Die Geschichte des Hotel Waldhaus Sils

Nov 07, 2019 at 12:30 2030

Vor 111 Jahren öffnete das Hotel Waldhaus Sils seine Pforten. Aus diesem Anlass verfasste Urs Kienberger, ein Urenkel des Hotelgründers Josef Giger, eine Geschichte und Geschichten zu einem unvernünftigen Hoteltraum. Er selbst leitete von 1989 bis 2014 zusammen mit seiner Schwester und deren Mann, Maria und Felix Dietrich, das Haus. Das Familienhotel wird inzwischen von der vierten Generation geführt.

Der Hotelgründer Josef Giger war ein Kind von Bauern und Gastwirten aus Murg, einem kleinen Dorf am Walensee. Sein Eltern führten später das Gasthaus Zum Ochsen sowie das Hotel Quellenhof im graubündischen Ragaz. Josef selber verschrieb sich der Hotellerie. Als 1905 die Arbeiten am Oberengadiner Hotel Waldhaus Sils begannen, konnte er bereits auf eine lange Karriere als Hotelier zurückblicken. So leitete er zum Beispiel seit 16 Jahren das grosse St. Moritzer Hotel du Lac. Von dort nahm er den jungen Chef de Réception, Oskar Kienberger, mit auf sein neues Abenteuer mit seinem ersten, eigenen Hotel. Kienberger sollte seine zweite Tochter Helen heiraten und den Betrieb in zweiter Generation weiterführen.

Gebaut wurde das 1908 eröffnete Hotel Waldhaus Sils übrigens vom erfolgreichen St. Moritzer Architekten Karl Koller, der keinen eigenen Baustil begründete, sondern seine Architektur den Bedürfnissen seiner jeweiligen Kunden anpasste.

So ein grosses Hotel in die Schweizer Alpen zu setzen war damals kein einfaches Unterfangen. Seit dem Jahr 1900 galt in der Region ein Automobilverbot. Es brauchte neun (!) kantonale Volksabstimmungen, bis im Sommer 1925 in Graubünden Autos wieder offiziell zugelassen wurden. Die Schweizer Post kam noch bis in die Mitte der 1920er Jahren mit romantischen fünfspännigen Schlitten ins Oberengadin.

Nicht nur die Hunde liessen sie tanzen: Oskar Kienberger (1879-1965), Waldhaus-Hotelier in der zweiten von mittlerweile fünf Waldhaus-Generationen. Photo aus dem hier besprochenen Buch. Foto Copyright © Hotel Waldhaus Sils.

Die Zäsur des ersten Weltkrieges: «Auszug aus Ägypten»

Die Hotelgeschichte von Urs Kienberger bietet einige dramatische Kapitel mit Berichten von Zeitzeugen. So traf der Kriegsausbruch 1914 das Waldhaus so unvorbereitet wie alle anderen. Die Saison hatte zwar etwas zögerlich begonnen, aber ungeachtet der Schüsse von Sarajevo vom 28. Juni stieg die Gästezahl gegen den 25. Juli auf über 200. Selbst ein preussischer Generalleutnant war da. Zu den weiteren Gästen gehörten «Herr und Frau Verlagsbuchhändler S. Fischer» aus Berlin und Herr und Frau Fritz Thyssen aus Mülheim an der Ruhr (samt Tochter mit Erzieherin und Jungfer). Hinzu kamen Gäster aus Österreich, Ungarn, Russland Grossbritannien, Frankeich, Belgien, den Niederlanden, den USA, Italien sowie ein Gast aus Serbien. Noch waren sie alle friedlich vereint.

Nach dem Ultimatum Österreichs an Serbien vom 23. Juli 1914 begannen sich verschiedene Familien zu beunruhigen und reisten vorzeitig ab. Als dann die fatale Kettenreaktion der gegenseitigen Kriegserklärungen und am 2./3. August der deutsche Überfall auf Luxemburg und Belgien erfolgte, war kein Halten mehr. Ab dem 1. August kam es, wie es der Jahresbericht ausdrückt, zum «Auszug aus Ägypten». Vier Tage später waren alle Hotelgäste weg, das Haus leer und die Saions vorzeitig zu Ende. Die Urgrossmutter von Urs Keinberger, Amalie Giger, hat das Geschehen jener Tage und der ersten Kriegsmonate eigenhändig aufgezeichnet (leicht editiert): Mit blutendem Herzen sahen wir in 3 Tagen 147 Personen abreisen und die 40 Gästse, die uns noch blieben, konnten ihre Noten nicht wechseln und ihre Schecks nicht einlösen, da die Banken keine Fremden Valoren mehr annahmen. So wurden viele Rechnungen nicht bezahlt. So blieben bei der Schliessung des Hauses 18000 Franken ausstehend. Verschiedenen Gästen musste noch Reisegeld vorgestreckt werden.

Die wichtige Frage, ob wir mit 40 Personen schliessen sollen oder nicht, hat uns manch schlaflose Nächte bereitet. Wir waren sehr unentschlossen, eine Stunde sagten wir Ja, die andere Nein. Als wir aber sahen, dass selbst die Gäste vorzogen, in der Nähe der Bahn und eines grösseren Verkehrs zu sein, so entschlossen wir uns, die Gäste dem Suvrettahaus (der Konkurrenz) zuzuweisen, womit die Meisten einverstanden waren. Nur eine gute Holländerfamilie zog es vor, nach Pontresina zu gehen.

Am ärgsten war das erste volle Kriegsjahr: 1915. Die Gästezahl stieg nie über 44 und betrug im Durchschnitt der kurzen Saison ganze 28 Personen. Der Umsatz fiel auf ein Zehntel der Vorkriegsjahre.
Die Bank reagierte auf den Notstand mit einer Erhöhung des Hypothekarzinssatzes von 5% auf auf 5,5% und schliesslich auf 6%. Natürlich wurden die unbezahlbaren Zinsen zu neuen, ebenfalls wieder zu verzinsenden Schulden. Noch 1923 entsprach die jährliche Zinsenlast fast der Hälfte der Gesamteinnahmen. Erst die Einführung der Wintersaison und dieausserordentlich guten Resultate der Jahre ab 1924 machten es möglich, aus diesem Teufelskreis auszubrechen.

Ansicht des Hotels Waldhaus Sils. Photo aus dem hier besprochenen Buch. Foto Copyright © Stefan Pielow / Hotel Waldhaus Sils.

Der Hotelbrand von 1927

Eine weitere dramatische Geschichte beginnt am Vorabend des 11. März 1927. Ein Monteur hatte mit der Lötlampe in einem Badezimmer im dritten Stock eine Reparatur vorgenommen. Dabei muss das Isolationsmaterial in der Wand Feuer gefangen haben. Es mottete im Innern der Wand bis zum fünften, dem obersten Stockwerk und kam dort im tannegetäfelten Personalzimmer am folgenden Tag zum Ausbruch. Der damalige Hotelier verabschiedete sich am Ende der Wintersaison gerade vom letzten Gast. Dieser berichtete, er habe beim Verlassen seines Zimmers im Korridor einen ausgeprägten Brandgeruch wahrgenommen. Fast gleichzeitig meldete ein Postchauffeur am Telefon aus Champfèr, er sähe aus dem Waldhaus eine grosse Rauchsäule aufsteigen.

Zuerst trat die Hausfeuerwehr in Aktion. Rasch wurde sie abgelöst durch die Silser Feuerwehr unter dem Kommando von Lehrer Stefan Hartmann. Von den Nachbargemeinden rollten in Postautos und Pferdeschlitten Verstärkungen an, und der Silser Feuerwehrkommandant verfügte gegen Mittag über die stattliche Zahl von 150 Feuerwehrleuten und acht Hydrantenleitungen. Obwohl gegen 11 Uhr ein frischer Westwind einsetzte und das Feuer neu anfachte, gelang es den vereinten Kräften, dank selbstlosem Einsatz und klugen Dispositionen ihres Kommandanten, der Situation Herr zu werden und den Brand zu löschen.

Der damalige Hotelier Oskar Kienberger und Karl Koller, sein alter Freund und Berater, der erfahrene und bewährte Architekt, machten sich sofort ans Werk. Parallel zu den Verhandlungen mit Versicherungen, Behörden, Banken und dem Verwaltungsrat planten sie den teilweisen Neubau des Hotels. Bereits am 25. März, lediglich 14 Tage nach der Feuersbrunst, waren ihre Pläne bereit und wurden durch die Gemeindebehörden in Rekordzeit bewilligt. Der Neuaufbau beinhaltete im obersten Stockwerk ein elegantes Gästequartier mit acht Zimmern, zumeist mit Bad und Balkon. Auf den übrigen Etagen erfolgte der Einbau von weiteren Privatbädern und die Auffrischung von zahlreichen Zimmern, die ja zum Teil unter dem Wasserschaden arg gelitten hatten. Am 8. Juni 1927, weniger als drei Monate nach dem Brand, gab Oskar Kienberger die Order, die Fahne als Zeichen der Wiedereröffnung zu hissen. un der erste Sommergast konnte sein Zimmer beziehen.

Das Hotel Waldhaus Sils im Bau 1906/07. Foto aus dem hier besprochenen Buch. Photo Copyright © Hotel Waldhaus Sils.

Zwei Hotelanekdoten aus Sils Maria

Zu den prominenten Gästen zählte Nationalrat Gottlieb Duttweiler, der dynamische Gründer der Migros-Genossenschaft. Kurz vor seiner Anreise hatte er im Bundeshaus in einem Wutausbruch eine Scheibe eingeschlagen, als er im Parlament mit einem Antrag nicht durchkam. Nun rollte der grosse, breitschultrige Mann in seinem winzigen Fiat Topolino an, um im Waldhaus seine verdienten Ferien anzutreten. Kurz vor der Ankunft des streitbaren Politikers entdeckte die Mutter von Urs Kienberger mit Schrecken, dass im für Herrn und Frau Duttweiler bestimmten Zimmer eine Scheibe gesprungen war. Wenige Minuten vor der Ankunft des Paares konnte der Hausschreiner den Schaden beheben.

Eines Morgens verlangte ein sonst ruhiger und angenehmer Gast am Telefon mit Urs Kienberger zu sprechen. Er teilte ihm mit, seine bald 25-jährige Ehe drohe auseinanderzubrechen und er sei schuld daran. Auf Urs Kienbergers Frage, wie er das meine, erklärte der Gast, die grüne Tapete in ihrem Zimmer mache ihn und seine Gattin derart nervös, dass sie, die bisher immer so gut auskamen, nichts als Krach hätten. Der nun unglückliche Ehemann war einen Monat vor Ankunft eigens von Holland nach Sils gefahren war, um sich das besagte Zimmer an Ort und Stelle auszuwählen. Der Hotelier schlug dem Gast zur Wiederherstellung des «Status ante» vor, in ein anderes Zimmer umzuziehen. Der Gast wählte eines mit einer blauen Tapete aus und äusserte erleichtert, blau wirke beruhigend. Als die zwei Herren schon an der Türe standen, kehrte er in das blaue Zimmer zurück und stellte dem Hotelier die Frage, in welcher Himmelsrichtung er zu schlafen pflege. Die Antwort des Hotelier, er würde unabhängig von der Himmelsrichtung schlafen wie ein Murmeltier, verblüffte den Gast, der versuchte, Urs Kienberger zu erklären, dass der Kopf immer westwärts und die Füsse immer ostwärts gerichtet sein müssten. Da im blauen Zimmer die Betten Süd-Nord standen, komme dieses Zimmer für ihn doch nicht in Frage. Der Hotelier liess die Betten im blauen Zimmer auf West-Ost umstellen, und die Ehe war gerettet!

Ein Aufenthalt im Hotel Waldhaus Sils ist eine Zeitreise. Hier kann man teilweise noch wie 1908 leben. Photo aus dem hier besprochenen Buch. Foto Copyright © Stefan Pielow / Hotel Waldhaus Sils.

Berühmte Gäste ohne Ende

In seinem Buch 111 Jahre Hotel Waldhaus Sils meint Urs Kienberger, ein Hotel sei am Schluss nicht mehr und nicht weniger als die Summe seiner Gäste. Geschätzte 80% sind Stammgäste. Der Autor erwähnt mit Stolz Berühmtheiten, die das Hotel Waldhaus Sils in seiner langen Geschichte beherbergt hat. Dazu gehören die Schriftsteller Thomas Mann und Hermann Hesse mit ihren Ehefrauen. Hermann Hesse soll laut einer Quelle im Hotel insgesamt 365 Tage verbracht haben. Unter den anderen Schriftstellern seien noch Nobelpreisträger Rabindranath Tagore und Primo Levi erwähnt. Weitere Gäste waren Verleger wie Samuel Fischer, Franz Ullstein, Helmut Kindler, Klaus Piper, Hans Brockhaus, Egon Ammann, Michael Klett, Daniel und Anna Keel von Diogenes (Stammgäste), Beck, Unseld und viele andere. Filmregisseure wie Luchino Visconti (der schon als Fünfjähriger mit seiner damals zwölfköpfigen Familie kam) und Fred Zinnemann, Schauspieler und Schauspielerinnen wie Vivien Leigh, Maximilian Schell und Michael Redgrave logierten hier schon. Weitere Gäste waren Philosophen, Historiker und andere Geistesgrössen wie Albert Einstein, C. G. Jung, Theodor W. Adorno und Fritz Stern. Dirigenten, Komponisten und Interpreten wie Wilhelm Kempff, Otto Klemperer, Richard Strauss, Arthur Honegger, Karl Böhm, Bruno Walter, Bernard Haitink, Rudolf Serkin, Wilhelm Backhaus, Richard Tauber und Paul Sacher nächtigten hier. Industrielle und andere Wirtschaftsgrössen wie Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler, Dr. Werner Oetker, Arnold Siemens, Sydney M. Brown, Walter Boveri, Dietrich Bührle, Claudius Dornier, Otto-Ernst Flick, Charles Christian Heidsieck, mehrere Mitglieder der Familie Sulzer wohnten hier schon. Gäste aus dem Adel waren Manuel II. von Portugal und Baron Albert von Rothschild, hinzu kamen Politiker und Diplomaten wie Reichskanzler Theodor von Bethmann-Hollweg, Maurice Couve de Murville, Léon Blum, Ministerpräsident Bernhard Vogel, die Bundesräte Johannes Baumann, Ernst Wetter, Hans-Peter Tschudi, Heinrich Häberlin, Robert Haab, Philipp Etter, Ludwig von Moos, Kurt Furgler und andere. Zu den Sammlern und Kunstmäzenen, Malern und anderen Künstler zählten Oskar Reinhart, Gerhard Richter, Joseph Beuys und Hans Erni. Und dies ist nur eine Auswahl.

Wer jetzt noch keine Lust hat, ins Oberengadin nach Sils Maria zu fahren, dem ist nicht zu helfen.

Dieser Artikel beruht auf dem lesenswerten Buch von Urs Kienberger: 111 Jahre Hotel Waldhaus Sils. Geschichte und Geschichten zu einem unvernünftigen Hoteltraum. Verlag Scheidegger & Spiess, gebundene Ausgabe, 2019, 344 Seiten, 67 farbige und 83 sw Abbildungen, 17 x 24 cm. Das Buch bestellen bei Amazon.de. Zitate und Teilzitate sind der Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Artikel vom 7. November 2019 um 12.30 Schweizer Zeit.