Handbuch der mittelalterlichen Architektur

Jan 11, 2024 at 22:48 511

[Aus unserem Archiv vom 5. Oktober 2011:] Matthias Untermann: Handbuch der mittelalterlichen Architektur, Konrad Theiss Verlag bzw. WBG, Stuttgart 2009, 400 S., s/w, ISBN 978-3-8062-2158-9. Akzeptieren Sie alle Cookies, um direkt zur Buch-Seite zu kommen (wir erhalten eine Kommission): Amazon.de.

Das Handbuch richtet sich an Interessierte der mittelalterlichen Architektur, Kunst und Geschichte, sowie an Studierende dieser Fächer als auch an Fachleute – also an fast alle. Zum vorliegenden Werk würde wohl der Kunsthistoriker „brauchen wir nicht“ sagen, der Historiker „wissen wir schon“ und der Archäologe „zu oberflächlich“. Für eine scheuklappenfreie Erforschung des Mittelalters birgt der Band aber manche Erkenntnisse, nicht nur dem Laien.

In der kurzen Einleitung wirbt Untermann für ein genaueres Hinsehen. Mittelalterliche Architektur präsentiert sich heute nur noch selten so, wie sie im Mittelalter aussah. Er demonstriert das am Beispiel des Aachener Doms, an dem seit der Zeit um 800 ständig Veränderungen vorgenommen wurden*. Die funktionale Sicht auf Architektur erlaubt es, diese als sozialgeschichtliche Komponente einzuordnen. Als seine Hauptquellen nennt er schriftliche Quellen, Bauuntersuchungen, Ausgrabungen und historische Bildquellen. Unsere Vorstellungen mittelalterlicher Architektur bezeichnet der Autor als Resultat „kunstgeschichtlicher Hypothesen“, anhand derer im 19. und 20. Jahrhundert manche Restaurierung vorgenommen wurde. Solche Bauten seien keine Kopien verlorener Originale sondern Nachschöpfungen.

Im ersten Hauptteil beschreibt Untermann „Bauaufgaben“. Für Kirchenbau, Kloster- und Stiftsgebäude, Bauten der jüdischen Gemeinschaften und der weltlichen Herrschaft, Stadt und Dorf untersucht er die einzelnen Aufgaben von Gebäuden und Gebäudeteilen. Das Neue daran ist die konsequente Ausrichtung auf die Fragestellung, wer etwas baute oder veränderte und vor allem wozu etwas genutzt wurde.

Untermann analysiert Architektur ganz trocken nach sozialen und historischen Kriterien. In der Einleitung begründet er sein Unterfangen damit, dass „eine handliche Übersicht über Funktion, Kontext und Gestaltung mittelalterlicher Bauwerke und ihrer Elemente“ fehle. Diese Sicht wirkt auf traditionale Kunsthistoriker irritierend. Architektur wird in diesem Band nicht als Ziel, sondern als Mittel vorgestellt. Es geht also nicht um eine breite Darstellung von Bauformen, Stilen und Details, sondern um die Frage, weshalb in einer konkreten Phase des Mittelalters der eine oder der andere Bautyp verwendet wurde und welche Beispiele dazu zu nennen sind.

Die Vorliebe des Autors für geistliche Architektur ist daran abzulesen, dass diese rund 120 Seiten des Buches einnehmen. Er trägt damit natürlich dem hohen Anteil an Kirchen und Konventen Rechnung, die sich bis heute an mittelalterlicher Bausubstanz erhalten haben. Im Detail betrachtet verfällt der Autor allerdings da und dort genau dieser Überlieferungsfalle. So beschreibt er beispielsweise die Abortbauten an Burgen in Klöstern und nennt dafür eine Vielzahl von Beispielen. Die Situation in Städten und Dörfern wird hingegen nicht näher betrachtet, weil die baulichen Lösungen kaum mehr fassbar sind. Das mindert den Wert nicht, den Untermann der ländlichen Architektur beimisst; er stellt sie der städtischen als technisch ebenbürtig dar. Bauern und ihre spezifischen Bauformen standen bis vor kurzem im Dunstkreis der Volkskunde und wurden von der architekturgeschichtlichen Forschung kaum beachtet. Dabei war herrschaftliches Bauen im ländlichen Raum in Form von Burgen und Adelssitzen präsent. Als Ausnahmen präsentiert er hier Dorfkirchen, die auch schon früher ins Blickfeld von Kunstgeschichte und Baudenkmalpflege gerieten.

Der zweite Hauptteil, „Bauformen und Bautechnik“ ist eher ungewohnt für Untermann. Hier schildert der Autor, wie Holzbau, Steinbau und Aussenflächen die Gestalt der Architektur prägten und wie die Wahl des Baumaterials bzw. seine Verwendung in Wechselwirkung mit der Bauaufgabe und den verfügbaren Ressourcen standen. Beim Fachwerkbau verwendet Untermann regionale Einteilungen, die er aber nicht absolut setzt, sondern die regionale Durchlässigkeit von Technik und Gestaltung erläutert. Er betont weitere Erkenntnisse der jüngeren Forschung, beispielsweise die weitgehende Verwendung von Holz als Baumaterial an Herrschaftsbauten oder das bestimmende Material Holz beim Innenausbau. Gerade letzteres darf aufgrund der vielfältigen Umnutzungen mittelalterlicher Architektur nicht in Vergessenheit geraten. Beim Steinbau folgt Untermann der bewährten funktionalen Beschreibung. Er listet auf, welcher Mauertyp bevorzugt verwendet wurde und wie die Gewinnung und Verarbeitung des entsprechenden Rohmaterials vorging. Dabei verliert er sich nicht in der Aufzählung regionaler Materialien sondern nimmt die Mauer als Ausgangspunkt. Danach folgt eine summarische Darstellung des Baubetriebes, vom Entwurf über Fundamentierung bis zur zeitgenössischen Reparatur. Die nächsten Unterkapitel „Stützensystem“ und „Wandgliederung“ folgen der klassischen Stilgeschichte und sind einseitig auf Sakralbauten ausgerichtet – wieder die besagte Überlieferungsfalle. Diese Kritik lässt sich auch auf Fensteröffnungen und Türrahmen ausdehnen, die für das Erscheinungsbild von Holz- und Steinbau gleichermassen prägend sind, die Spezifika reiner Holzbauten allerdings nicht erwähnt werden. Im abschliessenden Kapitel schildert er Aussen- und Innenwand, Dach, Boden, Decke, Tür und Fenster der Gebäude.

Der praktische Nutzen des Handbuchs liegt für Laien wie Fachleute in der Systematik der konzisen Einzelbeiträge. Auch wenn Untermann Funktionen und Bedeutung des Holzbaus herauszustreichen sucht, erscheint gerade dieser Teil der Darstellung weniger systematisch und mit 23 Seiten vergleichsweise kurz. Untermanns Werk steht aber im Gegensatz zum sehr ausführlichen „Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte“ vollständig zur Verfügung.

Handbücher gelten als sperriges Rezensionsgut. Die einzelnen Punkte, die der Rezensent als Desiderata formuliert hat, sind dem persönlichen Arbeits- und Lesefokus geschuldet und sollen die Leistung der Überblicksdarstellung nicht schmälern. Das Werk Untermanns bietet wirklich der ganzen interessierten Leserschaft neue Erkenntnisse und regt – im Sinne des Autors – zum Hinschauen an.

*Fussnote: (S.14): „Viele Aspekte mittelalterlicher Baukunst lassen sich an einem Bauwerk wie dem Aachener Dom entschlüsseln und bieten bemerkenswerte Einblicke in Vorstellungen, Ansprüche und Wissenshorizont von Auftraggebern, Bauleuten und damaligen Nutzern: Bauentwurf und Typenwahl, Vermessung und Auseinandersetzung mit statischen Problemen, Bauen im Bestand und Planwechsel. Charakteristisch mittelalterlich sind eine Vielzahl von sichtbaren Bauformen wie Empore, Pilaster, Masswerkfenster und Strebewerk sowie unsichtbare Elemente wie Fundamente und hölzernes Dachwerk. Der Betrachter muss sich allerdings darauf einlassen, nicht einem einheitlichen, in sich geschlossenen Kunstwerk gegenüberzustehen, wie er es von Gemälden und Skulpturen her gewohnt ist, sondern aufeinanderfolgenden, sich widersprechenden oder sich ergänzenden Konzeptionen und Formensprachen.

Matthias Untermann: Handbuch der mittelalterlichen Architektur, Konrad Theiss Verlag bzw. WBG, Stuttgart 2009, 400 S., s/w, ISBN 978-3-8062-2158-9. Akzeptieren Sie alle Cookies, um direkt zur Buch-Seite zu kommen (wir erhalten eine Kommission): Amazon.de.

Rezension / Buchkritik vom 5. Oktober 2011 von Heinrich Speich. Hinzugefügt zu unseren Seiten im neuen WordPress-Format am 11. Januar 2024 um 22:48 deutscher Zeit.