Die Klosterinsel Reichenau im Mittelalter. Geschichte, Kunst, Architektur

Jun 21, 2024 at 09:40 364

Die Grosse Landesausstellung «Welterbe des Mittelalters. 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau» des Landes Baden-Württemberg kommt scheinbar bescheiden daher. Mit dem üblichen Aufbau von Tagungs- und Ausstellungsband wird die wissenschaftliche Aufbereitung in gewohntem Rahmen gehalten und der Ausstellungsort im Archäologischen Landesmuseum Konstanz erscheint ungewohnt – aber der Besuch lohnt sich.

Tagungsband zur Ausstellung: Die Klosterinsel Reichenau im Mittelalter. Geschichte, Kunst, Architektur

Tagungsband zur Ausstellung: Die Klosterinsel Reichenau im Mittelalter. Geschichte, Kunst, Architektur, hg. von Wolfgang Zimmermann, Olaf Siart und Marvin Gedigk, Schnell & Steiner, Mai 2024, 351 Seiten. Buch bestellen (Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei gleichem Preis) bei Amazon.de.

Was gibt es Neues von der Reichenau? Zum Jubiläum erschienen 1925 zwei Bände Die Kultur der Abtei Reichenau von Peter P. Albert und Konrad Beyerle (Hgg.), 1974 der umfassende Sammelband Die Abtei Reichenau von Helmut Maurer (Hg.) und 1988 Die frühen Klosterbauten der Reichenau von Alfons Zettler. Eine aktuelle Übersicht bietet Harald Derschka (Hg.) mit Geschichte des Klosters Reichenau (2024). Die Geschichte des Klosters und insbesondere seiner Blütezeit gilt als vergleichsweise gut erschlossen.

Gerade die frühe Zeit der Inselklosters, die stets in Konkurrenz und Abhängigkeiten zu St. Gallen und dem Konstanzer Bischof bzw. Kapitel stand, ist gut aufgearbeitet. Der von der Reichenau stammende St. Galler Klosterplan und die vielen früh- und hochmittelalterlichen Urkunden des Klosters sind für die Geschichte Süddeutschlands und der Schweiz von sehr hoher Bedeutung. Der wissenschaftliche Begleitband rückt zudem einige blinde Flecke der Reichenauer Kloster-Historiographie in neues Licht, wie die zentrale Frage der Bedeutung schriftlicher Quellen für das Kloster selbst (Steffen Patzold), oder zur Baugeschichte (Beiträge von Matthias Untermann, Marlene Kleiner, Sandra Kriszt). Daneben kann der Baubestand der Klosterbauten in der europäischen Kunst und Architektur teilweise neu verortet werden, so im Bereich des Dachwerks von St. Maria und Markus Mittelzell (Bernhard Lohrum) und des Bildprogramms von St. Georg Oberzell (Rainer Warland). Weitere notwendige Präzisierungen erfährt die Bewertung des bisher einseitig als Niedergang dargestellten späten Mittelalters (Harald Derschka). Die Frühneuzeit wurde in Ausstellung und Begleittexten kaum behandelt. Dabei wäre gerade eine Aufarbeitung der glanzlosen Spätzeit bis zur Auflösung des Klosters im Jahr 1757 mit wenig Mehraufwand möglich gewesen. Dies gelingt bislang einzig Harald Derschka in seiner Geschichte des Klosters Reichenau (2024).

Foto: Skulptur des Heiligen Pirmin, um 1500, Pfäfers, Katholische Kirchengemeinde, Inv. H013 © Katholische Kirchengemeinde Pfäfers, Foto: Urs Baumann.

Ausstellung im Archäologischen Landesmuseum Konstanz: Welterbe des Mittelalters. 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau

«Gross» ist schon vorab das Echo zur Ausstellung aus der Fachwelt. Die Reichenau war eines der führenden Klöster Oberdeutschlands im frühen und hohen Mittelalter, der Zeit, als Besitzungen und Interessen der grossen Abteien die Geschicke der ganzen Region bestimmten. Als Auftakt der Ausstellung wird denn auch die Frühzeit der um 724 gegründeten Inselabtei in den grösseren Kontext von irischer Mission und karolingischen Gründungen eingebettet und die Schätze der Klöster an Hochrhein und Bodensee exemplarisch präsentiert. Die Ausstellung folgt dann den Spuren des Klostergründers Pirmin und den Ursprüngen benediktinischer Klöster mit der Benediktsregel und dem Klosterbau. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Objekte zu geistlichen Aufgaben und Alltag der Mönche im Mittelalter.

Bis hierhin könnten etliche Klöster mithalten und könnten in vergleichbarer Art dargestellt werden. Mit der Bedeutung der Schreibstube des Klosters Reichenau allerdings können nur wenige, ganz grosse Klöster konkurrieren. Im 9. bis 11. Jahrhundert war das Inselkloster Ursprungsort von Büchern, die in ihrer Kunstfertigkeit und Pracht nicht zu überbieten sind. Dazu gehören einige Bücher, die wegen ihrer wertvollen Ausstattung zum UNESCO-Weltdokumentenerbe gehören: der Codex Egberti, der um 977/993 auf der Reichenau für Bischof Egbert von Trier hergestellt wurde und dessen Bildseiten von Purpur und Gold leuchten. Ebenfalls ausgestellt ist der legendäre Gero Codex, der stilbildend für die ottonische Buchmalerei des späten 10. Jahrhunderts wurde oder das Liuthar-Evangeliar aus dem Aachener Domschatz, hergestellt für Kaiser Otto III. Mit dem Hillinus-Codex aus Köln, dem Sakramentar von Trier (heute in Verdun), dem Limburger Evangeliar und dem Evangelistar aus Brescia sind weitere erstklassige Buchschätze des 11. Jahrhunderts ausgestellt, die sonst die Tresore ihrer Heimatinstitutionen kaum je verlassen dürfen. Es fällt auf, dass es den Organisator:innen gelungen ist, die meisten der erhaltenen Prachthandschriften für die Ausstellung an ihrem Ursprungsort am Bodensee zu versammeln. Die Ausstellung beleuchtet Besteller, Produktionsprozess und Wirkung dieser bebilderten Prachthandschriften eingängig.

Foto: Andreas-Tragaltar (Egbert-Schrein) Reliquiar, 977–993, Domschatz der Hohen Domkirche zu Trier © Domschatz der Hohen Domkirche zu Trier, Foto: Markus Groß-Morgen.

Nebst den herausragenden bebilderten Prachthandschriften war die Reichenau auch Hort von Wissenschaft und Literatur. So sind frühe Dichtungen des Reichenauer Mönches Walahfrid Strabo in Fassungen des 9. Jahrhunderts zu sehen, die Weltchronik des Gelehrten Hermann dem Lahmen aus dem 11. Jahrhundert oder der Wolfcoz-Psalter −heute auch Reginbert-Evangelistar genannt− des 9. Jh. (heute in St. Gallen). Die Reichenauer Klosterbibliothek umfasste im Jahr 821 bereits beachtliche 415 Handschriften, wie der Katalog des damaligen Bibliothekars Reginbert ausweist. Das Kloster verfügte über reichen Grundbesitz in ganz Schwaben und der heutigen Ostschweiz. Dieser kann über die zahlreich überlieferten, vergleichsweise unscheinbaren Urkunden recht genau bezeichnet werden. Hunderte von Ortschaften, Namen und Angaben zu Nutzung und zur Abgabenpraxis ergeben ein dichtes Bild der klösterlichen Wirtschafts- und Herrschaftspraxis des hohen und späten Mittelalters. Die Grund- und Gerichtsherrschaft des Klosters und seine Münzprägung werden in der Ausstellung erstmals ausführlich gewürdigt. Eine besondere Erwähnung ist auch die «Reichenauer Fälscherwerkstatt» wert. Einige der frühen Urkunden des 8. bis 10. Jahrhunderts, welche alte klösterliche Rechte belegen, wurden nämlich im klösterlichen Skriptorium im Laufe des 12. Jahrhunderts gefälscht, bzw. «nach-hergestellt», um bestehenden Ansprüchen eine urkundliche Basis zu geben.

Photo: Ausstellungsimpression, Antependium mit gewirkten Szenen aus dem Leben Jesu aus dem ehemaligen Kloster Rheinau (Kanton Zürich), Basel, vor 1474, Zürich (Schweiz), Schweizerisches Nationalmuseum © Badisches Landesmuseum, Foto: ARTIS – Uli Deck.

In besonderer Beziehung stehen die beiden grossen Abteien Reichenau und St. Gallen seit ihrer Gründungszeit. Beiden gemein ist eine Blütezeit in wirtschaftlicher, künstlerischer und wissenschaftlicher Hinsicht unter karolingischer, ottonischer und salischer Herrschaft vom 8. bis ins 11. Jahrhundert. Der Austausch von Mönchen, Büchern und Ideen spiegelt sich bis heute in den Quellen. So wurde der berühmte St. Galler Klosterplan von 825/826 durch Reginbert und Walahfrid Strabo auf der Reichenau als Geschenk für Gozbert den Jüngeren von St. Gallen angefertigt. Bauten dieser Zeit sind zwar für St. Gallen nicht erhalten, sind aber mit dem Weltkulturerbe der Reichenauer Kirchen vorhanden. Ein bedeutender Beleg der weiträumigen Ausstrahlung ist das Reichenauer-Verbrüderungsbuch. Es diente der Gebetsverbrüderung bzw. des gegenseitigen Totengedenkens der Abteien und ist damit im christlichen Verständnis ein Buch des Lebens. Es wurde im frühen 9. Jahrhundert angelegt und bis 16. Jahrhundert fortgeführt. Beginnend mit Karl Martell (†741) sind die Herrscher und Fürsten enthalten sowie die Namen der Äbte und Mönche weiterer Klöster und Kapitel, für deren Seele gebetet wurde, insgesamt über 38’000. Solche «libri vitae» sind auch aus anderen älteren Klöstern überliefert, z.B. aus St. Gallen, Pfäfers, Remiremont, Salzburg oder Brescia. Darin sind dann auch die Mönche der Reichenau enthalten.

Einen weiteren Schwerpunkt der Ausstellung bilden die Heiligenverehrung und die zughörigen Schätze der Klosterinsel Reichenau. Die Kirchenpatrone des Reichenauer Münsters sind Maria und Markus, in Oberzell ist es St. Georg. Reliquien zeigen nicht nur die Verbundenheit mit den Heiligen und Märtyrern auf, sondern auch echte und legendenhafte Beziehungen. So weisen auf der Reichenau Reliquien, Schreine und Kunstwerke um Markus, Zeno und Ratold, sowie Steinmetzarbeiten auf länger anhaltende Kontakte in den Raum um Verona und Venedig. Insgesamt bildet der überlieferte Klosterschatz der Reichenau eine hochkarätige spätmittelalterliche Wunderkammer, der in der Ausstellung um Objekte aus Radolfzell (das im Hochmittelalter zum Kloster gehörte) ergänzt wird.

Photo: Ausstellungsimpression, Codex Egberti, Trier, Wissenschaftliche Bibliothek der Stadt Trier / Stadtarchiv Trier, Hs. 24, fol. 1v/2r, UNESCO-Weltdokumentenerbe © Badisches Landesmuseum, Foto: ARTIS – Uli Deck.

Die Ausstellung umfasst rund 250 Exponate, darunter ganze 16 der Reichenauer Prachthandschriften, über 80 weitere Handschriften, unzählige Urkunden, Schätze und Gebrauchsgegenstände zur mittelalterlichen Reichenau. In Katalogdarstellung und Konzept eingebunden sind die Gebäude der «Klosterinsel Reichenau», die seit dem Jahr 2000 zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen. Betont wird die Bedeutung der früh- und hochmittelalterlichen Kirchenbauten in St. Georg Oberzell und des Münsters St. Maria und Markus in Mittelzell, deren Geschichte in den kleinen «Aussenstationen», den Museumsstandorten des Reichenauer Museums, erzählt werden.

Zum «Inseljubiläum» gibt es noch zahlreiche weitere Aktivitäten. So wurde beispielsweise der Klostergarten in Mittelzell neu gestaltet. Auf eigens aufgenommenen podcasts können Hintergrundinformationen und Geschichten zu Insel und Kloster abgehört werden.

Katalog zur Ausstellung des Badischen Landesmuseums in Konstanz von 20. April bis 20. Oktober 2024: Welterbe des Mittelalters. 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau. Schnell & Steiner, April 2024, 591 Seiten. Buch bestellen (Cookies akzepteren – wir erhalten eine Kommission bei gleichem Preis): Amazon.de.

Tagungsband zur Ausstellung: Die Klosterinsel Reichenau im Mittelalter. Geschichte, Kunst, Architektur, hg. von Wolfgang Zimmermann, Olaf Siart und Marvin Gedigk, Schnell & Steiner, Mai 2024, 351 Seiten. Buch bestellen bei Amazon.de.

Rezension von Ausstellung, Katalog und Begleitband von Dr. phil. Heinrich Speich MAS und Lena Schiller BA.

Austellungskritik/Rezension hinzugefügt am 21. Juni 2024 um 09:40 deutscher Zeit. Korrekturen angebracht am 26. Juni 2024 um 03:12.