Geboren wurde Gottfried Alexander Maximilian Walter Kurt Freiherr von Cramm in Nettlingen, dem Familiensitz der Cramms, südöstlich von Hannover, am 7. Juli 1909, in ein seit 1150 schriftlich bekanntes niedersächsisches Adelsgeschlecht , das heute noch die drei Schlösser Oelber, Bodenburg und Brüggen nahe Hildesheim bewohnt. Gottfried von Cramm war der dritte von sieben Söhnen.
Neben bemerkt: Oelber ist eine Rundburg, in der im Dreissigjährigen Krieg einmal der kaiserliche oberste Heerführer Tilly residierte und die in jenem Film mit Liselotte Pulver im Sommer 1960 zum Spukschloss im Spessart (DVD bei Amazon.de) wurde.
Als der spätere Tennis-Star zwei Jahre alt war, zog die Familie nach Schloss Brüggen um, knapp 30 Kilometer entfernt, dem früheren Sitz derer von Steinberg, der nach dem Tod des letzten Steinberg an Vater und Mutter Cramm, geborene Freiin von Steinberg, gefallen war – wie das Schloss Bodenburg und weitere fünf Güter in der Gegend: Harbarnsen, Wispenstein, Almstedt, Sellenstedt und Salzdetfurth.
Im Buch Der schöne Deutsche: Das Leben des Gottfried von Cramm (Amazon.de) präsentiert Jens Nordalm die Biografie eines Vorzeigedeutschen, der das Gegenbild zum durch die Nazizeit geprägten „hässlichen Deutschen“ darstellte.
Der Baron aus uraltem Geschlecht war ein Schönling, der in den 1930er Jahren zwischenzeitlich der zweitbeste Tennisstar der Welt war und für manche der eleganteste Spieler aller Zeiten ist. In der Nazi-Diktatur musste der bisexuelle Sportstar Gottfried von Cramm wegen seiner Liebe zu einem Mann 1938 ins Gefängnis Moabit. Im Frühjahr 1939 konnte er dann wieder Tennis spielen – auf jenen Plätzen, die sich dem Vorbestraften nicht verschlossen. Später heiratete Gottfried von Cramm die reichste Frau der Welt, die Woolworth-Erbin Barbara Hutton, die ihn noch attraktiver fand als seinen Vorgänger Cary Grant. Trotz einem aufregenden Leben ist der bisexuelle Antifaschist heute dem grossen Publikum in Deutschland nicht bekannt.
Der Protestantismus spielte eine wichtige in den Familien der Cramms und Steinbergs. Ein Vorfahr war ein Freund und Mitstreiter Martin Luthers: Assa von Kram war Taufpate eines Sohnes Luthers; Luther widmete ihm seine Schrift «Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können».
Gottfried von Cramms Mutter Jutta beschwerte sich im im Zweiten Weltkrieg bei der Kirchenleitung über die «Führer»-Anbiederung im Gottesdienst. Nach dem Zweiten Weltkrieg gründete Gottfried von Cramm zusammen mit Eugen Gerstenmaier das Evangelische Hilfswerk. Ihm sollten Gott, Bibel, Kirchgang und Abendmahl lebenslang Halt geben.
Der Weltklassetennisspieler Gottfried von Cramm mit seinen vollendeten Umgangsformen und seiner ausgesuchten Zurückhaltung war von «Fräulein Marggraff» erzogen worden. Vor ihrem kriegsbedingten Wechsel 1914 zu den Cramms mit den sieben Söhnen war sie Sprachenlehrerin des späteren englischen Königs Edward VIII., der 1936 wegen seines Heiratswunsches mit der zweifach geschiedenen Amerikanerin (und Nazi-Sympathisantin) Wallis Simpson abdankte. Das Fräulein Marggraff war zuvor zudem Sprachenlehrerin am spanischen Hof gewesen. Bei den Cramms war sie für den Benimm und für Englisch und Französisch zuständig. Von ihr kamen das perfekte Englisch und der Gentleman-Auftritt aller sieben Brüder.
Gottfried von Cramms Mutter Jutta besuchte im niederländischen Königsschloss Het Loo die holländische Königin und den Prinzen Bernhard, die ihre Verlobung bei den Cramms gefeiert hatten und mit denen sie immer in enger Verbindung stand. Im Saal auf Schloss Brüggen wurde 1936 die Verlobung von Prinz Bernhard zur Lippe-Biesterfeld, dessen Mutter Armgard eine geborene von Cramm war, mit Kronprinzessin Juliana, der späteren Königin der Niederlande, gefeiert.
Die Sportbegeisterung hatte Gottfried von seinem Vater Burghard von Cramm, der um 1900 in Oxford Jura studiert hatte. Als Tennisspieler brillierte der dritte Sohn Gottfried in den 1930er Jahren unter anderem in Wimbledon und in Roland Garros. In London stand ihm Fred Perry, der erste Wimbledonsieger aus der Arbeiterklasse 1935 und 1936 vor der Sonne. Es siegte der Engländer im Finale gegen Gottfried von Cramm. 1937 verlor der schöne Deutsche das Wimbledon-Finale gegen den Amerikaner Donald Budge. Doch Gottfried von Cramm konnte Grand Slam-Turniere auch gewinnen: So im Einzel 1934 und 1936 in Paris. Hinzu kamen noch zwei weitere Grand Slam-Titel im Doppel (1937 beim US Open und in Roland Garros an der Seite von Henner Henkel, der in jenem Jahr im Einzel in Paris gewinnen konnte) sowie einer im Mixed-Doppel (1933 in Wimbledon an der Seite von Hilde Krahwinkel). Gottfried siegte und verlor fair und elegant. In seinem Nachruf auf Cramm wird Donald Budge ihn «the finest sportsman of all time in any sport» nennen.
Die Cramms gehörten in England zur High Society, wohl dank Vater Burghards Studium in Oxford. Nicht nur Gottfrieds Mutter wohnte bei ihren Besuchen auf der Insel auf dem Landsitz der Astors in Cliveden bzw. deren Londoner Stadthaus am St. James’s Square. Der Tennisspieler Gottried hat dort quasi ein eigenes Zimmer. Bei den Astors verkehrten Churchill, Roosevelt, Chaplin, Henry James und viele andere Berühmtheiten.
Beim Erben stand der Drittgeborene Gottfried von Cramm allerdings nicht zuoberst. Der Baron hat immer verzichtet, weil er in erster Ehe die sehr reiche Lisa heiratete, und später die oben erwähnte Barbara Hutton. Die Tennis Grand Slam-Turniere waren damals übrigens den Amateuren vorbehalten.
Gottfrieds erste Frau (1930-37), Baroness Elisabeth «Lisa» von Dobeneck, stammte aus gutem Hause. Ihr Grossvater war der Kölner Bankier Louis Hagen (geb. Ludwig Levy), der zum Katholizismus konvertierte, sich mit seinen Bankhäusern Levy und Sal. Oppenheim um die industrielle Entwicklung Deutschlands verdient machte und ein Freund des Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauers war, der 1932 die Trauerrede auf Hagen hielt. Nebenbei bemerkt: Von den Nazis wurde Lisa natürlich als „Vierteljüdin“ eingestuft.
Ein Detail: Im Sommer 1929 befand sich Gottfried von Cramm auf einem längeren London-Aufenthalt mit Lisa und den Dobenecks. Sie wohnten im Claridge’s, auch «annexe to Buckingham Palace» genannt, in dem der Schauspieler Cary Grant stets residierte, noch nicht wissend, dass sie beide einmal dieselbe Frau heiraten würden: Barbara Hutton.
Von 1955 bis 1960 war Gottfried von Cramm mit der Woolworth-Erbin verheiratet, die wie Lisa 1912 zur Welt gekommen war. Kennengelernt hatten sich Cramm und Hutton 1937 in Kairo, wo die Nummer 2 der Welt für ein Turnier war, und wo Hutton im Gezira Sporting Club Tennis-Unterricht erhielt. Sie trafen sich 1937 zudem in London – wo Hutton Cramms Wimbledon-Finalniederlage beiwohnte – und Venedig sowie 1939 erneut in Kairo. Hutton und Cramm blieben per Telefon, Telegramm und Brief über den Krieg hinweg miteinander in Kontakt, ehe sie 1946 in Paris erneut zusammen kamen. Gottfried von Cramm hat die reichste Frau der Welt wirklich geliebt, doch die Beziehung mit dem «poor little rich girl» war schwierig.
In der Nazizeit schützten weder Herkunft noch sportlicher Erfolg vor Verfolgung. Beim Abendessen am 5. März 1938 im oben erwähnte Saal auf Schloss Brüggen wurde Gottfried von Cramm von der Gestapo wegen seiner gleichgeschlechtlichen Beziehung zum jüdischen Schauspieler und Sänger Manasse Herbst verhaftet. Er wurde zu einem Jahr Haft verurteilt und kam nach sieben Monaten wieder frei. Nebenbei bemerkt: Als Gottfried 1938 im Gefängnis sass, wollte (die verheiratete) Barbara Hutton den Tennisspieler bei Göring mit Devisen freikaufen.
Dies sind nur einige wenige Angaben aus einem aussergewöhnlichen Leben, das erst am 9. November 1976 mit einem Autounfall auf einer Wüstenstrasse in der Nähe von Kairo endet, und das nur so nach Verfilmung schreit.
Jens Nordalm: Der schöne Deutsche: Das Leben des Gottfried von Cramm. Rowohlt, Oktober 2021, 288 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.
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Rezension / Buchkritik vom 1. Mai 2022 um 19:59 deutscher Zeit.