Was die Europäische Union (EU) in der Flüchtlingspolitik betreibt, ist palliativ. Reine Symptombekämpfung ist kein Ersatz für einen umfassenden Ansatz. Die Flüchtlingswelle ist die Folge der fehlenden Sicherheitspolitik der EU.
Von Libyen über Syrien und den Irak bis nach Afghanistan, vom Kongo über Nigeria bis in die Türkei und die Ukraine reichen Konflikte, deren Schockwellen bis nach Europa zu verspüren sind.
Vor Jahrzehnten legten die Europäer ihre Sicherheit in die Hände der USA. Der Auslagerung der Militärpolitik folgte eine sinkende Bereitschaft, sich selbst die Hände schmutzig zu machen. Wo Nato draufsteht, sind eigentlich nur die USA drin. Die europäischen Partner sind zumeist gar nicht in der Lage, in Konflikte einzugreifen, selbst wenn es ihre vitalen Interessen berührt.
Der EU fehlt es bis heute an einer gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik. Die Wirtschaftsmacht EU ist ein militärpolitischer Zwerg, trotz einer bedeutenden Waffenindustrie in Deutschland, Frankreich, Italien und Grossbritannien.
Als es um den Sturz des syrischen Diktators Assad ging, war nur der französische Präsident Hollande zu einem Militäreinsatz bereit. Im letzten Moment zögerte sogar US-Präsident Obama, obwohl Assad von ihm gezeichnete rote Linien überschritten hatte. Obama fürchtete wohl ein Desaster wie jenes von George W. Bush im Irak. Das Resultat sind bis heute rund vier Millionen Flüchtlinge, die ins Ausland gingen. Hinzu kommen rund 250,000 Tote sowie Millionen, die innerhalb von Syrien vertrieben wurden (Displaced Persons).
Der US-Senator John McCain hatte zu Beginn der Krise den richtigen Ansatz aufgezeigt. Eine No-Fly-Zone hätte durchgesetzt werden müssen. Sicherheitszonen für die Zivilbevölkerung hatten so geschaffen werden können. Der Bürgerkrieg hätte vielleicht noch im Keim erstickt werden können. Auf jeden Fall hätte er sich nicht zum heutigen Desaster auswachsen können.
Die aktuelle Flüchtlingswelle ist der zu bezahlende Preis für den fehlenden Interventionswillen von USA und EU, wobei die EU alleine natürlich zu rein gar nichts in der Lage gewesen wäre und ist.
Zwischen 1,8 und 2 Millionen der syrischen Flüchtlinge wurden von der Türkei aufgenommen. Rund 1,2 Millionen befinden sich im Libanon (rund 20% der Gesamtbevölkerung!), rund 650,000 in Jordanien (rund 10% der Gesamtbevölkerung), um die 250,000 im Irak und 130,000 in Ägypten. Die Golfmonarchien haben natürlich so gut wie niemanden aufgenommen.
Wenn die Europäer insgesamt 2 Millionen Flüchtlinge aufnehmen würden, so wäre dies sicher zu verkraften, insbesondere, wenn alle Länder mitmachen würden. Doch wie erwähnt, wäre dies nur Symptombekämpfung [Hinzugefügt um 19:43: Siehe zu diesem Thema die Buchkritik Die Mitleidsindustrie]. An die Wurzeln der vielen Übel in der Region wagt sich niemand seriös heran.
Weil die USA unter Präsident Obama sich dazu entschieden haben, sich weitgehend aus den Konflikten dieser Welt zurückzuziehen, ist in vielen Regionen der Welt ein Machtvakuum entstanden, in das gefährliche Kräfte wie die Terrororganisation IS gestossen sind. Der IS kontrolliert nicht nur ein riesiges Territorium, sondern zudem immense Ressourcen. Dazu zählen nicht nur Erdöl und Erdgas. Es sind Banken mit Bargeld und Gold in ihre Hände gefallen. Selbst wenn der IS rasch militärisch besiegt werden würde, so blieben Milliarden Euro in den Händen der Terroristen. Das ist eine ganz neue Dimension. Früher verfügten Terrororganisation wie Al-Kaida bestenfalls über einige Dutzend Millionen Euro. Die jetzt erbeuteten Milliarden können im schlimmsten Fall noch über Jahrzehnte hinweg Terroraktionen rund um den Globus finanzieren.
Die Europäer alleine sind heute nicht in der Lage, bedeutende Interventionen durchzuführen. Als die Regierungen Sarkozy und Cameron den libyschen Diktator Gaddafi stürzten, kamen Franzosen und Briten 2011 an ihre militärischen Limiten. Ohne die Hilfe der USA wäre bereits die Militäroperation zum Desaster geworden. So ging den Briten und Franzosen laut Presseberichten schlichtweg die Munition aus. Noch schwerer wog, dass die ehemaligen Kolonialmächte die Lektion aus dem Irakkrieg von George W. Bush nicht gelernt hatten. Sie hatten für die Zeit nach der Vertreibung des Diktators ebenfalls keinen Plan. Heute herrscht in Libyen Chaos, was zur Destabilisierung der Grossregion beiträgt und die Flüchtlingsströme verstärkt.
Die Destabilisierung Malis war eine Folge des Libyen-Krieges, weil aus jenem Land nach der Intervention gegen Gaddafi Islamisten und Söldner nach Mali drangen. Immerhin schafften es die Franzosen in Mali, die Lage weitgehend unter Kontrolle zu bringen. Das lag nicht zuletzt daran, dass für einmal eine lokale Bevölkerung fast vollständig den Einsatz der Franzosen willkommen hiess.
Die Franzosen handelten natürlich nicht ganz uneigennützig. Im Nachbarland Niger baut der französische Konzern Areva seit einem halben Jahrhundert Uran ab. Areva befindet sich zu 80% in französischem Staatsbesitz. Ein Grossteil von Arevas Yellow Cake kommt aus den Minen in Niger. Die Französische Regierung hatte folglich ein strategisches Interesse daran, dass die Lage im Nachbarland Mali, das nicht durch eine natürliche Grenze von Niger getrennt ist, nicht ausser Kontrolle gerät.
Bereits im September 2010 waren französische Mitarbeiter aus einer gesicherten Wohnanlage von Areva in Niger verschleppt worden. Ein Dokumentarfilm, der vor der französischen Intervention in Mali gedreht wurde, zeigt eindrücklich die dortige Sicherheitslage. 2013 kam es erneut zu Angriffen auf Areva-Mitarbeiter in Niger, dem viertgrössten Uranproduzenten der Welt.
Bis 2014 flossen die Gewinne aus dem Uranabbau in Niger weitgehend nach Frankreich. Erst in jenem Jahr wurde nachverhandelt und die Firma verpflichtete sich, etwas mehr Steuern zu zahlen und mehr für die Umwelt und die Lokalbevölkerung zu tun.
In der Vergangenheit hat sich die Areva nicht mit Ruhm bekleckert. 2008 erhielt die Firma den Public Eye Award, der von Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace für besonders rücksichtsloses Verhalten verliehen wird. In firmeneigenen Krankenhäusern von Areva in Niger wurde krebskranken Patienten HIV-Diagnosen gestellt, damit der französische Staatskonzern nicht für die Behandlung von ehemaligen Mitarbeitern aufkommen musste, die an den Folgen radioaktiver Verstrahlung litten.
Der erfolgreiche Mali-Einsatz der Franzosen ist folglich eine militärische Erfolgsgeschichte mit üblem Beigeschmack.
Ein peinliches Trauerspiel findet in der Ukraine statt. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland sind ein Feigenblatt für eine Politik, die nicht wirklich handlungsfähig ist. Besonders versagt haben natürlich jene Länder, die 1994 im Budapester Memorandum die territoriale Integrität der Ukraine im Gegenzug für den Verzicht der Ukraine auf Nuklearwaffen garantierten. Zu den Versagern gehören neben dem Aggressor Russland die USA und Grossbritannien.
Die Zukunft der Ukraine mit Poroschenko und Klitschko ist ungewiss. Zudem hat sich der Westen die neue ukrainische Regierung schöngeredet. Präsident Poroschenko ist ein Oligarch. Premierminister Jazenjuk ist ebenfalls nicht arm. Dass beim Reichwerden alles legal zuging, können nur ganz naive Geister glauben. Natürlich war der davongejagte Präsident Janukowitsch im Vergleich dazu noch viel skrupel- und schamloser, doch bei allen ukrainischen Politikern sollte der Westen sehr genau hinschauen. Poroschenko hat sich bis heute nicht wie versprochen von seinem Wirtschaftsimperium getrennt.
Natürlich unternimmt die ukrainische Regierung einige Schritte in die richtige Richtung, insbesondere beim Aufbau einer sauberen Polizei mit Hilfe von Vize-Innenministerin Eka Zgouladze, die eine ähnliche Reform mit Erfolg in Georgien durchgeführt hat, doch der Weg zum Rechtsstaat ist lang und muss beständig überprüft werden. Die EU sollte mit Rat und Tat zur Seite stehen und vor klaren Worten und notfalls auch harten Entscheiden nicht zurückschrecken, damit der Reformprozess eine Chance hat und nicht zuletzt an den Interessen der nach wie vor omnipräsenten Oligarchen scheitert. In der Ukraine leben rund 43 Millionen Menschen. Das ist ein riesiges Flüchtlingspotential, sollten die EU und die USA dort mit ihrer Stabilitätspolitik scheitern. Ob es einem gefällt oder nicht, ohne Berücksichtigung von Putins Interessen (bis zu einem gewissen Grad natürlich), wird die Ukraine nicht zur Ruhe kommen.
US-Präsident Obama hat im Grundsatz recht, dass es an den Europäern ist, mehr aussen- und sicherheitspolitische Verantwortung zu übernehmen, sowohl innerhalb wie ausserhalb der Nato. Es kann nicht sein, dass wo Nato draufsteht, de facto nur die USA drin sind. Der Mittelmeerraum ist natürlich eine Region, in der in erster Linie die Europäer für Recht und Ordnung, für Frieden und Stabilität, für die Einhaltung der Menschenrechte und für die Prosperität zuständig sein sollten.
Von Libyen bis nach Syrien, in die Türkei und die Ukraine ist eine ganze Grossregion destabilisiert. Hinzu kommen wirtschaftliche und finanzielle Schwierigkeiten, insbesondere an den Rändern der EU, so in Portugal, Spanien, Italien und Griechenland.
Portugal und Spanien scheinen die Zeit der Diktatoren politisch erfolgreich weit hinter sich gelassen zu haben, doch wirtschaftlich wiegt das Erbe von Salazar und Franco noch immer schwer. Strukturprobleme wie die Arbeitslosigkeit von über 20% in Spanien haben tiefe Wurzeln.
In Griechenland wirken Jahrhunderte ottomanischer Herrschaft, die Auseinandersetzungen während des Zweiten Weltkrieges sowie die Militärdiktatur nach, die erst mit den Wahlen vom November 1974 endete. Danach folgten Jahrzehnte der Misswirtschaft und Korruption, des Nepotismus und der Inkompetenz durch Nea Dimokratia und Pasok, wobei die Bürgerlichen Morgen, am 20. September 2015, erneut zur stärksten Kraft in Griechenland werden könnten.
Selbst grosse Länder wie Italien und Frankreich haben noch grosse Reformen vor sich. Die Wirtschaftskrise ist selbst in Grossbritannien noch nicht völlig überwunden, wovon nicht zuletzt das Defizit zeugt. Deutschland wiegt sich in trügerischer Sicherheit. Doch die fleischgewordene schwarze Null, Angela Merkel, hat in ihren zehn Jahren als Kanzlerin zu wenig Reformen angepackt und noch weniger durchgesetzt. Das wird sich noch rächen.
In wirtschaftlich angeschlagenen Staaten ist die Bereitschaft zu finanziellen Opfern für eine kohärente Aussen- und Sicherheitspolitik begrenzt. Die aktuelle Flüchtlingswelle ist nur ein Resultat dieser fehlenden Weitsicht. Das wird im Endeffekt menschlich wie finanziell nur noch teurer.
In der EU-Agrarpolitik werden unsinnige Summen verbuttert. Die Landwirtschaft ist nach wie vor der grösste Einzelposten im EU-Budget. Die Aussen- und Sicherheitspolitik fristet derweil ein Schattendasein. So kann es nicht weitergehen.
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Artikel vom 19. September 2015 um 12:06 CET. Hinzugefügt (mit der EU-Flagge) zu unseren Seiten in neuem Design am 18. März 2023. Das Mittelmeer ist das Mare Nostrum. Europa hat hier vitale Interessen – und daher auch Pflichten.