Premierminister Recep Tayyip Erdogan schadet der Türkei. In seinen ersten Jahren an der Macht ging er in die richtige Richtung und brachte sein Land voran, nicht nur ökonomisch, denn er stärkte zum Beispiel die Rechte von Minderheiten und erweiterte religiöse Freiheiten. Doch wichtige Reformen, wie die Abschaffung des berüchtigten Anti-Terror-Gesetzes, mit dem unliebsame Kritiker und Oppositionelle hinter Gericht gebracht werden, hat er nicht unternommen. Der Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches, laut dem Menschen wegen Beleidigung der Republik, der Institutionen und Organe des Staates ins Gefängnis wandern können, gehört wegen Willkürgebrauch abgeschafft. Gleiches gilt für die Zehn-Prozent-Hürde zum Einzug ins Parlament bei Wahlen.
Die Kurden werden weiterhin diskriminiert, auch wenn die Lage sich unter Erdogan leicht verbessert hat; Istanbul ist die grösste kurdische Stadt der Welt. Die rund 15% (schiitischen) Aleviten in der sunnitischen Türkei werden nach wie vor benachteiligt.
Statt Reformen in die richtige Richtung hat Erdogan im Februar 2014 ein neues, peinliches Gesetz zur verstärkten Zensur des Internets durchgebracht, welches Präsident Abdullah Gül ebenso unterzeichnet hat wie eine Justizreform, welche die Gewaltentrennung unterminiert und zu mehr Zensur führt. Brandneu ist Erdogans Idee, nach den Kommunalwahlen vom 30. März 2014 Facebook und Youtube zu sperren; Youtube – sowie Vimeo – sind in der Türkei schon mehrfach blockiert worden.
Die Pressefreiheit ist in der Türkei nicht gewahrt. Es sitzen dort mehr Journalisten hinter Gitter als irgendwo sonst auf der Welt. Im Ergenekon-Skandal ist Erdogan gegen das Militär vorgegangen, das in der Vergangenheit mehrfach geputscht hat. Die Rückdrängung des Einflusses des Militärs gehört zu den Erfolgen des Premiers, doch gerade im Ergenekon-Prozess zeigte sich, dass dabei auch gleich Kritiker mundtot gemacht wurden und man es zugleich mit der Rechtsstaatlichkeit nicht immer so genau nahm.
Die Proteste gegen die Gezi-Park Überbauung in Istanbul ab Mai 2013 wandelten sich vom Widerstand gegen mutwillige Verschandelung der Natur und Umweltzerstörung zu Protesten gegen die Regierung Erdogan, die zuerst die eigenen Bürger nicht ernst nehmen wollte.
Am peinlichsten für Erdogan sind natürlich die Korruptionsvorwürfe von Ende 2013 sowie die Art, wie er darauf reagiert hat. Laut dem Premierminister handelt es sich um ein „Komplott“, um ein „abgekartetes Spiel“, wobei die Schuld beim in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen und seiner Gülen-Bewegung liegen soll. Erdogan liess Tausende Polizisten und Staatsanwälte auf andere Posten versetzen, die sich um Korruptionsfälle und andere Vergehen von Erdogan, vieler seiner Minister und anderer AKP-Mitglieder kümmerten. So wurde sogar der Polizeichef von Istanbul versetzt.
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Wie seine Söhne zu beachtlichem Reichtum gekommen sind, kann Erdogan eben so wenig erklären wie seinen eigenen Wohlstand. In der Wohnung des Chefs der staatlichen Halkbank, Süleyman Aslan, fanden die staatlichen Ermittler gar $4,5 Millionen in bar, versteckt in Schuhschachteln! Nicht nur da herrscht nun Erklärungsnotstand. Innenminister Muammer Güler, Europaminister Egemen Bagis, Wirtschaftsminister Zafer Caglayan sowie Umweltminister und Minister für Stadtwesen Erdogan Bayraktar mussten im Zuge der Ermittlungen zurücktreten, weil ihre Söhne in den Korruptionsskandal verwickelt sind. So sollen sie Politiker im Zusammenhang mit illegalen Geschäften der staatlichen Halkbank mit dem Iran bestochen haben.
Am 25. Februar 2014 wurden heimlich abgehörte Telefongespräche zwischen Erdogan und seinem zweiten Sohn Necmeddin Bilal publik. Sie sollen am 17. Dezember 2013 stattgefunden haben. Laut meinen türkischen Freunden handelt es sich zweifelsfrei im die Stimme von Erdogan. Darin geht es unter anderem um €30 Millionen bzw. um $25 Millionen, die versteckt werden müssen, noch nicht „aufgelöst“ werden konnten. Kein Wunder liegen die Nerven beim Premier seither blank.
Solange in der AKP kein nennenswerter Widerstand gegen den Parteivorsitzenden Erdogan besteht, wird sich in der Türkei so schnell nichts ändern, auch wenn vom Image der Antikorruptionspartei nichts mehr geblieben ist. In der AKP ist zur Zeit leider niemand von Bedeutung auszumachen, der sich als Nachfolger für Erdogan anbieten würde. Der Premierminister gilt als charismatischer Politiker, der als erster die Sprache des Volkes spricht, was ihn populärer macht als jeder andere Volksvertreter seit Atatürk. Zudem bilden die türkischen Oppositionsparteien immer noch keine glaubwürdige Alternative zur AKP.
Bereits als er 2011 seine dritte Amtszeit gewann, war klar, dass Recip Tayyip Erdogan seine besten Tage hinter sich hatte und besser einer jüngeren, unverbrauchten Kraft Platz machen sollte. Doch stattdessen bereitete sich Erdogan darauf vor, vom Premierministeramt in jenes des Präsidenten zu wechseln, um so weiterhin die Geschicke seines Landes lenken zu können. Die Bilanz seit Anfang 2014 allerdings viel düsterer aus als bei den Wahlsiegen 2007 und 2011. Reichen die Internetzensur, die Versetzung von Polizisten und Staatsanwälten, die Abwürgung jeglicher seriöser Untersuchung der illegalen Machenschaften von AKP-Mitgliedern aus, um den türkischen Wähler für dumm zu verkaufen? Längst hätte jemand eine glaubwürdige, alternative Partei zur AKP gründen sollen. Die Wirtschaftsbilanz von Erdogan hat sich in letzter Zeit eingetrübt. Spätestens beim Geldbeutel endet die Geduld so manchen Wählers.
70% der Türken leben inzwischen in Städten. Auch wenn die Mehrheit religiös und konservativ ist, so wollen viele nicht unbedingt in einer Sunni-Republik leben, wie sie Erdogan zunehmend vorzuschweben scheint. Erst recht nicht, wenn die AKP nicht mehr die „weisse“, die „saubere“ Partei ist, was das Akronym AKP ja auch bedeutet. Nicht nur Kemalisten wollen einen laizistischen Staat. Viele Wähler sind zudem überzeugt vom demokratischen Rechtsstaat, gebildeter als zuvor und lassen sich trotz Zensur und Propaganda in Staatsmedien und AKP-nahen-Medien nicht für dumm verkaufen. Insbesondere die junge Generation sieht die Welt mit offen Augen. Wie weit das Vertrauen der Wähler in die AKP noch vorhanden ist, werden die Kommunalwahlen vom 30. März 2014 zeigen. Wird nur die Stimmbeteiligung sinken, weil die AKP-Wähler keine Alternative sehen?
Recep Tayyip Erdogan hat zu viel Macht in seiner Person konzentriert und leidet zunehmend an Grössenwahn. Der Reformstau in der Türkei wird länger. Strukturelle Reformen sind nötig im Bereich der Menschenrechte, des Erziehungswesens, der Beziehungen mit Kurden, Aleviten und anderen Minderheiten, etc. Erdogan ist kein Führer, der ins 21. Jahrhundert passt. Er polarisiert das Land zunehmend und gehört abgelöst. Aber von wem? Neue Köpfe und Parteien braucht das Land.
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Das Foto oben zeigt Präsident Erdogan. Quelle: Wikipedia/Wikimedia/public domain.
Artikel vom 7. März 2014 um 12:52 deutscher Zeit. Hinzugefügt zu unseren WordPress-Seiten am 13. Mai 2023 um 11:52 deutscher Zeit.