Die Regierungerklärung von Bundeskanzler Friedrich Merz im Bundestag am 14. Mai 2025

Mai 15, 2025 at 15:46 279

Nachfolgend der Volltext der Regierungerklärung von Bundeskanzler Friedrich Merz im Bundestag vom 14. Mai 2025. Hier noch der Hinweis auf weiterführende Literatur zu Friedrich Merz von Volker Resing und Sara Sievert.

Volker Resing: Friedrich Merz: Sein Weg zur Macht. Herder Verlag, Januar 2025, 224 Seiten. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und das Buch bestellen bei Amazon.de.

Sara Sievert: Der Unvermeidbare. Ein Blick hinter die Kulissen der Union. Rowohlt Buchverlag, Januar 2025, 256 Seiten. ISBN-13: ISBN: 978-3-498-00721-8. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und das Buch bestellen bei Amazon.de.

Die Bundestagsrede von Kanzler Merz im vollen Wortlaut:

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

„Verantwortung für Deutschland“, so haben wir, die Union aus CDU und CSU sowie die SPD, unseren Koalitionsvertrag überschrieben. „Verantwortung für Deutschland“ bedeutet: Wir stellen uns als neue Bundesregierung gemeinsam in den Dienst unseres Landes und aller seiner 84 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Wir wollen regieren, um unser Land aus eigener Kraft heraus voranzubringen. Wir wollen regieren, um neue Sicherheit zu geben und vor allem um unsere Freiheit entschlossen gegen ihre Feinde zu verteidigen. Wir wollen regieren, um das Versprechen vom Wohlstand für alle zu erneuern. Und wir wollenregieren, um Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stiften, vor allem da, wo er uns verloren gegangen ist.

Wir brauchen dafür in vielerlei Hinsicht einen Wechsel unserer Politik. Und ein solcher Wechsel setzt Umdenken und neue Prioritäten an vielen Stellen voraus. Wir sind uns dabei der enormen Herausforderungen, vor denen Deutschland steht, bewusst: international, europäisch, national und nicht zuletzt auch in Bezug auf die öffentlichen Finanzen. Zugleich wissen wir: Unser Land ist stark. Wir können aufbauen auf dem Fleiss von Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, auf dem Einfallsreichtum unserer Unternehmerinnen und Unternehmer, auf dem Einsatz, den unzählige Ehrenamtliche tagtäglich für unser Gemeinwesen zeigen, und auf der Kreativität unserer Wissenschaftler und der Kunst- und der Kulturschaffenden.

Ich bin persönlich – gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen der Bundesregierung – der Überzeugung, dass unser grossartiges Land die Herausforderungen unserer Zeit aus eigener Kraft heraus bestehen und daraus etwas Gutes machen kann.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen, dass meine Bundestagsfraktion und ich persönlich als Oppositionsführer bei Weitem nicht mit allen Entscheidungen einverstanden waren, die in der Vorgängerregierung getroffen wurden. Das ist in einer Demokratie nichts Ungewöhnliches. Aber eines ist für uns auch klar, und lassen Sie mich das hier zu Beginn zum Ausdruck bringen: Sie, Herr Kollege Scholz, und Ihre Regierung haben Deutschland durch Zeiten aussergewöhnlicher Krisen geführt. Ihre Reaktion auf den russsischen Angriffskrieg gegen die Ukraine war wegweisend, und sie war historisch. Dafür gilt Ihnen auch heute und von dieser Stelle aus noch einmal unser Dank, mein persönlicher Dank und – ich hoffe jedenfalls – die Anerkennung des ganzen Hauses und unseres Landes.

Als Demokraten der politischen Mitte eint uns: Wir sind dem Gemeinwohl verpflichtet. Und wir wollen die Probleme nicht beschreiben – wir wollen sie lösen, und zwar aus der demokratischen Mitte unseres Landes heraus. Dass wir das können, haben wir in den letzten Wochen bereits gezeigt. Der friedliche Wechsel von einer Regierung zur nächsten – ein solcher Wechsel ist leider auch in der Welt der Demokratien nicht mehr selbstverständlich – zeugt von der demokratischen Reife unseres Landes. Der Wechsel von der alten zur neuen Bundesregierung war professionell, reibungslos und kollegial. Ich möchte allen danken, die an diesen wenigen Tagen am Übergang von der alten zur neuen Bundesregierung beteiligt waren, zum Teil mit einer aussergewöhnlich hohen Arbeitslast.

Meine Damen und Herren, jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen. Und jede Zeit verlangt nach eigenen und zum Teil auch neuen Antworten. Diese Antworten für unsere Zeit zu geben, mit Ihrer Mitarbeit und Unterstützung, liebe Kolleginnen und Kollegen, das bedeutet für mich, Verantwortung für Deutschland zu übernehmen. Wir erleben eine Welt in Bewegung, ja, geradezu in Aufruhr. Die Entscheidungen, die wir zu treffen haben,werden die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland zumindest für einige Jahre prägen. Sie werden prägend sein für das Leben unserer Kinder und unserer Enkelkinder. Aber unsere Entscheidungen werden und sollen auch Einfluss nehmen auf die Zukunft der freiheitlichen Welt.

Täuschen wir uns nicht über die Dimension der Herausforderung. 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und in dem 35. Jahr der Wiedervereinigung unseres Landes wird unsere Freiheit durch die Gegner und die Feinde unserer liberalen Demokratie so sehr angegriffen wie selten zuvor. Russland hat mit allen Regeln gebrochen, die wir für unser Zusammenleben in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und mehr nochs eit der Überwindung der europäischen Teilung gemeinsam aufgeschrieben haben. Seit mehr als drei Jahren schon wütet der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Russische Truppen töten und morden täglich Frauen und Kinder, Zivilisten und Soldaten. Hunderttausende Opfer hat dieser Krieg gefordert, auch auf russischer Seite.

Dieser Krieg, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, und sein Ausgang entscheiden nicht nur über das Schicksal der Ukraine. Der Ausgang dieses Krieges entscheidet darüber, ob auch künftig Recht und Gesetz gelten in Europa und der Welt oder Tyrannei, militärische Gewalt und das nackte Recht des Stärkeren. In der Ukraine steht deshalb nicht weniger auf dem Spiel als die Friedensordnung unseres gesamten Kontinents. In dieser historischen Entscheidungssituation muss Europa zusammenstehen – mehr zusammenstehen denn je. Als Bundesregierung werden wir unsere Energie darauf richten, Europa einen grossen Schritt voranzubringen – in einer Zeit, in der die Stellung unseres Kontinents auf der Welt neu vermessen wird und wir ihn neu verteidigen müssen.Deutschland wird Initiativen ergreifen, um die europäische Idee der Freiheit und des Friedens neu zu beleben, damit Europa seinem Anspruch und seiner Bedeutung in der Welt gerecht wird. Und wir werden nie vergessen, was der frühere Bundeskanzler und Ehrenbürger Europas Helmut Kohl am 23. Juni 1996 hier in Berlin bei der Verabschiedung von Papst Johannes Paul II. gesagt hat.

„Wir wollen“– so hat er gesagt –„und dürfen niemals aus den Augen verlieren, dass wir in Europa vor allem eine Werte- und Kulturgemeinschaft bilden.“

Meine Damen und Herren, dieser Satz galt damals so sehr wie heute.

Dieses Europa blickt heute auf uns, auf Deutschland. Europa erwartet etwas von uns. Die neue Bundesregie-rung nimmt diese Verantwortung an. Wir bieten unseren Partnern und Freunden Verlässlichkeit und Berechenbarkeit an, vor allem durch eine Aussen- und Sicherheitspolitik, die einem starken Europa dient, einer Aussen- und Sicherheitspolitik, die sich vor allem von unseren Interessen und von unseren gemeinsamen europäischen Werten leiten lässt.

Wir schaffen einen neuen Nationalen Sicherheitsrat, indem Bund und Länder sowie alle sicherheitsrelevanten Ressorts ihr Wissen einbringen und bündeln. Es wird strategische Orientierung geben, und in Krisenfällen wer-den wir sehr schnell handlungsfähig sein. Und wir werden in Abstimmung mit unseren europäischen und internationalen Partnern vertiefen, was im gemeinsamen Respekt und mit Rücksichtnahme auf die jeweilig anderen die richtigen Entscheidungen in Deutschland und in Europa sind.Ich bin daher – Sie alle haben das mitverfolgen können über die Medien – an meinem ersten vollen Amtstag gleich nach Paris und nach Warschau gereist. Mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron habe ich einen umfassenden Neustart der deutsch-französischen Beziehungen verabredet, mit konkreten Impulsen und Projekten für die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern. Und ich bin als erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland am ersten Amtstag auch gleich nach Warschau gereist, um ein Zeichen zu setzen: Unser grosser Nachbar im Osten wird für diese Bundesregierung eine ebenso zentrale Rolle in der Europapolitik einnehmen wie unser grosser Nachbar im Westen. Zugleich wird Deutschland immer auch ein enger Partner und Verbündeter der kleineren und der mittleren Staaten sein, insbesondere in der Europäischen Union.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, an meinem dritten Amtstag habe ich in Brüssel den Präsidenten des Europäischen Rates, António Costa, sowie die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, und Roberta Metsola, die Präsidentin des Europäischen Parlaments, getroffen. Ich habe den europäischen Institutionen eine neue Verlässlichkeit Deutschlands zugesagt. Die Zeiten, in denen sich Deutschland bei wesentlichen Fragen der europäischen Politik einfach der Stimme enthält, sollen vorbei sein.

Schliesslich führte mich der Weg in meiner ersten Amtswoche nach Kiew, zusammen mit meinen Kollegen Emmanuel Macron, Keir Starmer und Donald Tusk. Uns alle eint, dass wir uns einen gerechten, dauerhaften, tragfähigen Frieden in der Ukraine wünschen – lieber heute als morgen. Auf dem Weg dorthin leiten uns drei Prinzipien:Erstens. Wir unterstützen weiterhin kraftvoll die angegriffene Ukraine. Das habe ich Präsident Selenskyj bei meinem Besuch am vergangenen Wochenende in Kiew erneut versichert. Dabei ist klar: Wir sind nicht Kriegspartei und werden dies auch nicht werden. Aber wir sind auch nicht unbeteiligte Dritte oder neutrale Vermittler,sozusagen zwischen den Fronten. Es darf kein Zweifel daran aufkommen, wo wir stehen, nämlich ohne Wenn und Aber an der Seite der Ukrainerinnen und Ukrainer und damit an der Seite der Menschen in Europa, die sich zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bekennen, die in Freiheit und in offenen Gesellschaften leben wollen. Zweitens. Unsere Hilfe für die Ukraine bleibt eine gemeinsame Anstrengung der Europäer, der Amerikaner und anderer Freunde und Verbündeter in unserem ureigensten Interesse. Denn wer ernsthaft glaubt, Russland gäbe sich mit einem Sieg über die Ukraine oder gar Teile der Ukraine oder mit der Annexion von Teilen des Landes zufrieden, der irrt, meine Damen und Herren. Schauen Sie auf die Giftanschläge und Mordtaten in zahlreichen europäischen Städten, auch hier bei uns, in unserer Hauptstadt! Schauen Sie auf die Cyberangriffe gegen unsere Dateninfrastruktur! Schauen Sie auf die physische Zerstörung vieler Daten- und Unterseekabel offenbar auch durch die sogenannte Schattenflotte! Schauen Sie auf die Spionage- und Sabotageakte und die systematische Desinformation unserer Bevölkerung! Meine Damen und Herren, das ist ganz überwiegend das Werk der russischen Staatsführung und ihrer Helfer – auch hier bei uns, im eigenen Land.

Allen diesen Versuchen der Spaltung und der Destabilisierung Europas und unserer Demokratien treten wir daher mit aller grösster Entschiedenheit, mit Geschlossenheit und vor allem mit Verteidigungsbereitschaft entgegen.

Und daraus folgt schliesslich: Drittens. Mit dieser Haltung verträgt sich kein Diktatfrieden und keine Unterwerfung unter militärisch geschaffenen Fakten gegen den Willen der Ukraine. Wir hoffen und wir arbeiten alle hart daran, dass diese klare Haltung nicht nur überall in Europa vertreten wird, sondern auch von unseren amerikanischen Partnern. Ich habe in den vergangenen Tagen zweimal mit Präsident Trump telefoniert. Ich bin dankbar für seine Unterstützung der Initiative zu einer 30-tägigenbedingungslosen Waffenruhe. Eine solche Waffenruhe kann ein Fenster öffnen, in dem Friedensverhandlungen überhaupt erst möglich werden. Es ist von überragender Bedeutung, dass der politische Westen, meine Damen und Herren, sich nicht spalten lässt.

Und deshalb werde ich weiter alle Anstrengungen unternehmen, um auch weiterhin grösstmögliche Einigkeit zwischen den europäischen und den amerikanischen Partnern herzustellen. Für unser Land gilt zugleich: Wir selbst müssen und wir werden unsere eigene Verteidigungsfähigkeit und unsere Verteidigungsbereitschaft beständig weiter ausbauen. Dabei leitet uns ein ganz einfacher Grundsatz: Wir wollen uns verteidigen können, damit wir uns nicht verteidigen müssen. Wir nennen diesen Grundsatz seit Jahrzehnten Abschreckung. Es gibt wenige Lehren aus der jüngeren Geschichte, die sich so passgenau auf die Gegenwart übertragen lassen wie diese; denn diese Lehre ist einfach: Stärke schreckt Aggression ab, Schwäche hingegen lädt zur Aggression ein. Unser Ziel ist ein Land, ein Deutschland und ein Europa, die gemeinsam so stark sind, dass wir unsere Waffen niemals einsetzen müssen. Dafür werden wir innerhalb der NATO und in der Europäischen Union mehr Verantwortung übernehmen. Darüber habe ich bei meinem Antrittsbesuch bei der NATO in Brüssel am letzten Freitag auch mit Generalsekretär Mark Rutte gesprochen.

Ich will es hier genauso deutlich sagen wie in Brüssel:Wir werden unsere Verpflichtungen erfüllen – in unserem eigenen Interesse und im Interesse dieses grossartigen Nordatlantischen Bündnisses, das wie kein zweites auf der Welt für Freiheit und Frieden steht, jedenfalls indem Teil der Welt, in dem zu leben wir heute das grosse Glück haben, meine Damen und Herren.

Die Stärkung der Bundeswehr steht dabei in unserer Politik an erster Stelle. Die Bundesregierung wird zukünftig alle finanziellen Mittel zur Verfügung stellen,die die Bundeswehr braucht, um zur konventionell stärksten Armee Europas zu werden. Das ist dem bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Land Europas auch mehr als angemessen. Das erwarten auch unsere Freunde und unsere Partner von uns. Mehr noch: Sie fordern es geradezu ein.

Aber, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können von der Verteidigung der Freiheit nicht sprechen, ohne von denen zu sprechen, die sich bereit erklärt haben, diese Freiheit unter Einsatz ihres Lebens zu verteidigen. Ich möchte die Gelegenheit daher nutzen, um unseren Soldatinnen und Soldaten für ihren Dienst an unserem Land zu danken. Diese Soldatinnen und Soldaten stellen sich mit ihrer Bereitschaft, notfalls auch ihr Leben für unsere Freiheit einzusetzen, in die höchste denkbare Verantwortung für unser Land.

Wir wissen aber auch, dass wir die personelle Einsatzbereitschaft und den personellen Aufwuchs unserer Bundeswehr dringend verbessern müssen. Wir werden deshalb zunächst einen neuen, attraktiven Freiwilligen Wehrdienst schaffen. Es gibt viele junge Menschen in unserem Land, die bereit sind, diese Verantwortung zu übernehmen für die Wehrhaftigkeit unseres Landes und unsere Sicherheit. Das wollen und das werden wir fördern.

Meine Damen und Herren, Deutschlands Sicherheit, Deutschlands Gestaltungskraft in der Welt steht und fällt mit unserer wirtschaftlichen Stärke. Das wirtschaftliche Fundament unseres Landes ist immer noch stark. Wir haben innovative Unternehmen, darunter viele Weltmarktführer. Wir haben einen starken Mittelstand mit hervorragenden Mitarbeitern. Wir haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die jeden Tag Leistung bringen, hochqualifiziertes Fachpersonal. Wir haben die besten Köpfe in der Forschung. Unsere Wirtschaft ist in grossen Teilen immer noch wettbewerbsfähig. Aber die Rahmenbedingungen, unter denen sie arbeiten muss, sind es nicht mehr. Immer mehr Regulierung, erdrückende Bürokratie, marode Infrastruktur, eine teure Energieversorgung und vergleichsweise hohe Steuern und Abgaben, das hemmt seit Jahren das Potenzial, das in unserer Wirtschaft steckt. Im Ergebnis steckt Deutschlands Wirtschaft in der Rezession. Eine solch lange Phase ohne Wirtschaftswachstum haben wir in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nie erlebt. Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel, auch in Deutschlands Schlüsselindustrien wie zum Beispiel dem Automobilbau, der chemischen Industrie oder dem Maschinenbau. Wir werden deshalb alles daransetzen, Deutschlands Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu bringen.Wir wollen investieren und reformieren; beides gehört zusammen.

Auch in der Wirtschaftspolitik bin ich der Überzeugung: Wir können aus eigener Kraft heraus wieder zu einer Wachstumslokomotive werden, auf die die Welt mit Bewunderung schaut. Wir werden deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen,Wettbewerbsfähigkeit zum Massstab unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik machen. Wir wollen vor allem die Arbeitsplätze in der produzierenden Industrie erhalten, neue Arbeitsplätze dort ermöglichen. Und vor allem wollen wir den Strukturwandel, den wir Transformation nennen –hin zu modernen Technologien mit ressourcenschonender Energieversorgung, mit durchgreifender Digitalisierung, mit künstlicher Intelligenz und vielen weiteren Chancen –, ermöglichen und fördern. Dafür brauchen wir in grossem Umfang öffentliche und vor allem private Investitionen.

Erste, spürbare Massnahmen auf diesem Weg wollen wir schon bald verabschieden: Unternehmen, die in neue Maschinen, Anlagen oder Digitalisierung investieren, sollen künftig drei Jahre hintereinander bis zu 30 Prozent der Anschaffungskosten steuerlich absetzen können. Ab 2028 wollen wir dann die Körperschaftsteuer in fünf Jahresschritten um je 1 Prozentpunkt senken. Das schafft verlässliche Investitionsbedingungen, die Deutschlanda uch im internationalen Vergleich wieder attraktiv machen.

Und wir wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Widerstandsfähigkeit unserer Infrastruktur stärken. Dafür legen wir ein auf zwölf Jahre angelegtes Investitionsprogramm auf, auf allen staatlichen Ebenen. Das sorgt für Verlässlichkeit und Planbarkeit. Für diese Wahlperiode haben wir uns in der Koalition auf eine Investitionssumme von bis zu 150 Milliarden Euro geeinigt. Das ist aber nur der kleinere Teil, der in Deutschland investiert werden muss. Der grössere Teil muss aus der Privatwirtschaft und aus den Kapitalmärkten kommen. Genau dafür werden wir die Rahmenbedingungen schaffen.

Uns stehen Mittel zur Verfügung, die über neue Schulen finanziert werden können. Lassen Sie mich dazu ein offenes Wort sagen: Wir müssen mit diesen Möglichkeiten äusserst behutsam umgehen. Denn diese Schulden lösen Zinszahlungen aus, und sie müssen auch eines Tages wieder zurückgezahlt werden. Sie lassen sich daher nur rechtfertigen, wenn wir mit diesem Geld dauerhaft und nachhaltig den Wert unserer Infrastruktur steigern und das Leistungsvermögen unseres Landes insgesamt verbessern. Dann lässt es sich rechtfertigen, aber nur dann.

Meine Damen und Herren, ich gehöre einer Generation an, für die es eigentlich immer nur vorwärts und aufwärts ging. „Wohlstand für Alle“ – unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft hat dieses grossartige Versprechen von Ludwig Erhard für viele eingelöst, erst im Westen und inzwischen zum Glück auch für viele im Osten unseres Landes. Doch viele Menschen in Deutschland, gerade auch viele jüngere, zweifeln mittlerweile daran, ob dieses Versprechen noch gilt und ob wir es überhaupt noch einlösen können. Diese Zweifel nehmen meine Generation,diese Zweifel nehmen uns alle und die neue Bundesregierung in die Pflicht, zu handeln. Und genau das werden wir tun. Deswegen investieren wir in Infrastruktur, in gute Strassen und pünktliche Züge. Deswegen investieren wir in gute Schulen und Forschungseinrichtungen, in lebenslanges Lernen und berufliche Bildung und Ausbildung,um die Deutschland ja heute noch weltweit beneidet wird. Wir investieren in einen modernen Staat und eine digitale Verwaltung, die die Bürgerinnen und Bürger nicht gängelt und drangsaliert, sondern unterstützt und voranbringt. Das alles ist nicht nur ein Gebot wirtschaftspolitischer Vernunft. Das ist auch der beste Weg, um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Leistungsfähigkeit unseres Staates und seiner Institutionen wieder zurückzugewinnen und damit auch eine Grundvoraussetzung für das Gelingen unserer Demokratie, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Natürlich reicht Geld allein dafür nicht aus. Zu diesen Investitionen gehören Reformen zwingend dazu. Wir brauchen vor allem einen beherzten Rückbau der überbordenden Bürokratie in unserem Land, und dazu brauchen wir vor allem ein neues Denken in unseren Köpfen. Wir werden die unzähligen Dokumentations-, Berichts-und Meldepflichten schnell und spürbar reduzieren. Wir werden die staatliche Verwaltung modernisieren und konsequent digitalisieren. Die notwendigen Kompetenzen dafür bündeln wir erstmalig in einem neuen Ministerium, dem Ministerium für Digitales und Staatsmodernisierung. Unser Ziel ist klar: Verwaltungsleistungen sollen einfach und digital über eine zentrale Plattform ermöglicht werden, ohne Behördengang.

Meine Damen und Herren, mit einem Innovationsfreiheitsgesetz geben wir der Forschung mehr Freiheit und entfesseln sie von kleinteiliger Förderbürokratie. Wir starten eine Hightech-Agenda zur Förderung von Spitzentechnologien in Deutschland. Wir stellen die Weichen dafür, dass Deutschland Start-up-Land wird und eine Heimat für Technologien wie künstliche Intelligenz, Biotechnologie oder Fusionsenergie. Wir werden Gründungen in Deutschland vereinfachen. Wir schaffen eine zentrale Anlaufstelle, die alle Anträge und Behördengänge digital bündelt und eine Unternehmensgründung innerhalb von 24 Stunden ermöglicht. Eine wichtige Bedingung dafür ist, dass wir uns unsere Offenheit und unsere enge wirtschaftliche Vernetzung mit allen Teilen der Welt bewahren.

Jeder vierte Arbeitsplatz in Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen, hängt direkt oder indirekt vom Aussenhandel ab. Ich habe daher in meinen Gesprächen in Brüssel und mit verschiedenen europäischen Gesprächspartnern darüber hinaus eine neue Freihandelsinitiative in der EU vorgeschlagen. Wir wollen die Europäische Union dabei unterstützen, gerade jetzt so viele neue Handelsabkommen wie möglich abzuschliessen, Handelsabkommen, die möglichst nur die Zustimmung der europäischen Institutionen benötigen. Wir setzen uns für eine schnelle Ratifizierung des Mercosur-Abkommens und im Handelskonflikt mit den USA für die Vermeidung eines länger andauernden Handelsstreites ein.

Meine Damen und Herren, bei der Bewältigung globaler Herausforderungen wie auch in der Wirtschaft selbst wird China ein wichtiger Partner Deutschlands und der Europäischen Union bleiben. Wir werden selbstbewusst für die Einhaltung vereinbarter industrie- und handelspolitischer Regeln eintreten. Im Sinne eines strategischen De-Riskings werden wir einseitige Abhängigkeiten weiter abbauen. Wir sehen, dass es in Chinas aussenpolitischem Handeln zunehmend Elemente systemischer Rivalität gibt. Offen gesagt: Die wachsende Nähe zwischen Peking und Moskau betrachten wir mit erheblicher Sorge. Wir werden daher gegenüber China mit Bestimmtheit dafür eintreten, dass es seinen Beitrag zur Beilegung des Krieges in der Ukraine leistet. Unsere China-Politikwerden wir darüber hinaus regional einbetten. Eine stabile, freie und sichere Indopazifik-Region ist für Deutschland und für die Europäische Union von grosser strategischer Bedeutung.

Auch bitte das mögen wir an einem solchen Tag wie heute bedenken: Die internationale Ordnung verändert sich tiefgreifend. Sie ist zunehmend geprägt von Systemrivalität und Grossmachtpolitik. Wir haben gelernt, dass wir unsere Lieferketten diversifizieren und einseitige Abhängigkeiten abbauen müssen. Für die Bundesregierung heisst das auch: Wir müssen unsere Partnerschaften in der Welt da vertiefen und ausbauen, wo unsere Partner von den gleichen Grundsätzen ausgehen. Wir wollen deshalb die Beziehungen zu Asien intensivieren, diesem dynamischen Wirtschaftsraum. Ich nenne, nur beispielhaft für viele andere Länder, Indien, Japan oder Indonesien.

Wir wollen auch die Zusammenarbeit mit unserem südlichen Nachbarn, mit dem afrikanischen Kontinent, voranbringen, ein Kontinent, der nach meinem Dafürhalten in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu geringe Aufmerksamkeit von uns und auch aus Europa bekommen hat. Wir wollen diese Nachbarschaft aktiv gestalten. Das gilt in der Wirtschaftspolitik. Das gilt aber auch bei der Kontrolle von Migration und bei der Bewahrung von Frieden und Sicherheit.

Parallel dazu – das ist mir wichtig – werden wir gemeinsam mit Frankreich und allen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union alles daransetzen, den europäischen Binnenmarkt weiter zu vertiefen; denn schliesslich ist die Europäische Union der mit Abstand wichtigste Markt für unsere Unternehmen. Deshalb gilt auch hier ähnlich wie in Sachen Verteidigung: Neue Kraft entsteht aus einem noch engeren Zusammenschluss Europas.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, aus aktuellem Anlass lassen Sie mich sagen: Wir suchen auch eine vertiefte Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich von Grossbritannien. Das gilt zunächst für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das gilt aber auch für alle denkbaren Möglichkeiten der Zusammenarbeit in der Handelspolitik und in der Wirtschaftspolitik bis hin zur Zusammenarbeit in Wissenschaft und Forschung. Insgesamt rücken wir die Wettbewerbsfähigkeit wieder ins Zentrum der europäischen Politik. Und wir drängen auch auf mutigen Rückbau der Bürokratie in Brüssel, auf weniger Berichtspflichten und auf weniger Vorschriften von dort

Meine Damen und Herren, vieles von dem, was ich hier gerade sage, mag dem ein oder anderen ein wenig zu detailgenau vorkommen. Aber diese einzelnen Fragen, über die ich spreche, und die Antworten, die wir darauf geben, sind Teil eines neuen Grundverständnisses, das wir in der Koalition miteinander vereinbaren konnten, nämlich des Grundverständnisses, dass wir unseren Unternehmen und ihren Beschäftigten grundsätzlich nicht mit Misstrauen und Kontrollansprüchen begegnen, sondern mit Vertrauen und eben mit Verantwortung. Denn auch die Unternehmen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Sozialpartner in den Betrieben genauso wie die Arbeitgeberorganisationen und die Gewerkschaften, sie alle tragen Verantwortung, und sie alle verdienen einen Vertrauensvorschuss. Sie verdienen mehr Freiheit und Unterstützung statt mehr Misstrauen und immer mehr Verordnungen und Vorschriften.

Das, was ich hier sage, liebe Kolleginnen und Kollegen, gilt auch und gerade in der Klima- und in der Energiepolitik. Weder uns als Land noch dem Klima ist geholfen, wenn Unternehmen ihre Produktion auf Grund hoher Kosten und kleinteiliger Vorgaben ins Ausland verlagern.

Damit auch da kein Zweifel entsteht: An den deutschen, den europäischen und den internationalen Klimazielen halten wir fest. Doch um sie zu erreichen, werden wir neue Wege einschlagen. Zentraler Baustein wird etwa die Bepreisung von CO2 sein und damit ein marktwirtschaftlicher Ansatz, der Anreize setzt. Die Einnahmen daraus werden wir nicht im Staatshaushalt vereinnahmen, sondern gezielt an die Wirtschaft und die Bürgerinnen und Bürger zurückgeben. Nicht zuletzt werden wir unsere Energiepolitik systemaisch auf Bezahlbarkeit, Kosteneffizienz und Versorgungssicherheit ausrichten, unideologisch und technologieoffen. Wir werden in einem ersten Schritt die Stromsteuer senken. Es werden Entlastungen zum Beispiel bei den Netzentgelten hinzukommen. Und sehr rasch werden wir die Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid ermöglichen. Mehr Freiheit, mehr Anreize für Engagement und eigene Anstrengung schaffen wir auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Leistung muss sich wieder lohnen, liebe Kolleginnen und Kollegen. So werden wir etwa mit der Aktivrente freiwilliges Weiterarbeiten auch jenseits des 67. Lebensjahres ermöglichen. Wir geben den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Betrieben mehr Flexibilität durch eine wöchentliche statt einer täglichen Höchstarbeitszeit. Und sobald es die finanziellen Möglichkeiten hergeben –auch hier spielt Wirtschaftswachstum die entscheidende Rolle –, werden wir ganz gezielt die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen bei der Einkommensteuer entlasten.

Ordentliche Löhne für gute Arbeit, das ist und bleibt das zentrale Versprechen der Sozialpartnerschaft in Deutschland. Deshalb treten wir in dieser Koalition gemeinsam für eine höhere Tarifbindung ein. Auch die Sozialpartner, meine Damen und Herren, die Unternehmen und Gewerkschaften tragen eine grosse Verantwortung, auf die wir als Regierung vertrauen, die wir aber auch in Anspruch nehmen. Deshalb haben wir vereinbart, an der unabhängigen Mindestlohnkommission festzuhalten. Und zugleich halten wir einen Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 angesichts der Tarifentwicklung für erreichbar, für möglich und für wünschbar. Aber wir werden ihn nicht gesetzlich festschreiben.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft wiederherstellen, wenn Deutschlands Wirtschaft wieder wächst, dann sichern wir dadurch auch unseren Sozialstaat – einen Sozialstaat, der eine der ganz grossen Errungenschaften der Bundesrepublik Deutschland ist und der ein Garant ist und bleibt für den sozialen Frieden in unserem Land.

Es ist zentral, dass sich alle Menschen auf eine stabile Alterssicherung verlassen können. Wir werden deshalb das Rentenniveau bei 48 Prozent bis zum Jahr 2031 absichern. Wir werden aber auch schon sehr bald junge Menschen dabei unterstützen, frühzeitig für ihr Alter vorzusorgen und Verantwortung für ihre eigene Zukunft zu übernehmen. Wir machen das mit der sogenannten Frühstart-Rente, durch die bereits ab dem sechsten Lebensjahr der Aufbau einer kapitalgedeckten individuellen Altersversorgung beginnt.

Zugleich werden wir uns der Aufgabe annehmen, den Sozialstaat mit Blick auf eine alternde Gesellschaft zukunftsfest zu machen. Ich will es sehr deutlich sagen: Ich stehe auch persönlich dafür ein, dass die jungen Generationen in unserem Land nicht überfordert werden mit Aufgaben, für die ihre Eltern bisher nicht genügend Vorsorge getroffen haben. Wir werden als Bundesregierung eine Rentenreformkommission einsetzen, die Vorschläge erarbeitet, wie wir die Alterssicherung für alle Generationen gerecht ausgestalten können.

Grundlegende Strukturreformen brauchen wir eben-falls dringend im Gesundheits- und Pflegesystem. Auch hier werden wir uns Rat von Expertinnen und Experten und den Sozialpartnern holen. Und wir werden die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten im Gesundheitswesen weiter verbessern.

Wir werden das bisherige Bürgergeldsystem abschaffen und in eine neue Gru ndsicherung überführen. Wir wollen, dass grundsätzlich für jeden Bezieher von Sozialleistungen immer auch genügend Anreize bestehen, ein höheres Erwerbseinkommen zu erzielen oder eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufzunehmen. Deshalb werden wir die Hinzuverdienstregeln reformieren und die sogenannten Transferentzugsraten in den unterschiedlichen Leistungssystemen besser aufeinander abstimmen.

Meine Damen und Herren, eine der wichtigsten sozialen Fragen unserer Zeit – darauf muss ich selbstverständlich heute eingehen – ist bezahlbares Wohnen. Ob für Familien und Rentner mit kleinem Einkommen oder für junge Menschen gerade in den Ballungszentren: Wohnraum muss bezahlbar bleiben, und dort, wo die Preise bereits zu weit gestiegen sind,muss er wieder bezahlbar werden. Zu bezahlbarem Wohnraum gehört vor allem: Bauen, bauen, bauen. Dafür forcieren wir den Mietwohnungsbau und die Eigentumsbildung mit Steuerentlastungen für Bauherren, mit einer Entbürokratisierung des Bauens und mit mehr sozialem Wohnungsbau.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an dieser Stelle auch ein persönliches Wort sagen: Meine Heimat – das wissen Sie alle – liegt im sogenannten ländlichen Raum in Deutschland. Die Erhaltung dieses Raumes, seiner Kultur und seiner Lebensweise, das alles ist mir persönlich sehr wichtig. Ganz zentral ist dabei die Sicherung einer vielfältigen, leistungsstarken und nachhaltigen Land- und Forstwirtschaft. Ich sage das, weil auch in diesem Bereich die Herausforderungen gross sind – vom Klimawandel über die fortschreitende Technisierung bis hin zum Fachkräftemangel und zur auch dort überbordenden Bürokratie. Diese Herausforderungen müssen wir angehen; wir werden sie angehen. Denn nur wenn es unseren land-, forst- und ernährungswirtschaftlichen Betrieben in all ihrer Vielfaltgut geht, nur dann gibt es eine verlässliche regionale Wertschöpfung und weiterhin eine verlässliche Versorgung der Verbraucherinnen und Verbraucher überall in Deutschland mit gesunden Lebensmitteln.

Auch hier gilt: Wir vertrauen den Land- und Forstwirten; sie wissen selbst am besten, wie sie ihre Betriebe erfolgreich führen. Die neue Bundesregierung wird deshalb vor allem auf Freiwilligkeit, Anreize und Eigenverantwortung setzen. Das wird auch unsere Richtschnur im Umgang mit den Vorschlägen der Europäischen Kommission zur zukünftigen Gemeinsamen Agrarpolitik sein.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Verantwortung tragen wir auch für den Fortbestand unserer offenen Gesellschaft. Die Freiheit, in der wir miteinander in diesem Land leben, ist vielleicht das grösste Erbe, das uns mitgegeben worden ist. Sie ist zugleich die grösste Zukunftskraft, die wir haben. Es ist eine Kernaufgabe einer jeden Bundesregierung, für den Fortbestand der Freiheit in unserem Lande Sorge zu tragen.Das setzt eine Innenpolitik voraus, die den Bedrohungen unserer Freiheit wirksam begegnet. Unsere Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass sie sich ohne Angst im öffentlichen und im digitalen Raum bewegen können. Sie verdienen ein Höchstmass an Sicherheit und Schutz. Deutschland ist trotz der verschärften Sicherheitslage nach wie vor ein sicheres Land. Und das ist wesentlich das Verdienst der Einsatzkräfte. Sie prägen das Gesicht unseres Landes, oft unter grösstem persönlichem Einsatz. Unter all dem, worauf wir als Bundesrepublik Deutschland besonders stolz sein können, steht für mich ganz vorn die Einsatzbereitschaft und die Professionalität, mit der sich unsere Polizistinnen und Polizisten, unsere Rettungskräfte, unsere Gemeinwohlorganisationen, unsere Soldatinnen und Soldaten täglich an die Arbeit machen. Sie haben dafür die grösste gesellschaftliche Anerkennung und die besten Arbeitsbedingungen verdient, und ich möchte ihnen allen sagen: Dafür wird die neue Bundesregierung nach Kräften Sorge tragen, auch indem wir den strafrechtlichen Schutz der Einsatzkräfte verbessern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zunahme von Aggression und Gewalt gegen unsere Einsatzkräfte werden wir niemals tolerieren. Wir werden darum unsere Sicherheitsbehörden gezielt stärken und besser ausrüsten. Wir werden mit aller Entschlossenheit gegen die Feinde unserer Demokratie tätig werden, und wir werden uns dabei keine blinden Flecken mehr erlauben. Wir werden vor allem dem unerträglichen Antisemitismus den Kampf ansagen, der sich im alten und neuen Gewand auf den deutschen Strassen und in der deutschen Öffentlichkeit, bis hinein in den Raum der Kunst und der Wissenschaft, wieder tagtäglich zeigt. Ich will es sehr deutlich sagen: Das beschämt uns alle. In Verantwortung vor unserer Gesellschaft: Deutschland muss ein Schutzraum für Jüdinnen und Juden sein und bleiben

Erlauben Sie mir, dass ich, ebenfalls aus aktuellem Anlass, einige Sätze zu Israel sage. Wir haben am Montag in Gegenwart des israelischen Staatspräsidenten Itzchak Herzog auf 60 Jahre diplomatische Beziehungen zum Staat Israel zurückgeblickt. Unser Bundespräsident Steinmeier hat anlässlich des Festaktes an diesem Tag von einem „Wunder“ gesprochen. Ja, die diplomatische Annäherung, mehr noch die Partnerschaft, die seit einigen Jahrzehnten zwischen Deutschland und Israel besteht, sie ist ein Wunder. Sie ist aber auch eine Gabe des Staates Israel, der israelischen Gesellschaft, auf die wir in der Bundesrepublik nicht haben hoffen dürfen. Für uns, für die Bundesrepublik Deutschland folgt daraus: Existenz und Sicherheit des Staates Israel sind und bleiben unsere Staatsräson.

Mit dem 7. Oktober 2023 ist diese historische Verantwortung wieder sehr konkret geworden. Israel ist an diesem Tag auf barbarischste Weise angegriffen worden. Überlebende des Holocaust haben erleben müssen, wie ihre Angehörigen in die Geiselhaft der Hamas genommen worden sind. Ich möchte unseren israelischen Freunden von dieser Stelle aus sagen: Wir stehen unverbrüchlich an der Seite Israels. Dazu gehört, dass wir uns für einen raschen Frieden in der Region einsetzen. Wir hoffen, dass die Verhandlungen über einen Waffenstillstand gelingen und die Freilassung aller Geiseln, auch der deutschen Staatsangehörigen, die die Hamas immer noch gefangenhält, möglich wird. Wir unterstützen alle Bemühungen – und erwarten sie auch – um eine bessere humanitäre Versorgung der Bevölkerung in Gaza, deren Leiden wir sehen – das der Kinder, der Frauen und der älteren Menschen vor allen Dingen. Uns erreichen heute Nachrichten, dass eine akute Hungersnot in Gaza drohen könnte. Es ist eine humanitäre Verpflichtung, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, aller Beteiligten – und ich betone: aller Beteiligten –, dass eine Hungersnot in der Region schnellstmöglich abgewendet wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe schon von der Verantwortung für die offene Gesellschaft gesprochen. Verantwortung für die offene Gesellschaft bedeutet auch, dass wir anerkennen: Die in weiten Teilen ungesteuerte Migration hat unsere Gesellschaft in den letzten Jahren überfordert. Ich sage gleichwohl in all er Deutlichkeit: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Das war so; das ist so; und dasbleibt auch so. Wir wollen ein freundliches und respektvolles Land bleiben, gerade gegenüber denjenigen, die zu uns gekommen sind, die bei uns leben, die bei uns arbeiten, die deutscheS taatsbürger geworden sind und die ein fester und unverzichtbarer Teil unserer Gesellschaft und unseres Landes sind.

Doch die Entwicklung in den letzten zehn Jahren hat auch gezeigt: Wir haben zu viel ungesteuerte Einwanderung zugelassen und zu viel geringqualifizierte Migration in unseren Arbeitsmarkt und vor allem in unsere sozialen Sicherungssysteme ermöglicht. Wir ordnen Migration mit mehr Begrenzung, mehr Zurückweisungen, mehr Steuerung, mehr Rückführungen. Wir machen dabei keinen nationalen Alleingang. Im Gegenteil: Wir verhalten uns im Einklang mit europäischem Recht. Mit unseren europäischen Nachbarn sind wir uns einig, die Aussengrenzen konsequent zu schützen. Und bei dieer Aufgabe werden wir die Aussengrenzstaaten – was wir nicht sind – unterstützen. Wir setzen die EU-Asylreform konsequent um, und wir wollen gemeinsam mit unseren europäischen Partnern auch die Voraussetzungen für Asylverfahren in Drittstaaten schaffen.

Meine Damen und Herren, wir werden Integration ermöglichen, aber auch einfordern. Denn auch und gerade da, wo Menschen in Freiheit zusammenleben, braucht es einen gemeinsamen Horizont von Werten und eine gemeinsame Sprache. Wir werden es deshalb zur Priorität machen, dass die Menschen, die bei uns bleiben, schnellstmöglich in Arbeit und Beschäftigung kommen. Für gut integrierte Geduldete, die für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen und Deutsch sprechen können, schaffen wir ein Bleiberecht. Unsere neue Migrationspolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Zeichen der Verantwortung – klar, gerecht und am Wohle unseres Landes orientiert.

Lassen Sie mich zum Abschluss kommen. Meine Damen und Herren, wir haben in den vergangenen Wochen die Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen CDU, CSU und SPD gelegt. Dafür bin ich dankbar. Wir haben uns darauf verständigt, wie wir Politik gestalten wollen: zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger, problemlösend, ohne öffentlichen Streit, nicht nur mit Blick auf die Risiken, sondern vor allem mit Blick auf die Chancen, die wir haben. Wir werden dabei eng mit Ihnen, den Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag, mit dem Bundesrat, den Ländern und den Kommunen zusammenarbeiten. Auch sie alle tragen Verantwortung für eine gute Zukunft in Deutschland und in Europa. Gleiches gilt für die Bürgerinnen und Bürger selbst, für jede und jeden Einzelnen von uns. Der Staat, das sind wir alle, jeder Einzelne und alle zusammen als Gemeinschaft. Jede Forderung an den Staat richtet sich also zugleich an jeden Einzelnen, auch an denjenigen, der eine solche Forderung erhebt.

Ich will dem Deutschen Bundestag und den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land heute deshalb sagen: Wir können alle Herausforderungen, ganz gleich, wie gross sie sein mögen, aus eigener Kraft heraus bewältigen. Es gibt kein Problem, das wir – jedenfalls auf Zeit – nicht gemeinsam lösen können. Es liegt nicht an externen Einflüssen oder Ereignissen; es liegt nur an uns selbst. Unser Land hat alle Stärken und alle Fähigkeiten, um wieder nach vorn zu kommen. Was wir brauchen, ist nicht mehr und nicht weniger als eine gemeinsame Kraftanstrengung. Ich habe die grosse Zuversicht, dass uns das in den nächsten Jahren gemeinsam gelingen kann. Ich will mich noch einmal ganz besonders an die junge Generation wenden. Die neue Bundesregierung wird mit aller Kraft daran arbeiten, dass wir einen neuen Generationenvertrag verwirklichen. Wir wissen, dass wir angesichts der demografischen Entwicklung in dieser Wahlperiode ein Zeichen setzen müssen für eure Zukunft. Wir wissen, dass es eure Chancen sind, für die wir heute arbeiten. Aber ich bitte euch auch: Helft mit; denn die Zukunft gehört euch. Und dafür wollen wir gemeinsam arbeiten.

Dabei hat die Bundesregierung nicht auf alle Fragen eine schnelle Antwort, ich auch nicht. Mein Angebot an Sie alle ist: Lassen Sie uns gemeinsam nach Antworten suchen, um Lösungen ringen, manchmal auch streiten, aber immer mit dem gemeinsamen Ziel, unser Land besser zu machen.

Für den Aufbruch, der nun vor uns liegt, wünsche ich mir, dass wir alle in Deutschland, in Nord, in Süd, in Ost und West, eine Fähigkeit zeigen, die wir immer wieder unter Beweis gestellt haben, wenn es anspruchsvoll wurde, nämlich die Fähigkeit, mit Mut und aus eigener Kraft das eigene Leben, die eigene Zukunft in die Hand zunehmen. Wir sind als Regierung angetreten, unseren Teil dieser Verantwortung wahrzunehmen. Wir streben kein ideologisches Grossprojekt zur Veränderung unserer Gesellschaft an. Wir wollen die Rahmenbedingungen unseres Landes setzen für das Zusammenleben der Menschen in Deutschland. Wir schlagen dabei neue Wege ein; aber wir bleiben verlässlich und vor allem jederzeit diskussionsbereit. Ich möchte, dass Sie, liebe Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, schon im Sommer spüren: Hier verändert sich langsam etwas zum Besseren; es geht voran. Wenn wir alle – jeder für sich und wir alle gemeinsam –als ein Land daran arbeiten, dann kann das gelingen. Lassen Sie mich zum Schluss eine persönliche Bemerkung machen: Alles, was ich selbst als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland dazu beitragen kann, das will ich in den kommenden Jahren tun, nach dem Besten meiner Möglichkeiten und mit ganzer Kraft – aus Verantwortung für Deutschland. Ich danke Ihnen.

Weiterführende Literatur:

Volker Resing: Friedrich Merz: Sein Weg zur Macht. Herder Verlag, Januar 2025, 224 Seiten. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und das Buch bestellen bei Amazon.de.

Sara Sievert: Der Unvermeidbare. Ein Blick hinter die Kulissen der Union. Rowohlt Buchverlag, Januar 2025, 256 Seiten. ISBN-13: ISBN: 978-3-498-00721-8. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und das Buch bestellen bei Amazon.de.

Bundestagswahl 2025 – Wahlabend der CDU

Foto: Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0.

Volltext der Regierungserklärung von Bundeskanzler Friedrich Merz im Bundestag am 14. Mai 2025. Artikel vom 15. Mai 2025. Hinzugefügt um 15:46 deutscher Zeit.