Handbuch zur Geschichte der Kunst in Ostmitteleuropa. 1570−1670. Von der Renaissance zum Barock

Juli 04, 2025 at 13:32 706

Der von Marius Winzeler und Agnieszka Gąsior herausgegebene Band 5 in der Reihe Handbuch zur Geschichte der Kunst in Ostmitteleuropa befasst sich mit den Jahren 1570−1670. Von der Renaissance zum Barock.

In ihrer Einführung schreiben Marius Winzeler, Agnieszka Gąsior und Wilfried Franzen, dass den Einband des Buches nicht zufällig das heute im Museo del Prado aufbewahrte und dem aus Breslau stammenden Maler Bartholomäus Strobel d. J. zugeschriebene Gemälde Festmahl des Herodes ziere.

Das Werk sei als »europäische Allegorie« oder auch »Theatrum Europaeum des Dreissigjährigen Krieges« in die Forschungsgeschichte eingegangen. Das vermutlich um 1640 geschaffene grossformatige – 9,52 × 2,70 m – Gemälde versammle in einer opulenten Inszenierung zahlreiche Persönlichkeiten der europäischen Politik aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Im Jahr 1746 zierte es den Salon im königlichen Palast von La Granja de San Ildefonso, in welchem die Majestäten speisten. Wie es in die Sammlung der spanischen Königin Elisabetta Farnese gelangte, sei ebenso unbekannt wie seine Entstehungsumstände oder sein ursprünglicher Bestimmungsort.

Dennoch repräsentiere das Werk Festmahl des Herodes wie kaum ein zweites die in diesem Band behandelte Epoche von 1570 bis 1670. Sowohl der – immer noch nicht gänzlich entschlüsselte – Gegenstand des Gemäldes als auch die Biografie seines Schöpfers stünden paradigmatisch für die verschlungenen Wege der Kriegspolitik, die wechselnden Geschicke ganzer Landstriche und individuellen Schicksale im damaligen Europa.

Marius Winzeler und Agnieszka Gąsior, Hrsg.: Handbuch zur Geschichte der Kunst in Ostmitteleuropa, Band 5. 1570−1670. Von der Renaissance zum Barock. Deutscher Kunstverlag (ein Verlag der Walter de Gruyter GmbH), 2025, 656 Seiten mit 650 Abbildungen., 21 x 27,5 cm. ISBN 978-3-422-06962-6. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und den Band bestellen bei Amazon.de.

Der Einführung ist ebenfalls zu entnehmen, dass sich in den Jahren 1570–1670 die polnisch- litauische Rzeczpospolita, die Länder der böhmischen Krone sowie das dreigeteilte, zum Teil osmanisch besetzte Ungarn zwischenzeitlich über eine Fläche nie dagewesenen Ausmasses erstreckten: rund eine Million Quadratkilometer (ich: vergleichbar dem heutigen Iran). Diese heterogene Geschichtsregion Ostmitteleuropa umfasste damit das heutige Tschechien, Polen, Litauen, Lettland, den Süden Estlands, Belarus, die westlichen Regionen Russlands, weite Teile der Ukraine, Moldawien, Ungarn, die Slowakei, Rumänien, Teile Serbiens, Kroatien, Slowenien, das Burgenland in Österreich und (bis 1635) die Lausitzen.

Im hier vorgestellten Zeitraum von 1570 bis 1670 wurde Ostmitteleuropa durch Kriege geprägt. Der Dreissigjährige Krieg (1618–1648), der in der Region vor allem die böhmischen Länder in Mitleidenschaft zog, war dabei nur eine von vielen militärischen Auseinandersetzungen. Die polnisch-litauische Rzeczpospolita wurde über den gesamtem Zeitraum von einer Reihe von kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem russischen Zarentum und der schwedischen Krone erschüttert, die unter dem Sammelbegriff Nordische Kriege zusammengefasst werden und in der sogenannten »Schwedischen Sintflut« 1655–1660 gipfelten. Im Süden Ostmitteleuropas wiederum bestimmten Spannungen mit dem Osmanischen Reich das politische und kulturelle Geschehen, die sich militärisch u. a. im Langen Türkenkrieg von 1593–1606, dem Osmanisch-Polnischen Krieg 1620/21 und dem Vierten Österreichischen Türkenkrieg 1663/64 niederschlugen.

Marius Winzeler, Agnieszka Gąsior und Wilfried Franzen unterstreichen, dass die Kunstproduktion in diesem Jahrhundert der Kriege dennoch kaum nachliess, der 1917 von Wilhelm von Bode zitierten Redewendung »Unter Waffen schweigen die Musen« (Inter arma silent musae) widersprechend.

Diese Abwandlung des auf Cicero zurückgehenden Aphorismus »Denn unter Waffen schweigen die Gesetze« (Inter arma enim silent leges) finde ab dem frühen 17. Jahrhundert in humanistischen Kreisen und vor allem im Kontext des Dreissigjährigen Krieges Verbreitung, in der Regel auf die Unterbrechung des Studiums in Kriegszeiten gemünzt. Die Autoren betonen in ihrer Einführung, dass die Auswirkungen der Kriege auf die Künste indes weitaus komplexer gewesen seien.

Gewalt, Hunger und Seuchen führten zu hoher Mortalität, Verwüstung und Entvölkerung ganzer Regionen. Dies betraf auch Künstler und Handwerker. Plünderung und Zerstörungen bewirkten einen immensen Verlust künstlerischer Schöpfungen – die Autoren führen den Prager Kunstraub von 1648 und die oben genannte »Schwedische Sintflut« als die prominentesten Beispiele an. Doch gleichzeitig regte dieser Verlust dort, wo die entsprechenden finanziellen Ressourcen vorhanden waren, Neuproduktionen an – sei es, um das Verlorene zu ersetzen, oder sei es, der Selbstbehauptung der Kriegsakteure Ausdruck zu verleihen.

In der Einführung wird unterstrichen, dass das Kriegsgeschehen nicht zuletzt zu einer gewaltigen Umschichtung von Vermögen, zu Verschiebungen und zum Austausch von Eliten führte, was eine verstärkte Bautätigkeit und intensive Kunstproduktion mit sich gebracht habe, um das aus der jeweiligen Neupositionierung erwachsene Repräsentations- und Legitimationsbedürfnis zu befriedigen.

Die Autoren betonen, dass die kriegerischen Ereignisse Aufsteigerfamilien wie die Esterházy, Liechtenstein, Lubomirski, Radziwiłł, Schwarzenberg, Sobieski und andere begünstigte. Kriegsgewinnler wie der kaiserliche Generalissimus Albrecht von Waldstein betrieben in allen Regionen Ostmitteleuropas zwischen 1570 und 1670 phasenweise eine hochrangige Bautätigkeit und ein ambitioniertes Kunstmäzenatentum, vielfach von internationalem Rang und mitunter mit weiter Wirkung und Ausstrahlung. Bildende Kunst und Architektur erfüllten in diesen Zeiten oftmals ausdrücklich propagandistische Zwecke im Bezug auf das politische Kriegsgeschehen und die Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen.

Der aufkommende internationale Kunstmarkt (siehe dazu auch Rublak: Dürer) und alle möglichen Formen des Kunsttransfers brachten zum Ausdruck, welche Bedeutung Kunst als Machtmittel und Kommunikationsinstrument in komplizierten Zeiten hatte. Eine Reihe führender Künstler agierte in diplomatischer Mission zwischen den politischen Mächten und übernahm sogar Spionagedienste. Neben dem weltberühmten Peter Paul Rubens verweisen die Autoren auf den am Prager Hof tätigen flämischen Miniaturmaler und Kupferstecher Jacob Hoefnagel, den in Prag verstorbenen Manieristen Hans von Aachen und den böhmischen Zeichner und Kupferstecher Wenzel Hollar.

Laut der Einführung wurde in Ostmitteleuropa die Kultur- und Kunstgeschichte zwischen 1570 und 1670 durch die dezentrale historische Topografie und die vorherrschende soziale, ethnische und konfessionelle Vielfalt bestimmt, deren Grundlagen territorialpolitische Kleinteiligkeit, vor allem aber die ständische Verfasstheit bildeten.

Für die Kunstgeschichte des Jahrhunderts von 1570 bis 1670 war die Migration von Künstlern innerhalb Ostmitteleuropas sowie aus dem Westen und Süden des Kontinents in die Region ein wichtiger Faktor. Dazu gehörten Maler und Bildhauer, die aus den Niederlanden nach Danzig zogen, sowie Künstler und Handwerker aus Rom oder Norditalien, die für den Adel tätig wurden.

Wandernde Künstler und Spezialisten für bestimmte Techniken und Formen wie Stuckateureund Freskanten aus Italien prägten nicht nur das Erscheinungsbild der zahlreichen neuen Kirchen- und Schlossbauten im gesamten Untersuchungsgebiet. Auch die bürgerliche Kunst in den grossen und kleinen Städten profitierte davon, ebenso die für weite Bereiche Ostmitteleuropas charakteristischen jüdischen Siedlungen, deren Synagogen von meist christlichen Wanderbauleuten errichtet und von weitherum gereichten jüdischen Malern ausgestattet wurden. Im Bau- und Kulturbetriebherrschte hinsichtlich Bekenntnis und Herkunftsgesellschaft meist eine pragmatische Großzügigkeit vor. Protestantische Danziger Künstler waren auch für den katholischen polnischen Hof tätig, katholische Maler im protestantischen Kirchenbau.

Laut der Einführung profitierten gegen Ende des untersuchten Zeitraums alle ostmitteleuropäischen Länder ökonomisch und kulturell von der politischen Stabilisierung und hatten in erheblichem Umfang Anteil an den um 1670 einsetzenden Veränderungen in den Bereichen der Naturwissenschaften, Medizin, Mathematik und Rechtswissenschaft. Administrative Neuerungen wie die Einführung neuer Ordnungssysteme und akademische Innovationen, wozu der Beginn einer Geschichte der Wissenschaften (historia litteraria) oder die zunehmende Spezialisierung von Sammlungen gehörte, welche die Idee der Kunstkammer ablösen sollte, bestimmten überregional den enormen Aufschwung, der gegen 1700 und in den folgenden Jahrzehnten in der triumphalen Architektur und den Bildkünsten des Hochbarock im ostmitteleuropäischen Raum einen Höhepunkt erfahren sollte.

Kaiser Rudolf II. (1552-1612), der für seinen Prager Hof die besten Künstler Europas gewinnen wollte, und nicht zuletzt die geistlichen Orden, die im Zuge der Gegenreformation eine neue Formensprache nach Ostmitteleuropa brachten, trugen bei zu einem facettenreichen künstlerischen Schaffen am langen Übergang von der Spätrenaissance zum Barock.

In diesem Handbuch der Kunstgeschichte Ostmitteleuropas findet sich ein Beitrag von Eliška Fučíková zum Thema Der Kaiser als Sammler und Mäzen. Die Kunst am Hof Rudolfs II. Piotr Gryglewski befasst sich mit der Herrschaftsrepräsentation der polnischen Wasa-Könige. Petr Fiedler untersucht die Architektur in den Ländern der österreichischen Habsburger. Aleksandra Lipińska analysiert sakrale Kunst im Widerstreit der Konfessionen. Marina Dimitrieva befasst sich mit der Kunst des Ephemeren, mit Festen und Theater.

Dies und noch viel mehr gibt es zu entdecken im reich illustrierten, von Marius Winzeler und Agnieszka Gąsior herausgebeben Band: Handbuch zur Geschichte der Kunst in Ostmitteleuropa, Band 5. 1570−1670. Von der Renaissance zum Barock. Deutscher Kunstverlag (ein Verlag der Walter de Gruyter GmbH), 2025, 656 Seiten mit 650 Abbildungen., 21 x 27,5 cm. ISBN 978-3-422-06962-6. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und den Band bestellen bei Amazon.de.

Zitate und Teilzitate in dieser Rezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Buchkritik vom 4. Juli 2025. Um 13:32 deutscher Zeit hinzugefügt. 8. Juli 2025: Abmessungen des Buches geändert auf 21 x 27,5 cm.