Einst sprach man im Zusammenhang mit Stimmengewinnen der Rechtsextremen von der marineblauen Welle (vague bleue Marine), in Anlehnung an den Namen von Parteichefin Marine Le Pen. Jene Welle schwappte dann allerdings doch nicht über ganz Frankreich, was zum Teil dem Wahlrecht geschuldet war. Jetzt hingegen ist zurecht von einer grünen Welle die Rede (une vague verte deferle sur la France).
Die zweite Runde der Gemeindewahlen (élections municipales) in Frankreich, die wegen der Covid19-Pandemie vom 22. März auf den 28. Juni 2020 verschoben wurden, brachten der Partei La République en marche (LREM) von Präsident Emmanuel Macron (*1977) fast nur Niederlagen. Als wichtigster Sieg gilt jener in der Hafenstadt Le Havre, wo der (relativ) beliebte Ministerpräsident Edouard Philippe (*1970) wieder antrat. Es war schon eine Schmach, dass er es in der ersten Wahlrunde vom 15. März 2020 nicht schaffte, gewählt zu werden. Immerhin schaffte er in in der Stichwahl mit gut 58% locker über die Ziellinie.
Dem Rassemblement National (RN) der extremen Rechten von Marine Le Pen (*1968) gelang es, die Stadt Perpignan zu gewinnen. Der neue Bürgermeister, Louis Aliot, ist der ehemalige Lebenspartner der Parteiführerin, von der er sich offiziell im September 2019 getrennt hat. In Perpignon kandidierte Louis Aliot auf einer „offenen Liste“, also nicht einer RN-Parteiliste. Laut Médiapart führte er einen Wahlkampf, der sich um Arbeitsplätze und Sicherheit, jedoch kaum um Immigration und Islam – sonst die Kernthemen des RN – drehte.
Die Sozialisten (PS) konnten die Stadt Lille verteidigen – Bürgermeisterin Martine Aubry (*1950) rettete sich mit einem Vorsprung von 227 Stimmen über die Ziellinie. Sie ist nicht nur die Tochter von Jacques Delors, der einst sozialistischer Finanzminster unter François Mitterrand und später EU-Präsident war, sondern setzte als Arbeitsministerin in der Regierung von Lionel Jospin die 35-Stunden-Woche durch, weshalb sie (mit guten Gründen) für viele ein rotes Tuch ist. Bei früheren PS-internen Wahlen wurde beschissen, woran Martine Aubry ihren Anteil hatte. Daher kommt es nicht überraschend, dass die mit Stéphane Baly knapp auf dem zweiten Platz gelandeten Grünen (Europe Ecologie Les Verts, EELV) sich bereits für eine Nachzählung in Lille entschieden haben.
Die totgesagten Sozialisten vom PS erlebten zudem Siege in Städten wie Rouen, Rennes und Nantes. Doch der Jackpot war Paris, eigentlich eine Hochburg von LREM. Das Bürgermeisteramt lag auf dem Präsentierteller. Doch Präsident Macron und seine hauptstädtischen Mitstreiter haben durch interne Querellen und andere Fehler die Wahlen in der Hauptstadt gründlich vergeigt. Zum Schluss reichte es für die LREM-Kandidatin Agnès Buzyn mit rund 13% nur zum abgeschlagenen dritten Platz, weit hinter Rachida Dati von LR mit 34,3% an zweiter Stelle. In Paris schaffte es die in Spanien geborene sozialistische Bürgermeisterin Anne Hidalgo (*1959), mit 48,5% der Stimmen ihr Amt zu verteidigen. Dies gelang ihr mit einem grünen und sozialen Programm: Bäume pflanzen, neue Fahrradwege und Fussgängerzonen, mehr Kinderkrippen und 15,000 neue Sozialwohnungen. Die Sozialisten hatten nicht nur die Unterstützung der Kommunisten (PCF), sondern im zweiten Wahlgang zudem der Grünen. Damit wären wir beim eigentlichen Wahlsieger angelangt.
Die Grünen – Europe Ecologie Les Verts (EELV) schaffen es erstmals, sich in grossen Städten durchzusetzen. In Marseille liegen sie mit Michèle Rubirola (*1956) vorne, haben allerdings keine Mehrheit im Stadtrat (conseil municipal), in dem die 101 Städträte in geheimer Wahl den Bürgermeister wählen werden. Allerdings wurden die bürgerlichen Les Républicains (LR) klar auf den zweiten Platz verwiesen. Ihre Spitzenkandidatin Martine Vassal (*1962) schaffte es nicht einmal, ihren Wahlkreis zu gewinnen; Marseille ist in 8 Wahlkreise (secteurs) unterteilt. Eine schwere Schlappe für die Politiker von LR, die seit 25 Jahren Marseille regier(t)en. Michèle Rubirola wurde übrigens vom Printemps marseillais getragen, einer Wahlallianz bestehend aus EELV, PCF, PS, etc. weshalb der Wahlsieg in der cité phocéenne neben den Grünen auch der Linken gehört. [Hinzugefügt am 4.7.2020 um 15:20: Michèle Rubirola (EELV) hat eine Mehrheit im Conseil municipal von Marseille erhalten und ist nun die Bürgermeisterin der Mittelmeer-Stadt: Nach mehrstündigem Wählen erhielt sie mit 51 Stimmen gerade die minimale absolute Mehrheit vor Guy Teissier mit 41 Stimmen].
Neben Marseille schafften es die Grünen zudem in der dritten französischen Grossstadt Lyon mit Grégory Doucet (*1973) an die Spitze. Der langjährige sozialistische Bürgermeister Gérard Colomb (*1947), der zu den frühen und bedeutenden Befürwortern von Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron gehörte und nach dessen Wahl Innenminister wurde, ehe er sich mit dem Präsidenten zerstritt, wollte nach Lyon zurückkehren. Er scheiterte schon früh mit seinem Plan und ging zuletzt mit seinen langjährigen bürgerlichen Gegnern von LR eine unglaubwürdige Allianz ein. Für die Grünen (EELV) kommen noch bedeutende Siege in wichtigen Städten wie Bordeaux, Strasbourg, Annecy, Besançon, Poitiers und Tours hinzu.
Der Vorsitzende der Partei Les Républicains (LR), Christian Jacob (*1959), hat sich am TV zurecht verärgert darüber gezeigt, dass man ob der grünen Welle vergisst, dass LR über die Hälfte der Sitze in den Gemeinden und Städten gewonnen haben. Allerdings verloren sie in den meisten grossen Städten. Zu den wenigen Ausnahmen gehören Toulouse und Nizza.
Der Stern von Macron sinkt, die grüne Welle erreicht Frankreich. Doch es gibt für alle Parteien einen Wehrmutstropfen bei der zweiten Runde der Gemeindewahlen: Die Wahlbeteiligung war die tiefste seit 1958 und lag bei lediglich 41,6%.
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Das Foto auf dieser Seite zeigt Präsident Macron. French President Macron at the Tallinn Digital Summit on September 28, 2017. Photo: Wikimedia Commons. Free photo licensed under the Creative Commons Attribution 2.0 Generic license.
Artikel vom 29. Juni 2020. Hinzugefügt um 17:16 Berliner Zeit. Korrigiert und ergänzt um 18:16.