Die unsichtbare Skulptur. Der erweiterte Kunstbegriff nach Joseph Beuys

Jun 15, 2021 at 15:56 1097

Der Band Die unsichtbare Skulptur. Der erweiterte Kunstbegriff nach Joseph Beuys begleitet die gleichnamige Ausstellung im UNSECO-Welterbe Zollverein in Essen vom 10. Mai bis 26. September 2021 (ursprüngliche Daten; wegen der Covid-Pandemie die aktuellen Öffnungszeiten auf der Museums-Webseite konsultieren). Die Schau findet im Jahr des 100. Geburtstages von Joseph Beuys statt. Dieser betätigte sich als Zeichner, Bildhauer, Aktions- und Intallationskünstler, Lehrer und Aktivist, der den herkömmlichen Kunstbegriff revolutioniert und erweitert hat.

Ausstellung und Band Die unsichtbare Skulptur. Der erweiterte Kunstbegriff nach Joseph Beuys sind eingebettet in das Programm „beuys2021. 100 jahre joseph beuys“, das das Land Nordrhein-Westfalen in Zusammenarbeit mit der Heinrich Heine-Universität unter der Leitung von Prof. Dr. Eugen Blume und Dr. Catherine Nichols veranstaltet. Das Programm umfasst Ausstellungen, Aktionen, Performances, Theater-, Musik- und Lehrveranstaltungen von rund 25 Institutionen in 13 Städten.

„beuys2021. 100 jahre joseph beuys“ beschäftigt sich mit den Ideen von Demokratie, Freiheit, Politik, Umwelt und Kunst von Joseph Beuys und ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Es werden Eindrücke von Orten und Menschen vermittelt, die Beuys selbst nachhaltig beeinflusste. Umgekehrt werden ebenfalls die Einflüsse untersucht, die seine Biografie und seine Denkweise prägten. Dazu gehören seine Anfänge am Niederrhein, seine Jugend im Nationalsozialismus, seine Teilnahme am Zweiten Weltkrieg
und die ihn prägende Akademiezeit in Düsseldorf.

Die Ausstellung Die unsichtbare Skulptur. Der erweiterte Kunstbegriff nach Joseph Beuys im Essener Welterbe Zollverein und der dazugehörige Katalog thematisieren nicht nur die zentralen gesellschaftlichen Fragen im Werk von Beuys, wie Bildung, Ökologie und (direkte) Demokratie. Sie zeigen zudem die bisher wenig bekannte inhaltliche Beschäftigung von Joseph Beuys mit der ehemaligen Montanregion und seine dortigen Aktivitäten in den 1970er Jahren. Die künstlerischen Impulse des Ruhrgebietes auf Beuys und die dazugehörigen Aktionen und Begegnungen im Ruhrgebiet werden thematisiert.

Hier einige im Buch angesprochene Themen: Kunst und deren Verteidigung der Natur; der erweiterte Kunstbegriff von Beuys; jeder Mensch ist seiner Natur nach ein Künstler; Beuys und die Politik; Beuys und ’68 (ein produktives Missverständnis); verschiedene Werke werden analysiert.

Für den Künstler hatten Kapitalismus und Kommunismus die Menschheit in eine Sackgasse geführt. In einem Aufruf 1978 in der FAZ plädierte er für Selbstbestimmung, Selbstentfaltung und Solidarität. Nicht das Geld wie im Kapitalismus oder die Macht des Staates wie im Sozialismus, sondern der selbstbestimmte Mensch müsse in den Mittelpunkt der Gesellschaft rücken, zum Künstler werden, zum Bildner der sozialen Plastik.

Christiane Hoffmans schrebit in ihrem Beitrag Beuys – Stationen eines Lebens zu Kindheit, Schulzeit und Krieg, dass Joseph Heinrich Beuys (*1921) als Sohn eines Kaufmanns in Krefeld zur Welt kam. Die Stadt ignorierte er Zeit seines Lebens, da seine Geburt dort rein zufällig gewesen sei. Mit 22 wollte er Bildhauer werden, wurde jedoch im Zweiten Weltkrieg eingesetzt, in dem er zum Gefreiten befördert wurde, später gar Unteroffizier wurde. Als Funker und Bordschütze kam er in Süditalien, Kroatien und in der Ukraine zum Einsatz. 1944 stürzte er über der Krim ab. Nach seiner Genesung wurde er nochmals als Fallschirmspringer an wer Westfront eingesetzt und viermal verwundet. Im Mai 1945 kam er in britische Kriegsgefangenschaft in Cuxhaven. Am 5. August kehrte er nach Hause zurück. Seine Karriere als Künstler konnte beginnen. Kein Wort dazu, dass Beuys die Geschichte vom Filz und Fett, mit deren Hilfe ihm Krimtataren nach dem Absturz angeblich das Leben retteten, erfunden war.

Im Vorwort schreibt Heinrich Theodor Grütter (Direktor des Ruhr Museums in Essen und Mitglied des Vorstands der Stiftung Zollverein), dass Joseph Beuys zeit seines Lebens ein Mysterium war und es noch immer ist. Er polarisierte extrem. Für die einen war er ein Scharlatan, für die anderen der Leonardo des 20. Jahrhunderts, der den Kunstbegriff erweiterte und auf seine Ursprünge zurückführte. Für die einen bedeutete Beuys das Ende der Kunst, für die anderen deren Rettung. Manche wollen ihn auf seine Kunstwerke reduzieren, andere ihn vor allem in seiner gesellschaftlichen Bedeutung wahrnehmen. Selbst im letzten Punkt gibt es grosse Unterschiede der Wahrnehmung: Die einen sehen in tagespolitisch, die anderen nehmen ihn in einer zeitlosen Dimension wahr.

Für Heinrich Theodor Grütter geht es bei der Ausstellung und im Katalog darum, diese unterschiedlichen Deutungen als Scheinwidersprüche zu entlarven und zu zeigen, dass das Werk und die künstlerische Praxis von Joseph Beuys aus fundamentalen menschlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen erwachsen sind und auch dorthin zurückkehren. Die Ausstellung und der Katalog identifizieren dabei drei zentrale Bereiche im Denken und Wirken von Joseph Beuys: Kreativität, ökologische Frage und (direkte) Demokratie.

Er schreibt, das Ruhrgebiet werde eher weniger oder gar nicht mit Beuys in Verbindung gebracht. Ausstellung und Katalog versuchen hier, eine Lücke zu schliessen. Gelsenkirchen und Essen spielten in den 1970er Jahren für ein knappes Jahrzehnt – nach seiner Entlassung an der Akademie – ein bedeutende Rolle in der Arbeit von Joseph Beuys. In Gelsenkirchen baute sein Schüler Johannes Stüttgen als Kunsterzieher eine wichtige Zweigstelle der von Joseph Beuys gegründeten „Freien Internationalen Universität – Fluxus Zone West“ auf.

In diese Zeit fallen wichtige Ereignisse wie seine Sekretariatsbesetzung in der Düsseldorfer Akademie, seine zentralen documenta-Projekte wie die Honigpumpe am Arbeitsplatz und die 7000 Eichen sowie sein Engagement für die Grünen. Beuys weilte zudem häufig in der Kunstbaracke des Grillo-Gymnasiums, der Zentrale der „Fluxus Zone West“. All diese Projekte wurden von Gelsenkirchen aus betreut.

Heinrich Theodor Grütter unterstreicht, dass Beuys’ Verbindung zum Ruhrgebiet nicht nur organisatorischer, sondern auch ideeller Natur war. Neben einem biografischen Bezug mütterlicherseits war es vor allem seine Faszination für die archaische, materialgesättigte Welt der Montanregion, die sich deutlich von seiner rheinischen, naturverbundenen Heimat unterschied und die als „Land der tausend
Feuer“ die ihn stets beschäftigende Energiefrage in besonderer Weise berührte. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass sich Beuys’ innige Beziehung zu Irland und den hibernischen Mysterien mit der historischen Bedeutung der Iren für den frühen Ruhrgebietsbergbau verband. So gibt es eine Beuys-Arbeit im Krefelder Kaiser Wilhelm Museum mit dem Titel Hibernia sowie eine Gelsenkirchener Zeche gleichen Namens, die Beuys nachweislich bekannt war.

Das Welterbe Zollverein ist als ehemals grösste Tiefbauzeche der kongeniale Präsentationsort für die Ausstellung Die unsichtbare Skulptur. Der erweiterte Kunstbegriff nach Joseph Beuys. Es diente als riesiger Materialspeicher und war als technisches Wunderwerk das Symbol für die Förderung von Untertage nach Übertage sowie für das Zeitalter der Industrialisierung, das Zeitalter des Anthropozäns, in dem der Mensch antrat, sich die Natur endgültig untertan zu machen.

Beuys war charismatisch, ein Medienereignis. Wohl nur Picasso und Warhol seien so oft von bedeutenden Fotografen abgelichtet worden, so Heinrich Thedor Grütter. Das sind nur einige Angaben aus diesem Buch zu einem Künstler, der bis heute auch jene fasziniert (oder irritiert), die mit seinen künstlerischen, gesellschaftlichen und/oder politischen Ideen nichts anfangen können. Weshalb er relevant bleibt.

Die unsichtbare Skulptur. Der erweiterte Kunstbegriff nach Joseph Beuys. Wienand Verlag, 2021, 296 Seiten. Der Band begleitet die gleichnamige Ausstellung im UNSECO-Welterbe Zollverein, Essen vom 10. Mai bis 26. September 2021 (ursprüngliche Daten; wegen der Covid-Pandemie die aktuellen Öffnungszeiten auf der Museums-Webseite konsultieren). Katalog/Buch bestellen bei Amazon.de.

Zitate und Teilzitate in dieser Buchkritik / Buchrezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Rezension / Buchkritik hinzugefügt am 15. Juni 2021 um 15:56 deutscher Zeit. Ergänzt um 15:58.