werken des Genfers seien enorm, die ersten vier Jahrzehnte seines Lebens nur ganz sporadisch bekannt.

Einige Angaben zu Leben und Werk von Liotard

Laut Roethlisberger wurde Jean-Etienne Liotard 1702 in Genf geboren, wuchs im Zeitalter von Ludwig XIV. auf und verstarb 1789, einen Monat vor dem Sturm auf die Bastille.

Liotards Eltern waren nach dem Edikt von Fontainebleau von 1685 wie rund 50,000 andere Hugenotten aus Frankreich geflohen bzw. vertrieben worden; Roethlisberger schreibt verharmlosend: „emigriert“. Die Liotards stammten aus Montélimar nahe Lyon. Der Vater war ein gutsituierter Schneider und Textilhändler. 1701 wurden sie in der calvinistischen, unabhängigen Stadtrepublik Genf eingebürgert. Für ihren Sohn Jean-Etienne spielte Religion laut Roethlisberger übrigens keine Rolle. Zusammen mit seinem Zwillingsbruder Jean-Michel, der später als Kupferstecher in Venedig arbeitete, war er das letzte von 14 Kindern des Paares.

Die Zwillinge Jean-Etienne und Jean-Michel wurden in Genf zu Miniaturen- und Emailmalern ausgebildet, wohl bei Daniel Gardelle. In seiner Autobiografie zollt Jean-Etienne seinen Lehrern und anderen Meistern an keiner Stelle Beachtung. Allerdings zeigt ein technisch vollendetes Email (Selene und Enymion) von 1722, dass sich im Musée de l’horlogerie et de l’émaillerie in Genf befindet, von seiner gelungenen Ausbildung und seinem Talent.

1723 – mit 21 Jahren relativ spät – verdingte der Vater seinen Sohn Jean-Etienne in Paris 3 Jahre an den Miniaturenmaler und Kupferstecher Jean-Baptiste Massé. Die Venezianerin Rosalba Carriera hat in der Seine-Metropole das Pastellbildnis eingeführt. Laut Roethlisberger kopierte und lernte der junge Genfer in Paris wenig, blieb aber nach der Zeit bei Massé weitere 9 Jahre in der Stadt. Aus jener Zeit hat sich laut dem Spezialisten ausser einigen Kupferstichen und einem ersten, kleinen, sich in Privatbesitz befindlichen Selbstbildnis in Öl praktisch nichts erhalten.

1735 nutzte Liotard die Möglichkeit, mit dem neuen französischen Botschafter Louis Philogène Brulart, Marquis de Puysieux, nach Rom zu reisen, wiederum relativ spät für einen Künstler, so Roethlisberger. Dort schuf er einige Miniaturen auf Email, Pergament und Papier für den in Rom niedergelassenen englischen Hof der jakobitischen Stuart, wovon nur wenige erhalten sind. Ausser in zwei Pastellen, in denen er eine Drei-Grazien-Skulptur und Berninis Apoll und Daphne-Gruppe in Pastell kopierte, verrät Liotards Schaffen keine Rezeption antiker und italienischer Kunst.

Nach zwei Jahren ohne Durchbruch in Rom und Reisen nach Neapel und Florenz zog Liotard weiter. Zufällig konnte er als Bildreporter die wohlhabenden Engländer John Montagu, Earl of Sandwich, und William Ponsonby, den späteren 2nd Earl of Bessborough, auf einer Reise über Sizilien, Malta, verschiedene griechische Inseln und Smyrna nach Konstantinopel begleiten, wo er von 1738 bis 1742 blieb, anstatt mit den Briten weiter nach Ägypten zu reisen.

Die Türkei stand damals hoch im Kurs; mit der Türkenmode befasst sich im Buch übrigens ein Essay von Holger Schuckelt. In der osmanischen Hauptstadt fertige Liotard nicht nur Email-Miniaturen, malte und zeichnete Mitglieder der Familien westlicher Diplomaten und Handelsleute in orientalischer Umgebung und Kleidung, sondern inszenierte sich selber in türkischer Tracht.

Der aufgeklärte Fürst der Moldau, Constantin Mavrocardato, lud Liotard an seinen Hof nach Jassy ein, wo der Genfer sich einen in Westeuropa damals nicht in Mode stehenden langen Bart wachsen liess, den er bis zu seiner Heirat 14 Jahre später trug. Zudem setzte er sich eine Pelzmütze auf und pflegte so weiter sein Image als „türkischer Maler“. Zum einzigen Mal in seinem Leben wirkte er als Hofmaler. Doch Roethlisberger betont, dass sich ausser einer die Fürstin darstellenden Zeichnung kein gesichertes Werk aus jenen 10 Monaten erhalten hat, in denen Liotard die fürstliche Familie in Jassy sowie alle moldawischen und walachischen Fürsten malte.

Da die Moldau keine weitere berufliche Zukunft bot, reiste Liotard weiter nach Wien, wo er im September 1743 ankam, zwei Jahre blieb und den grossen Durchbruch schaffte. Er porträtierte die jugenlich schöne Erzherzogin von Österreich und Königin von Ungarn und Böhmen, Maria Theresia, ihren Gemahl, Franz Stephan, sowie weiter Familienmitglieder der Habsburger. Zum Thema Maria Theresia und Wien empfiehlt sich die Lektüre des entsprechenden Katalogbeitrags von Stephan Koja und Verena Perlhefter.

Laut Roethlisberger konzentrieren sich die Wiener Pastelle von Liotard als Halbfigurenstücke auf das Gesicht. Als stattliche Hofbildnisse sind sie viel direkter zugänglich als die formellen ganzfigurigen Werke der Hofmaler Martin von Meytens und Johann Gottfried Auerbach, die letztlich dem internationalen Hofstil Frankreich verpflichtet blieben. Das prägende Bild, das sogleich und für die Nachwelt zum Inbegriff von Maria Theresia wurde, stammt von Liotard.

Das Wiener Schokoladenmäden

In jener Zeit in Wien entstand auch das weltberühmte Schokoladenmädchen, um das es im Buch und in der Ausstellung eigentlich geht. Liotard fertigte das Pastell 1744 ohne Auftrag, ohne Vorzeichnungen, auf eigene Initiative. Er zeigte es laut eigener Aussage Maria Theresia. Diese machte dazu eine Bemerkung, doch was sie dazu sagte, hat der Künstler nicht überliefert. In jedem Fall kaufte sie es nicht.

Wen das Schokoladenmädchen zeigt, ist unbekant. Es handelt sich um ein hübsches, junges Stubenmädchen, das auf einem Lacktablett eine Porzellantasse mit Schokolade sowie Wasser in einem Glas jemandem bringt, der auf dem Pastell nicht zu sehen ist. Das Dienstmädchen trägt eine rosafarbene Böhmische Haube auf dem Kopf. Das Brusttuch über dem Dekolleté lässt ein winziges Stück Korsage unter ihrer ockerfarbenen Schossjake erkennen. Die weisse Schürze über ihrem grauen Rock ist in der Taille zusammengebunden. Der Kurator der Ausstellung, Roland Enke, schreibt in einem seiner Katalogbeiträge, dass sich das Pastell trotz seiner naturtreuen Genauigkeit, die auf den späteren Stil des Realimus bereits hinweist, auf vielen ebenen der Eindeutigkeit entzieht. Es wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet. Liotard erfasst das Mädchen von aussen, ohne den Kontext zu zeigen. Er behandelt sie geradezu wie einen Gegenstand. Damit erfülle das Bild weit mehr die Kriterien einer Genreszene denn die eines Porträts. Enke zitiert einen Michail Alpatow aus dem Jahr 1966, der urteilte, das Mädchen zeige keine Gefühlsregung, Liotard sei im Vergleich zu Vermeer kalt und leer. Das Stubenmädchen scheint dem Schreibenden voll und ganz auf seine Aufgabe konzentriert zu sein. Allerdings macht die Deutung ebenfalls Sinn, es handle sich dabei um eine ikonenhafte Darstellung. Das Werk hat nichts Anekdotisches. Es ist nicht überliefert, ob es sich um die Darstellung einer realen Person handelt, oder ob es Liotard um den Typus Stubenmädchen an und für sich ging. Gerade die vielfache Uneindeutigkeit macht das Pastell so spannend. Der Künstler hat nichts zu diesem Werk gesagt oder aufgeschrieben.

Roland Enke führt zurecht aus, dass das Schokoladenmädchen sich in einem kaum definierten Raum bewegt. Schlichte Bodendielen und eine blanke Rückwand erzeugen ein geringe räumliche Tiefe. Nicht alles an diesem Pastell ist realistisch. So ist das Tablett perspektivisch nicht richtig dargestellt.

Im Katalog befindet sich übrigens eine maltechnische Analyse des Pastellwerkes auf Pergament durch Christoph Schölzel. Nach der Ausstellungspräsentation sagte mir der Kurator Roland Enke auf meine entsprechende Frage, dass der Erhalt des Pastells keinerlei Probleme biete. Das Werk ist in ausgezeichnetem Zustand und besitzt noch immer seinen reich verzierten, originalen Goldrahmen.

Die Quittung des Ankaufs des Schokoladenmädchen hat sich erhalten, wird in der Ausstellung gezeigt und im Katalog abgedruckt. Der umtriebige Francesco Graf Algarotti reiste im Auftrag des sächsischen Kurfürsten und polnischen Königs August III. nach Italien, um für die im Aufbau befindliche Dresdener Gemäldegalerie Werke anzukaufen. König August III. besass ein Pastellkabinett, in dem Werke von Liotard nicht fehlen durften. In der Ausstellung ist ein Raum mit Pastellen zu sehen, der das Kabinett des Königs in etwa nachstellt.

Graf Algarotti kaufte das zeitgenössische (!) Werk von Liotard in Venedig und überlieferte in seiner Korrespondenz nach Dresden die Einschätzung der Pastellmalerin Rosalba Carriera, nach der es sich beim Schokoladenmädchen um das „schönste Pastell, das man je gesehen hat“, handelt. Er verglich es selbst mit einem „Holbein in Pastell“, denn er hatte 1743 ein Meisterwerk von Holbein d. J. für Dresden erworben, das sich allerdings 1871/72 nach einer langen Kontroverse als Kopie von Barolomäus Sarburgh von 1635/37 entpuppte, während dem sich das Original von Holbein, die sogenannte Darmstädter Madonna, heute in der Sammlung Würth in Schwäbisch Hall befindet.

Das Schokoladenmädchen kostete den damals hohen Preis von 120 Zechinen. Der geschäftstüchtige Liotard war berühmt-berüchtigt für seine enormen Preise. Sie waren sein Markenzeichen, ebenso wie sein Bart und seine türkische Gewandung in vielen Selbstporträts, mit denen er, der Aussenseiter, der keiner Kunstakademie angehörte, erfolgreich für sich Werbung machte.

In der Gemäldegalerie Alte Meister befindet sich das Pastell für die Ausstellung hinter Glas. Besucher können so ihre Nasen daran plattdrücken und die Stofflichkeit und Meisterschaft aus nächster Nähe bewundern.

Das Leben von Liotard nach dem Schokoladenmädchen

Zurück zu Roethlisberger und zur Biografie von Liotard: Nach dem Verkauf seines heute berühmtesten Werkes 1745 in Venedig an den Grafen Algarotti reiste Liotard zur Kaiserkrönung nach Frankfurt. Dort (oder in Bayreuth) malte er die Markgräfin von Bayreuth und deren Tochter, dort lernte er die junge hessische Prinzessin Karoline Luise kennen, die spätere Markgräfin von Baden, die während 6 Wochen die einzige Schülerin in seiner ganzen Karriere wurde.

Danach verbringt Liotard ein Jahr in Genf und unternimmt Reisen nach Basel sowie zu seinen Verwandten nach Lyon, wo er seine Nichte Marianne Lavergne als Sitzende Leserin malt. In jener Zeit entstehen weitere Meisterwerke, darunter das Selbstbildnis mit Bart und Mütze, das der Herzog von Richelieu erwarb und nach Dresden führte sowie das grösste Email-Bildnis von Maria Theresia, laut Roethlisberger ein technisches Glanzstück, das Liotard zeitlebens behielt und das sich heute in Amsterdam befindet.

Von 1748 bis 1753 weilt Liotard wieder in Paris, wo er nun dank der Vermittlung von Moritz von Sachsen Zugang zum Hof erhält und Porträts der königlichen Familie erstellt. François Boucher ist der führende Maler und Maurice Quentin de La Tour der angesehenste Pastellist, von dem in Dresden übrigens ein Werk ausgestellt ist, das den Vergleich mit den besten Arbeiten von Liotard nicht zu scheuen braucht, wobei sein Stil ein ganz anderer ist. Diese zweite Pariser Zeit bezeichnete Liotard später als die erfolgreichste seines Lebens. 1752 entsteht zum Beispiel Das Frühstück, das heute als Dauerleihgabe in der alten Pinakothek in München hängt. Es wirkt fast wie eine Weiterführung des Schokoladenmädchen, wobei hier nun eine Dame im Vordergründ steht, der ein Dienstmädchen eine Tasse Schokolade bringt.

1753 und 1754 verbringt Liotard in London. William Ponsonby vermittelt Aufträge mit Adligen und der königlichen Familie. Liotard malt wie in Wien und Paris sofort auf der obersten gesellschaftlichen Stufe, nämlich Bildnisse des Kronprinzenpaares Frederick und Augusta und deren Kinder, wobei laut Roethlisberger im Unterschied zu den Porträts von Prinzessinnen in Paris in London schlichte Nahaufnahmen ohne höfisches Beiwerk entstehen. Politiker wie Henry Fox liessen sich porträtieren, einige davon in türkischen Gewändern, andere in der beliebten Pose des sitzenden Leserin.

Sein 1754 in Lyon entstandenes Frühstück in Lavergne, das als Gegenstück des Neffen am Schreibtisch von 1752 entstand und sich heute in einer Privatsammlung befindet, bezeichnete Liotard als eines seiner Hauptwerke. Er verkaufte es in London seinem wichtigsten dortigen Sammler, Lord Duncannon, der es für den höchsten in seinem Leben erzielten Preis von 200 Guineen verkaufte. Viele Jahre später, 1773, wiederholte er daselbst das Werk in Öl.

1755 und 1756 lebt Liotard in Holland, zunächst bei seinem Neffen, einem Pastor in Delft, danach in Den Haag und später in Amsterdam. Er malt an die 50 Bildnisse der führenden Familien, darunter die beiden Kinder der Regentin des Königshauses Oranien-Nassau.

1756 heiratet Jean-Etienne Liotard mit 54 Jahren in Amsterdam die 26 Jahre jüngere Marie Fargues aus einer dort angesiedelten Kaufmannsfamilie fanzösischer Hugenotten – und opfert nun seinen „orientalischen“ Bart.

1757 kehrt Liotard als wohlhabender Mann nach Genf zurück, wo er weitere 30 Jahre aktiv bleibt. 1758 kommt sein erster Sohn, 1761 seine erste Tochter zur Welt. Er malt nun hauptächlich Mitglieder der Genfer Patrizierfamilien. Dominique Ingres und Gustave Flaubert bewunderten sein Portrait de Madame d’Epinay, das um 1759 entstand.

1762 unternimmt er seine zweite, diesmal siebenmonatige Reise nach Wien. Er malt Pastellporträts des Herrscherpaares und fertigt Zeichnungen von 11 Kindern von Maria Theresia. Dabei knüpft Liotard laut Roethlisberger fast unverändert an die Kopftypen an. So erweitert und monumentalisiert er den Bildausschnitt von Kaiser Franz I. Stephan, nähert sich bis in die Kleidung den Repräsentationsbildnissen von Meytens, bleibt jedoch auf die Figur konzentriert, ohne Inszenierung mit Kronen und Mobiliar. Laut Roethlisberger liegt das Wunder jedoch in der vibrierenden Farbgebung in blau und gelb. Das als Pendant gedachte Werk zeigt Maria Theresia, im Gewand und in den Vorhängen etwas duftiger bildlich aufgefasst. Unter allen königlichen Bildnissen Liotards zeige kein anderes eine solche Opulenz, ohne das übliche höfische Beiwerk.

1763 kommt Liotards Tochter Marie-Thérèse auf die Welt. Taufpatin in Maria Theresia. 1764 und 1767 kommen nochmals zwei Kinder auf die Welt. Der Künstler wird nun mit weniger Aufträgen überhäuft. Er malt weitere Selbstporträts, Stillleben, die in Frankreich geschätzten Trompe-l’œil sowie seine einzige Landschaft, die den Blick von seinem Haus zeigt und die heute im Rijksmuseum in Amsterdam hängt.

1770 weilt er im Auftrag von Maria Theresia in Paris, um ihre Tochter Marie-Antoinette zu malen. Das Pastell ist laut Roethlisberger verschollen. In jenem Jahr reist er zudem nach Lyon, um Jean-Jacques Rousseau zu poträtieren. 1771 malt er in Holland das Kinderbildnis der Frederica von Oranien-Nassau. Danach zieht es ihn nochmals über ein Jahr lang nach London. Es entstehen erstaunlich verschiedenartige Bildnisse von Adligen. Zudem stellt er erfolgreich in der Royal Academy aus. Seine letzte Reise führt Liotard zusammen mit seinem Sohn Jean-Etienne 1777 für sieben Monate nach Wien, wo er Joseph II. und Erzherzog Maximilian zeichnet.

Noch in hohem Alter bleibt Liotard laut Roethlisberger technischen Experimenten aufgeschlossen und schafft 8 Schabblätter in einem vor allem in England gepflegten grafischen Verfahren. Sie dienen der Illustration seines Werkes über Prinzipien und Regeln der Malerei (Traité des principes et des règles de la peinture, Genf, 1781; den Text kann man als pdf im Internet finden). Das in kleiner Auflage erschienen Buch bleibt fast unbemerkt. Darin schreibt er: „Man soll niemals malen, was man nicht sieht.“ Diesen Satz findet man in der Dresdner Ausstellung an einer Wand verewigt.

Die späteste Werkegruppe von Liotard sind ein Dutzend kleinere Stillleben mit Früchen und zwei Blumen-Stücke. Mindestens 11 Liotards befinden sich übrigens in Museen in Winterthur, darunter drei um 1783 entstandene Stillleben.

In Confignon bei Genf malt Liotard die Früchte seines Gartens, an der wahrheitsgetreuen Darstellung wie sein ganzes Leben hindurch festhaltend. Mit dieser Modernität – insbesondere im Schokoladenmädchen – nimmt er in der Zeit des Rokkoko Aufklärung und Realismus vorweg.

In den letzten Jahren lassen seine Kräfte nach. Inzwischen werden ihm laut Roethlisberger jüngere Maler wie der Schwede Alexander Roslin vorgezogen. Der Kunstmarkt stagniert in Zeiten der politischen Unsicherheit. Die franzöische Revolution wirft ihre Schatten voraus. Die Pastellmalerei gerät mit der Französischen Revolution ausser Mode und wird erst im 19. Jahrhundert mit dem Impressionismus und Degas wiederentdeckt.

1782 stirbt Liotards Frau. Er selbst verstirbt am 12. Juni 1789 in Genf. Sein Nachlass bleibt fast 100 Jahre in Familienbesitz. 1873 und 1885 erwirbt das Rijsmuseum in Amsterdam – seine Frau stammte ja aus Holland -, 1934 das Musée d’art et d’histoire in Genf einen Grossteil seines Nachlasses.

Nebenbei bemerkt: Von den 34 einst von Dresden angekauften Liotards befinden sich heute noch 28 in der Sammlung.

Dies und noch viel mehr gibt es im Katalog zu erfahren. Die Ausstellung in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden endet am 6. Januar 2019. Das sehr ans Herz zu legende, hier vielfach zitierte Buch dazu: „Das schönste Pastell, das man je gesehen hat.“ Das Schokoladenmädchen von Jean-Étienne Liotard, Hg. Roland Enke u.a., Hirmer Verlag, 2018, 272 Seiten mit 218 Abbildungen in Farbe, 21 x 25,5 cm, gebunden. Das Buch bestellen bei Amazon.de. Order the English, hardcover edition of the book, „The most beautiful pastel ever seen.“ The Chocolate Girl by Jean-Étienne Liotard, from Amazon.comAmazon.co.ukAmazon.fr and Amazon.de.

P.S. Hirmer schreibt auf der eigenen Webseite von 218 Abbildungen in Farbe, in einer Pressemitteilung des Museums steht ca. 175 Abbildungen in Farbe, ich habe einmal kurz gezählt und bin auf 202 Abbildungen gekommen. Wie auch immer, der Hirmer-Katalog ist gut gemacht, voller Substanz und reich illustriert. Die im Artikel erwähnten Werke sind natürlich im Katalog abgebildet, auch wenn sie zum Teil nicht in Dresden zu sehen sind.

Der Ausstellungskatalog bildet die Quelle für diesen Artikel. Um die Lektüre zu erleichtern, wurden Zitate und Teilzitate nicht mit Gänsefüsschen ausgezeichnet.