Die Normannen: Eine Geschichte von Mobilität, Eroberung und Innovation

Feb 22, 2023 at 15:50 1270

Was von den Normannen übrigblieb, passt kaum in einen einzigen Satz: Herrschaftsbildungen in Ost-, Nord- und Westeuropa, dazu im zentralen und im östlichen Mittelmeerraum; Militärtechnik, Kirchenbau, Handelsrouten, Siedlungen und vieles mehr. Bis heute sind die architektonischen Einflüsse sichtbar, an den frühen Klöster der Kiewer Rus‘, in den Burgen und Schlössern Englands, den Klöstern der Normandie bis zu den Kathedralen und Burgenbauten in Sizilien, Apulien oder im heute türkischen Antiochia. Eine grosse kulturelle und politische Leistung, der bislang noch keine Ausstellung im deutschsprachigen Raum gewidmet war. Wer waren diese Nachfahren der Wikinger und wie konnten sie innerhalb von nur zweihundert Jahren ganz Europa verändern?

Die Ausstellung Die Normannen: Eine Geschichte von Mobilität, Eroberung und Innovation (Amazon.de) der Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim vom 18. September 2022 bis am 26. Februar 2023 erklärt die skandinavische Herkunft der „Nordmänner“ und zeichnet anhand unerhört hochkarätiger Exponate ihren Weg vom derben Norden in die Zentren der europäischen Fürstenmacht nach. Die Schau ist geographisch und chronologisch geordnet, wobei der Bogen bis zu den aktuellen Ereignissen in der Ukraine geschlagen werden kann.

Im 8. und 9. Jahrhundert waren Wikinger, teils Nordmänner oder Waräger genannt, als Fernhändler und Räuber an den Küsten und entlang der Flussläufe in ganz Nord- und Westeuropa bekannt und gefürchtet. Im frühen 10. Jahrhundert siedelten sie sich auch im Norden von Frankreich an, in der heutigen Normandie. Ihr Anführer Rollo arrangierte sich im Jahr 911 mit dem westfränkischen König Karl (der Einfältige) und sicherte sich mit einem Treueversprechen die Herrschaftsrechte an der unteren Seine, in der Gegend von Rouen. Hier wurde das erste Mal in Westeuropa deutlich, was die Normannen konnten: Einspringen, wo sich ein Machtvakuum zeigte, geschicktes politisches Ausspielen von Gegnern, extrem rasche kulturelle Assimilation und eine geschickte Heiratspolitik. Die Machtübernahme erfolgte nämlich durch eine kleine, erst kurz zuvor eingewanderte Minderheit, welche auf Duldung durch die angestammte Bevölkerung angewiesen war. Dieses Vorgehen, kombiniert mit Söldnerdiensten und Fernhandel, wurde ein normannischer „Exportschlager“.

Eindrücke aus der Ausstellung. Photo Copyright: Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim/rem.

Am bekanntesten dafür ist natürlich der normannische Einfall 1066 in England durch Wilhelm den Eroberer und sein Heer, der sich die Macht so geschickt wie auch brutal sicherte und das eroberte Land mit einer neuen Verwaltungsstruktur überzog. Es ging stets um Macht, so könnte man folgern. Tatsächlich spricht man vor allem dann von den Normannen, wenn es in dieser Zeit um Krieg und Herrschaft ging. Sie überzogen die Länder mit einem Netz aus Verwaltung, Kirchenorganisation und ausgeklügelter Burgen, die auch mit wenigen Kämpfern gut zu verteidigen waren. Sie führten in Westeuropa neue militärische Techniken ein und waren als grausame Krieger verschrien. Doch die Normannen konnten mehr, wie sich in der Normandie, in England, aber auch in Katalonien, Apulien, Sizilien und im Heiligen Land zeigte: sie übernahmen rasch die Sprachen und Gebräuche der Zielregion und förderten gezielt die kirchlichen Strukturen, welche ihnen wiederum Rückhalt bieten konnten.

Bereits im 9. und 10. Jahrhundert hatten skandinavische Händler ihre Kontakte nach Osten ausgedehnt und befuhren mit ihren Schiffen die Ostsee und ein weites Netz an Flüssen und Seen im heutigen Russland und der Ukraine. Sie vernetzten dabei ihre Herkunftsgebiete mit den Gebieten an Dnjepr und am Schwarzen Meer bis nach Byzanz und trugen zur Gründung von Siedlungen und des ersten Reiches der sog. Kiewer Rus‘ bei, der Keimzelle des heutigen Russlands und Kern der russischen Orthodoxie. Für die Ausstellung waren auch dazu Exponate vorgesehen, die in Westeuropa noch kaum zu sehen waren. Die Zusagen wurden durch die russischen Museen, darunter der Eremitage in St. Petersburg, nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine wieder zurückgezogen.

Ebenso spektakulär wie die Eroberung Englands waren die normannischen Aktivitäten in Süditalien. Kurz nach dem Jahr 1000 drängten erste normannische Söldnergruppen in den Raum südlich Neapel vor. Eine erste Herrschaftsbildung gelang der niederadligen Familie Drengot in Aversa (um 1020). Die Familie der Hauteville erwies sich als besonders erfolgreich und verschlagen: sie agierten im umkämpften Fürstentum Benevent, wurden 1059 vom Papst als Herzöge von Apulien anerkannt, obwohl das Gebiet teilweise dem oströmischen Kaiser in Byzanz unterstand. Sie nutzten so das Potential der römisch-katholischen Kirchenorganisation voll aus und bündelten mit dieser Verbindung auch die Kräfte für die dreissig Jahre dauernde Eroberung des muslimisch dominierten Sizilien (1061–1091), zuerst mit und dann auch gegen die byzantinischen Kräfte. Das Resultat konnte sich sehen lassen: die Insel wurde für das lateinisch-römische Christentum gewonnen und die Hauteville hatten sich ab 1130 als Könige von Sizilien etabliert. Sie förderten in gewohnter Manier Kirche und Künste und verhalfen der Insel als Handelsdrehscheibe zu einer neuen kulturellen Ausstrahlung. Darauf bauten die Staufer als Erben des Königreiches ab 1197 auf. Diese Entwicklung wird in der Ausstellung dokumentiert: mehrsprachige Dokumente, in denen griechisch, arabisch und lateinisch teilweise nebeneinander verwendet werden zeigen die hochentwickelte Kanzlei- und Verwaltungstätigkeit. Die Kuratoren scheuten keinen Aufwand, um den Besuchern auch konservatorisch höchst anspruchsvolle oder gewichtige Objekte zugänglich zu machen, zum Beispiel den aus Sizilien stammenden Krönungsmantel des Staufers Friedrichs II. aus dem Domschatz von Metz oder ein Porphyr-Kapitell vom Grab König Wilhelms I. aus dem Dom von Monreale bei Palermo.

Eindrücke aus der Ausstellung. Photo Copyright: Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim/rem.

Weniger bekannt sind die Expeditionen normannischer Söldnergruppen im Rahmen der „Reconquista“, der christlichen (Wieder-)Eroberung Spaniens. In diesem Rahmen erhielt Ritter Robert Burdet, der sich in Kampf und Verwaltung ausgezeichnet hatte, um 1129 die Stadt Tarragona als Lehen. Er suchte seine Herrschaft durch Städtebau, normannische Siedler und Gesetzgebung zu festigen, was allerdings nur bis 1171 gelang. Eine Flotte von rund 300 Schiffen unter König Roger II. von Sizilien landete im Jahr 1140 vor dem tunesischen Mahdia (al-Mahdiyya), um die nordafrikanische Küste unter normannische Vorherrschaft zu bringen. Dieses „afrikanische Königreich“ (Ifrīqiya) kam allerdings nicht über Tributzahlungen der muslimischen Herrscher hinaus und verschwand bald wieder.

Unter dem Titel „Wege ans Mittelmeer“ werden den Besuchern die Auseinandersetzungen mit dem oströmischen Reich nähergebracht. Als „Vorbild, Konkurrent und Objekt der Begierde“ rückte Byzanz in den Fokus der apulischen Normannen. Die gezeigten Objekte aus italienischen Sammlungen, welche den Normalbesuchern wohl eher exotisch vorkommen, verzücken die Experten: ein kleiner Behälter einer Kreuz-Reliquie (Staurothek) aus Monopoli bei Bari, welche wohl im kaiserlichen Umfeld um ca. 1000 in Byzanz hergestellt wurde; eine der frühesten Handschriften der Alexias, einem Geschichtswerk, welches im 12. Jahrhundert in Byzanz entstand und seit der Renaissance in der Medici-Bibliothek in Florenz bezeugt ist oder auch das Krönungsevangeliar des Kaisers Ioannes II. Komnenos aus dem Vatikan. Die Objekte sind sinnstiftend in das Konzept der Ausstellung eingebunden, zeigen sie doch, wie Vorstellungen aus Byzanz über Kunst und Text den Weg in unsere Darstellungsformen und in unsere Geschichtsschreibung fanden. Solche Finessen –in der Ausstellung nicht weiter akzentuiert–machen deutlich, wie gewissenhaft und intensiv die wissenschaftliche Vorbereitung ablief. Dabei kommt der Ausstellungskatalog (Amazon.de) selbst ohne lange Einführungskapitel aus und erklärt die Objekte trotzdem vorbildlich. Detailausführungen, zum Beispiel zu den archäometrischen Untersuchungen an der Mitra des Bischofs Oleguer von Tarragona (+1137) lassen den immensen Vorbereitungsaufwand erahnen.

Die letzte Station der Ausstellung bildet die Eroberung von Antiochia (1098) durch Bohemund von Tarent, Anführer des ersten westlichen Kreuzfahrerheeres. Dabei geht es um die Bildung des ersten «Kreuzfahrerstaates» und die Auseinandersetzungen mit Byzantinern, Armeniern und Muslimen

Der grosse Wurf der Ausstellung gelingt. Mit den Schlagworten „Vielfalt, Interaktion und Mobilität“ sind die Erfolgsfaktoren normannischer Herrschaftsbildungen des 9. bis 12. Jahrhunderts schlüssig benannt. Entlang des roten Fadens der politischen Geschichte werden die Entwicklungen differenziert entlang neuester Forschungsresultate anschaulich gemacht. Rasche Integration innerhalb der Eliten, Förderung von Kirchen, religiöse Duldung und moderne Verwaltungstechnik bilden die zivilisatorischen „Soft-Skills“ der Normannen. Dafür bleiben Themen wie Siedlungsentwicklung oder gesellschaftliche Organisation im Hintergrund der Darstellung. Auch die Frauen sind – wie bei den Normannen – nur als Statistinnen vertreten.

Mit zahlreichen Karten, Filmen, Hör-, Fühl- und Verkleidungsstationen, an denen die Textur der Materialien im Zentrum stehen, werden alle Alters- und Besuchergruppen angesprochen. Bei der grosszügigen Raumanordnung gibt es nur wenige „Staus“ vor den Objekten, was gerade in Coronazeiten angenehm ist. Texte gibt es innerhalb der Ausstellung erfrischend wenige; über Audioguides, den gedruckten Katalog (Amazon.de) oder die Handy-App stehen dafür zielgruppenspezifische Angebote zur Vertiefung der Themen zur Verfügung

Der „Grosse Abwesende“ sei zum Schluss noch genannt: der Teppich von Bayeux. Die Comic-artige Darstellung der normannischen Eroberung Englands (Abb. 1) stammt aus dem späten 11. Jahrhundert, ist über 70 Meter lang und dient mit einer Schiffsdarstellung als Blickfang der Ausstellung. An Filmstationen werden Episoden der normannischen Geschichte mit stop-motion- Filmen im Stil des bestickten Wollteppichs aus Bayeux erklärt. Auch das Begleitheft für Kinder (Der Normannen-Schatz) nutzt Episoden daraus zur Erläuterung.

Eindrücke aus der Ausstellung. Photo Copyright: Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim/rem.

Das Thema der Normannen war im deutsch-sprachigen Raum in einer solchen Gesamtschau noch nie zu sehen. Es ist wissenschaftlich vorbildlich aufbereitet, kommt ohne reisserische Botschaften aus und ist ungewollt aktuell. Die Ausstellung macht zum Beispiel deutlich, dass der historische Kern des späteren russischen Reiches und der russischen Orthodoxie in Kiew liegt. Die tausend Jahre dazwischen vergingen wie im Flug.

Der Katalog zur Ausstellung der Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim vom 18. September 2022 bis am 26. Februar 2023 von Viola Skiba, Nikolas Jaspert (Hrsg.): Die Normannen: Eine Geschichte von Mobilität, Eroberung und Innovation. Schnell & Steiner, September 2022, 528 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Rezension von Ausstellung und Katalog: Dr. phil. Heinrich Speich MAS.

Heinrich Speich ist der Autor von: Burgrecht: Von der Einbürgerung zum politischen Bündnis im Spätmittelalter. Thorbecke Verlag, 2019, 420 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Ausstellungskritik / Buchkritik / Rezension hinzugefügt am 22. Februar 2022 um 15:50 deutscher Zeit. Fotos hinzugefügt um 16:51. Link zum Buch von Heinrich Speich hinzugefügt am 3. April 2022 um 19:46.