In seinem neuesten Buch Der Aufstieg des Drachen und des weissen Adlers: Wie Nationen der Armut entkommen behandelt Rainer Zitelman den wirtschaftlichen Aufstieg von Polen und Vietnam (Amazon.de).
Seine Forschungen liessen Rainer Zitelmann zum vermeintlich paradoxen Ergebnis kommen, dass nur eine Gesellschaft, die Reichtum zulässt und Reichtum positiv sieht, Armut überwinden kann.
Repräsentative Meinungsumfragen, die er in zahlreichen Ländern hat durchführen lassen, zeigen, dass die Menschen besonders in Polen und Vietnam Reichtum und Reiche im Vergleich positiver sehen. In diesen Ländern wird zudem der Begriff »Kapitalismus« sehr viel positiver beurteilt als in den meisten anderen Ländern.
Beide Länder haben in den vergangenen Jahrzehnten ausserordentlich stark an wirtschaftlicher Freiheit gewonnen. Die amerikanische Heritage Foundation erstellt seit 1995 ein Ranking der wirtschaftlichen Freiheit. In keinem Land vergleichbarer Grösse nahm die wirtschaftliche Freiheit in diesem Zeitraum so sehr zu wie in Polen und Vietnam.
Beide Länder verbindet zudem, dass sie Schauplätze schrecklicher Kriege waren, in denen Abermillionen Menschen ihr Leben liessen – der Zweite Weltkrieg in Polen und der Indochinakrieg in Vietnam.
Was der Krieg nicht zerstört hatte, zerstörte danach in beiden Ländern die sozialistische Planwirtschaft. Vietnam war eines der ärmsten Länder der Welt und Polen eines der ärmsten Länder Europas.
Diese Buchkritik konzentriert sich auf die Kapitel zu Polen und seinem wirtschaftlichen Aufstieg.
Im ersten Kapitel unter dem Titel „Was gegen Armut hilft – und was nicht“ zitiert Rainer Zitelmann ausführlich William Easterly sowie Frank Bremer und sein Buch von 2021 50 Jahre Entwicklungshilfe – 50 Jahre Strohfeuer (Amazon.de) und kommt zum Schluss, dass Entwicklungshilfe ein Irrweg ist. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam übridens Linda Polman 2010 in Die Mitleidsindustrie (Amazon.de).
Rainer Zitelmann erwähnt, dass 1981 die Quote der Menschen, die in extremer Armut lebten, noch bei 42,7% lag. Bis 2000 sank sie auf 27,8%, 2021 lag sie unter 10%. Das ist zwar ein toller Erfolg – doch der kam nicht wegen, sondern trotz der Entwicklungshilfe zustande.
Rainer Zitelmann verweist als Mittel zur Entwicklung armer Länder auf Tomi Ovaska und seinen 2003 veröffentlichten Aufsatz »The Failure of Development Aid«, in dem er die Schaffung eines mit freien Märkten kompatiblen wirtschaftlichen Umfelds empfahl. Auch William Easterly empfiehlt die freie Marktwirtschaft als Lösung, doch viele Menschen glaubten, arme Länder seien arm, weil reiche ihnen etwas weggenommen hätten, so Rainer Zitelmann. Doch das sei eine Illusion, die Marktwirtschaft kein Nullsummenspiel.
Im zweiten und dritten Kapitel analysiert Rainer Zitelmann, wie der Kapitalismus den Polen und den Vietnamesen geholfen hat, ihren Lebensstandard zu verbessern und der Armut zu entkommen.
In Polen zirkulierte in den 1980er Jahren der Witz: Wie wird das Problem der Warteschlangen in den Geschäften gelöst, wenn wir den vollständigen Kommunismus erreicht haben? Es wird nichts mehr geben, wofür man Schlange stehen muss.
Seither hat sich Polen prächtig entwickelt. Seit 1989 hat sich das inflationsbereinigte Bruttoinlandsprodukt pro Kopf laut Rainer Zitelmann verdreifacht. Seit 1989 verzeichnet das Land ein durchschnittliches reales Wirtschaftswachstum von 3,5% pro Jahr und ist seit den marktwirtschaftlichen Reformen zur sechstgrössten Volkswirtschaft innerhalb der EU aufgestiegen, weil in kaum einem Land vergleichbarer Grösse die wirtschaftliche Freiheit so stark gestiegen ist.
Rainer Zitelmann verweist auf die Heritage Foundation und ihren seit 1995 jedes Jahr publizierten Index of Economic Freedom. Den theoretisch höchsten Wert von 100 erreicht keines der 177 erfassten Länder. Spitzenreiter waren 2022 Singapur und die Schweiz mit 84,4 bzw. 84,2 Punkten. Polen stand da mit 68,7 Punkten auf Platz 39. Das ist zwar weltweit noch kein Spitzenplatz, doch Polen ist damit bereits wirtschaftlich freier als beispielsweise Spanien, Israel, Frankreich oder Italien. Doch viel wichtiger erscheint Rainer Zitelmann die relative Veränderung seit 1995. Die Punktzahl stieg von 50,7 im Jahr 1995 auf 69,7 im Jahr 2021 – im Jahr 2022 verlor Polen einen Punkt und kam nur noch auf 68,7. Einige wenige, kleine Länder wie Georgien mit 3,7 Millionen Einwohner und Bulgarien mit 6,9 Millionen Einwohner verbesserten sich noch stärker. Doch von den Ländern, die mehr als 30 Millionen Einwohner haben, erlebte nur Vietnam, das sich von 41,7 auf 60,6 Punkte steigerte, einen vergleichbar herausragenden Zuwachs an wirtschaftlicher Freiheit.
Allerdings sind die wirtschaftliche Freiheit und der wirtschaftliche Aufstieg Polens seit 2015 in Gefahr. Damals übernahm die (ich: nationalistische und klerikal-konservative) PiS-Partei die Macht (ich: PiS steht übrigens für Partei für Recht und Gerechtigkeit, wovon in Polen seither immer weniger zu merken ist). Rainer Zitelmann erwähnt zurecht, dass die PiS-Regierung die Sozialausgaben massiv erhöhte, die Privatisierungen weitgehend stoppte und sogar einige bereits privatisierte Banken und Betriebe wieder in Staatseigentum überführte. Er betont, dass dies allerdings nichts an der 25jährigen, von 1990 bis 2015 andauernden wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte Polens ändert.
Rainer Zitelmann präsentiert kurz die Geschichte Polens, von den drei Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts über die vierte Teilung zwischen Hitler und Stalin und dem folgenden Massenmord bis hin zu den Jahrzehnten unter kommunistischer Herrschaft.
Nach dem Krieg wuchs die Arbeitsproduktivität in Polen nur langsam. In den 1950er- Jahren um 2,6% jährlich, im Vergleich mit 6,6% in Westdeutschland. Polens Bruttoinlandprodukt pro Kopf erhöhte sich in der Zeit des Sozialismus von 1950 bis 1989 um lediglich 2,2% pro Jahr. Und das sind die offiziellen Zahlen. Spanien, Portugal und Griechenland, die in den 1950er Jahren so arm wie Polen waren, wuchsen um das Doppelte, so Rainer Zitelmann.
Enteignungen, Kollektivierungen, Schikanen für kleine Ladenbesitzer beutelten die Wirtschaft. 1956 kam Władysław Gomułka an die Macht, der die noch nicht weit fortgeschrittene Kollektivierung der Landwirtschaft bremste und den Kampf gegen die Kulaken beendete. Von 10.000 landwirtschaftlichen Genossenschaften, die im September 1956 existierten, blieben bis Ende Jahr nur 1.500 bestehen. Während dem in der Sowjetunion, in der DDR und in Bulgarien über 90% des Bodens kollektiviert wurden, befanden sich in Polen nur 13% des Bodens in Staatsbesitz, weshalb Gomulka bei der Landbevölkerung populär war, so Rainer Zitelmann. Die Zahl der Handwerksbetriebe und der Kleinläden wuchs. Doch der Sozialismus funktionierte auch in Polen nicht. Reformen scheiterten, weil das Dogma des Staatseigentums an den Produktionsmitteln sowie die Planwirtschaft nicht in Frage gestellt wurden.
In den 1960er Jahren brauchte der durchschnittliche Pole 50% seiner Einkünfte für den Kauf von Lebensmitteln, 18% für Kleidung. Anfang der 1970er-Jahre verbesserte sich in der Regierungszeit von Edward Gierek (1970 – 1980) der Lebensstandard, doch dieses Wachstum basierte auf einer immer höheren Verschuldung gegenüber dem Ausland, was eine Ursache für die späteren, noch grösseren Probleme war. Das sozialistische Wirtschaftssystem produzierte kein nachhaltiges Wachstum. Die Planwirtschaft führte Ende der 1970er Jahren wieder vermehrt zu Engpässen. Noch 1990 besassen in Polen nur 14% der Menschen ein Auto, in der BRD waren es 1989 68%.
Das System wäre schon früher kollabiert, hätte sich nicht ein umfassender Schwarzmarkt entwickelt. Korruption und Schattenwirtschaft ermöglichten es, in der Planwirtschaft zu überleben. Sie wurden daher geduldet.
Die Reformen in den 1980er Jahren sollten den Sozialismus verbessern, ihn nicht abschaffen. Weshalb sie scheiterten. Laut Rainer Zitelmann war das Gute daran, dass dadurch die Illusionen auf einen „Dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus zerstört wurden. So bekam mit Leszek Balcerowicz ein wirklicher Reformer eine Chance.
Beim Zusammenbruch des Ostblocks waren die Polen ärmer als ein Durchschnittsbürger aus Gabun, der Ukraine oder Surinam. Das Pro-Kopf-BIP war nur halb so hoch wie das Einkommensniveau in der Tschechoslowakei. Niemand erwartete damals ein Wirtschaftswunder in Polen.
Rainer Zitelmann notiert in Der Aufstieg des Drachen und des weißen Adlers: Wie Nationen der Armut entkommen (Amazon.de), dass der entscheidende Impuls für das Ende der sozialistischen Diktatur von den Arbeitern ausging. Die Streiks auf der Danziger Werft gehören zu den bekanntesten Ereignissen. Hinzu kam, dass im Oktober 1978 ein Pole, der 1920 in Wadowice geborene Karol Józef Wojtyła, zum Papst gewählt wurde (Johannes Paul II), der eindeutig für die Freiheit stand. Millionen Polen säumten die Strassen, als er im Juni 1979 seine Heimat besuchte.
Rainer Zitelmann betont zurecht, dass die Arbeiterschaft, angeblich ja die herrschende Klasse in der »Diktatur des Proletariats«, jene Kraft war, die sich immer wieder gegen die Herrschenden auflehnte und ihrem Unmut durch Streiks und Demonstrationen Nachdruck verlieh. Die kommunistische Regierung musste dem Druck nachgeben und die Gewerkschaft anerkennen. Rund zehn Millionen Polen traten der Gewerkschaft Solidarność bei. Bis 1981 verliessen rund 350.000 Mitglieder die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei (PZPR) des Regimes, vor allem Arbeiter.
Am 13 . Dezember 1981 verhängte die polnische Regierung das Kriegsrecht und inhaftierte den populären Arbeiterführer Lech Wałęsa. Solidarność und die gesamte Opposition mussten erneut im Untergrund agieren. Die wirtschaftliche Lage verschärfte sich weiter. Ende der 1980er- Jahre kam es erneut zu Massenstreiks. Die polnische Regierung musste im Februar 1989 der Bildung eines »Runden Tisches« zustimmen. An ihm nahmen neben der kommunistische Partei PZPR die Gewerkschaft Solidarność und die katholische Kirche teil. Der Runde Tisch führte zur Wiederzulassung der Gewerkschaft Solidarność sowie zu Wahlen, die laut Rainer Zitelmann zwar nicht dem westlichen Standard von freien Wahlen entsprachen, sich aber von Scheinwahlen, wie sie für kommunistische Staaten typisch waren, deutlich unterschieden.
161 der 460 Sitze des polnischen Parlaments Sejm konnten frei gewählt werden. Bei vorangegangenen Wahlen war die Auswahl auf die kommunistische Partei PZPR und andere regimetreue Parteien limitiert, nun konnten erstmals unabhängige Personen kandidieren. Zudem wurde die zweite Kammer des Parlaments, der Senat, wieder eingeführt. 100 Sitze konnten die Wahlberechtigten besetzen. Bei der Sejm-Wahl im Juni 1989 trat das Bürgerkomitee Solidarność an und erreichte bereits im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der frei zu wählenden Sitze im Sejm. Nach dem zweiten Wahlgang war klar, dass neben allen 161 Sejm-Abgeordneten der Solidarność auch 99 ihrer 100 Kandidaten einen Sitz im Senat gewonnen hatten.
Die wirtschaftliche Lage im sozialistischen Polen schien aussichtslos. Selbst Teile der herrschenden Partei hatten laut Rainer Zitelmann erkannt, dass nur noch die unternehmerische Freiheit Polen retten könne. Deshalb wurde am 27 . September 1988 der Unternehmer Mieczysław Wilczek, der seit 1985 Berater verschiedener Ausschüsse des Sejm war, von Ministerpräsident Mieczysław Rakowski zum Industrieminister berufen. Dieses Amt bekleidete er bis zum Ende der Amtszeit Rakowskis und seiner Ablösung durch Tadeusz Syryjczyk am 12 . September 1989. Im Jahr 1988 legte Wilczek einen nach ihm benannten Gesetzentwurf Act on Business Activity im Sejm vor, der die Gründung von kleinen Unternehmen in den letzten Monaten der Polnischen Volksrepublik in die Wege leitete. Das Gesetz erlaubte vereinfacht gesagt jedem polnischen Bürger jede Art von wirtschaftlicher Aktivität. Dass die regierenden Kommunisten ein solches Gesetz akzeptierten, war eine Verzweiflungstat, so Rainer Zitelmann. Die Gründung eines Unternehmens wurde plötzlich einfach. Tausende wagten diesen Schritt. Das Gesetz setzte laut Rainer Zitelmann viel unternehmerische Initiative frei. Innerhalb eines Jahres wurden rund zwei Millionen Unternehmen gegründet und sechs Millionen Arbeitsplätze geschaffen.
Die Reform von Mieczysław Wilczek wies bereits über das kommunistische System hinaus. Allerdings wurden viele Unternehmen von Mitgliedern der Nomenklatura gegründet, was zur teilweisen Oligarchisierung Polens führte.
Rainer Zitelmann schreibt in Der Aufstieg des Drachen und des weißen Adlers: Wie Nationen der Armut entkommen (Amazon.de), dass der polnische Wirtschaftsreformer Leszek Balcerowicz 1947 in Lipno geboren wurde. Er studierte Aussenhandel an der Hochschule für Planung und Statistik in Warschau, der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät mit der wahrscheinlich grössten Offenheit in den sozialistischen Ländern. 1975 promovierte er mit einer Doktorarbeit zur Untersuchung der westlichen Literatur zum Thema technischer Wandel. In den 1960er Jahren trat er der PZPR bei, weil er nur innerhalb der Partei die Chance sah, etwas verändern zu können, so Rainer Zitelmann. Leszek Balcerowicz erhielt in den 1970er-Jahren ein Stipendium für die USA. Sein dortiges Studium schloss er mit einem Master of Business Administration ab. Er gründete bei Entstehen der Solidarność ein Team, das Pläne für eine Wirtschaftsreform ausarbeitete. Wie die anderen Reformer begann er mit Ideen, die im Rahmen eines sozialistischen Systems zu mehr Marktwirtschaft und Wettbewerb führen würden. Doch schon bald erkannte er, dass innerhalb des engen planwirtschaftlichen Korsetts keine wirklichen Änderungen möglich waren.
Bei den Wahlen vom Juni 1989 fuhr Solidarność einen überwältigenden Sieg ein. Ende August 1989 fragte der neue polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki, ob Leszek Balcerowicz nicht »sein Ludwig Erhard werden« wolle. Von 1989 bis 1991 diente Leszek Balcerowicz in den ersten nichtkommunistischen Regierungen unter Tadeusz Mazowiecki und dessen Nachfolger Jan Krzysztof Bielecki als Vizepremier und Finanzminister.
Laut Rainer Zitelmann war die Ausgangslage für Polen besonders schwierig, da das Land im Gegensatz zu vielen anderen sozialistischen Ländern nicht nur mit den Problemen von Jahrzehnten der Planwirtschaft, sondern zusätzlich mit einer sehr hohen Inflation und einer gewaltigen Staatsverschuldung zu kämpfen hatte.
Bereits 1984 war Polen der dritttgrösste Schuldner der Welt. Die Auslandsschulden Polens (vor allem gegenüber kapitalistischen Ländern) explodierten von $1,1 Milliarden im Jahr 1971 bis auf $40 Milliarden im Jahr 1989, stärker als in den anderen sozialistischen Ländern. Die Inflation lag 1989 auf das Jahr gerechnet in Polen bei 640%, in Ungarn bei 18,9%, in Bulgarien bei 10%, in der Tschechoslowakei bei 1,5% und in Rumänien bei 0,6%.
Polen kannte keine umfassende Kollektivierung der Landwirtschaft, doch die 2,7 Millionen Privatbetriebe hatten eine durchschnittliche Größe von lediglich 7,2 Hektar, während dem in der Bundesrepublik Deutschland die von einem Landwirt bearbeitete Fläche zwischen 1950 und 1989 von 2,9 auf 12,5 Hektar gewachsen war. Die extreme Zersplitterung der landwirtschaftlichen Fläche war ein Rentabilitätsproblem.
Am wichtigsten waren die Probleme durch die Planwirtschaft, in der es an echten Preisen und am Wettbewerb fehlt. Leszek Balcerowicz verstand, dass kleine Reformschritte bei diesen Problemen nichts helfen, sondern nur schnelle, umfassende und radikale Reformen in allen Bereichen. Zudem hatte der Ökonom ein gutes politisches Gespür, das ihm sagte: Es gibt in der aufgewühlten Situation nur ein sehr kurzes Zeitfenster für Reformen.
Rainer Zitelmann schildert, wie Leszek Balcerowicz kurzfristig durch eine vernünftige Geldpolitik die Inflation einzudämmen suchte, wozu er das Problem der Auslandsschulden durch Verhandlungen mit den Gläubigern lösen musste, von denen ein Schuldenerlass eher zu erwarten, wenn sie sahen, dass Polen marktwirtschaftliche Reformen durchführen würde, die er ohnehin im Sinn hatte – nur hatte er jetzt mit dem Hinweis auf die ausländischen Gläubiger noch ein zusätzliches Argument dafür.
Durch die radikale Liberalisierung der Preise hoffte er, kurzfristig das Angebot an Waren verbessern zu können, sodass die Menschen im Alltag merkten, dass ihnen die Reformen etwas brachten.
Zudem schuf er Institutionen, die für das Funktionieren einer kapitalistischen Wirtschaft wichtig sind, darunter eine unabhängige Zentralbank und eine Börse. Hinzu kamen die Privatisierung von Staatsunternehmen sowie die Einführung von Import- und Exportkontrollen.
Die Regierung verabschiedete den »Balcerowicz-Plan« Ende 1989 und im Februar 1990. Im Juli stimmte das polnische Parlament zu. Weitere Reformen beinhalteten ein Versicherungsgesetz, ein Konkursgesetz und eine Steuerreform. Das Reformfeuerwerk führte zu Erfolgen. Der Verbraucherpreisindex (VPI) lag in den letzten fünf Monaten des Jahres 1989 auf Jahresbasis bei rund 3.000%. Die VPI-Inflation betrug Ende 1990 „nur“ noch 249%, 1991 lag sie bei 60,4%, 1992 bei 44,3% und 1993 bei 37,6%. Rainer Zitelmann zitiert Leszek Balcerowicz dazu mit den Worten, die Geldentwertung sei zwar immer noch eindeutig zu hoch gewesen, doch sollte man die Disinflation in Polen mit jener in dern hochinflationären lateinamerikanischen Staaten vergleichen. In Chile und Mexiko habe es sieben Jahre gedauert, die dreistellige Inflation auf 15% bis 20% zu senken. Die Disinflation in Polen sei in einer Zeit der radikalen Veränderung der relativen Preise erfolgt. Das wiederum habe eine enorme Erhöhung einiger Schlüsselpreise und hier insbesondere der Energiepreise erfordert.
Die sozialistische Mangelwirtschaft wurde überwunden. Rasch waren viel mehr und bessere Produkte in Polen erhältlich. Eine negative Folge der Reformen in allen sozialistischen Staaten war allerdings ein vorübergehender Einbruch des BIP. In Polen betrug der Rückgang im Jahr 1990 11,6%, 1991 noch 7,6%, doch bereits 1992 stieg es um 1,5% und 1993 um 4%. Die Schocktherapie wirkte. Polen erholte sich rascher als alle anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks. Hinzu kommt, dass den Statistiken aus der Zeit des Sozialismus, die aufgebläht waren, nicht zu trauen war.
Durch die wirtschaftlichen Reformen in Polen stiegen die Arbeitslosenzahlen von (offiziell) null auf 12% Jahr 1991, auf 14% im Jahr 1992 und verharrten danach länger auf diesem Level. In allen sozialistischen Ländern gab es offiziell weder Arbeitslosigkeit, Armut, nennenswerte Kriminalität noch Umweltzerstörung. Für die DDR berechnete das Institut für Wirtschaftsforschung (ifo) jedoch, dass die verdeckte Arbeitslosigkeit rund 15% betrug. In Polen gehen Schätzungen von einer noch höheren verdeckten Arbeitslosigkeit aus, die 1981 und 1982 am höchsten war und sich für die Gesamtwirtschaft auf rund 29% belieft, in der Industrie sogar auf 38%. In den übrigen Jahren schwankte sie in der Gesamtwirtschaft um 20% bis 25%, in der Industrie um 30% bis 35%.
Die sozialistische Führung kannte das Problem. Im April 1987 traf General Jaruzelski den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow und berichtete ihm, dass Polens Probleme zum Teil durch die Fiktion der Vollbeschäftigung verursacht seien. Zur Veranschaulichung erzählte er ihm den folgenden Witz: Zwei Kerle schieben die gleiche Schubkarre. Jemand fragt sie: Warum macht ihr das zu zweit? Sie antworten: Weil der dritte krankgeschrieben ist.
Nach dem Ende der sozialistischen Mangelwirtschaft mit international nicht-konkurrenzfähigen Unternehmen, die durch Abschottung und Subventionen am Leben gehalten worden waren, stieg die nun offene Arbeitslosigkeit an. Staatsunternehmen schrumpften, konnten zum Teil nicht schnell genug privatisiert werden. Doch allein zwischen 1990 und 1993 entstanden rund 1 Million neue, private Betriebe. Der private Sektor stieg von 13,2% im Jahr 1989 auf 34,4% im Jahr 1992. Unter Einschluss von Landwirtschaft und Genossenschaften stieg der Anteil der Beschäftigen im Privatsektor auf rund 60% aller Beschäftigten und etwa 50% des polnischen BIP.
1989 hatten ausländische Unternehmen lediglich $60 Millionen in Polen investiert. 1993 waren es bereits $1,5 Milliarden. Polen wurde attraktiv. Bei 80% der ausländischen Investitionen ging es nicht um Privatisierungen, von einem „Ausverkauf der Heimat“ konnte keine Rede sein.
2017 erschien das Buch Europe’s Growth Champion des Ökonomen Marcin Piatkowski, in dem er nach einem Vierteljahrhundert Bilanz zog und festhielt, dass Polen nach 25 Jahren zum unangefochtenen Vorreiter des Wandels und zum Wachstumschampion in Europa und der Welt sei. Seit Beginn des postkommunistischen Übergangs im Jahr 1989 sei Polens Wirtschaft stärker gewachsen als die jedes anderen Landes in Europa. Das polnische BIP pro Kopf sei fast um das Zweieinhalbfache gestiegen. Dieser Zuwachs übertreffe nicht nur jenen in allen anderen postkommunistischen Staaten, sondern der Euro-Zone.
Nicht nur wirtschaftlich war ein Aufstieg zu verzeichnen, sondern auch umweltpolitisch. Hinzu kommt, dass 1992 nur 50% der Polen glücklich waren, 2015 hingegen 80%. Die Lebenserwartung stieg von 70,7 Jahren bei Geburt im Jahr 1990 auf 78,5 Jahre 2020.
Ungünstigerweise kam es bereits 1991 zu Wahlen, weshalb Leszek Balcerowicz und die anderen Reformer nicht genügend Zeit hatten, die Früchte ihrer Arbeit zu ernten. Doch ab 1995 war er Vorsitzender der grössten pro-Marktwirtschafts-Partei in Polen, der Freedom Union, und von Oktober 1997 bis Dezember 2000 wurde er erneut stellvertretender Premierminister und Finanzminister in Polen. Die zweite Amtszeit war von schwierigen äusseren Rahmenbedingungen gekennzeichnet, denn 1998 erschütterten die Asien-Krise und die Russland-Krise die Finanzmärkte.
Das Buch enthält zudem Angaben zur PiS-Regierung, unter der nicht nur die Medienvielfalt leidet und die politische Freiheit schwindet, sondern auch die wirtschaftliche Freiheit eingeschränkt wird. Hinzu kommen Ausführungen darüber, wie die Polen über den Kapitalismus und über reiche Menschen denken.
In seinem „Resümee“ hält Rainer Zitelmann unter anderem fest, dass der Kapitalismus nicht von oben verordnet werden kann, doch er ist im Gegensatz zum Sozialismus der Schlüssel zum wirtschaftlichen Aufstieg.
Wie oben erwähnt sind dies hier alles nur Ausführungen zu Polen. Die andere Hälfte des lesenswerten Buches handelt von Vietnam.
Rainer Zitelmann: Der Aufstieg des Drachen und des weißen Adlers: Wie Nationen der Armut entkommen, Finanzbuchverlag, 2023, 208 Seiten. Das Kindle eBook runterladen bzw. das gebundene Buch bestellen bei Amazon.de.
Rainer Zitelmann wurde 1957 in Frankfurt am Main geboren. Er studierte von 1978 bis 1983 in Darmstadt Geschichte und Politikwissenschaft und schloss sein Studium »mit Auszeichnung« ab. 1986 promovierte er bei Professor von Aretin mit der Dissertation Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs zum Dr. phil. Die mit summa cum laude bewertete Studie fand weltweit Beachtung.
Von 1987 bis 1992 arbeitete Zitelmann am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin. Danach war er Cheflektor des Ullstein-Propyläen-Verlages, damals die drittgrösste Buchverlagsgruppe Deutschlands, und leitete bis zum Jahr 2000 verschiedene Ressorts der Tageszeitung Die Welt. Im Jahr 2000 machte er sich selbstständig und gründete das PR-Unternehmen Dr. Zitelmann PB. GmbH, das seitdem Marktführer für die Positionierungsberatung von Immobilienunternehmen in Deutschland ist. 2016 verkaufte er das Unternehmen und promovierte im selben Jahr er ein zweites Mal – diesmal in Soziologie zum Dr. rer. pol. – beim Reichtumsforscher Professor Lauterbach an der Universität Potsdam. Diese zweite Dissertation erschien unter dem Titel Psychologie der Superreichen neben Deutschland zudem in den USA, China, Südkorea und Vietnam.
Rainer Zitelmann hat bislang 27 Bücher geschrieben und herausgegeben, die weltweit in 30 Sprachen übersetzt wurden. Er betätigt sich weltweit als Vortragsredner und veröffentlicht reglmässig Artikel bzw. gibt den führenden Medien dieser Welt Interviews.
Zu seinen Büchern mit ähnlicher Themenstellung gehören Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung aus dem Jahr 2018 (Amazon.de) und Die 10 Irrtümer der Antikapitalisten aus dem Jahr 2022 (Amazon.de). Mehr Informationen über den Lebensweg von Rainer Zitelmann finden Sie in seiner Autobiografie Wenn du nicht mehr brennst, starte neu! aus dem Jahr 2022 (Amazon.de).
Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Buchkritik von Der Aufstieg des Drachen und des weißen Adlers: Wie Nationen der Armut entkommen sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.
Rezension / Buchkritik vom 14. Juli 2023 um 17:02 deutscher Zeit.