Der 1943 geborene englische Historiker Ian Kershaw studierte in Liverpool und Oxford. Von 1968 bis 1989 lehrte er an den Universitäten von Manchester und Nottingham. Seit 1989 ist er Professor für Neuere Geschichte und Direktor des Historischen Instituts der Universität Sheffield. Seine monumentale Hitler-Biographie in zwei Bänden mit insgesamt rund 2300 Seiten steht unter dem Leitthema „dem Führer entgegen arbeiten“. Kershaw hat das Zitat bereits in einem früheren Werk verwandt. Es stammt übrigens nicht aus eigenen Recherchen, sondern er hat es einer englischen Studie von Jeremy Noakes entnommen. Das Zitat wurde einer Rede von Werner Willikens, dem damaligen Staatssekretär im preussischen Landwirtschaftsministerium, entnommen, die er am 21. Februar 1934 in Berlin gehalten hatte. Es gibt kein von Hitler gezeichnetes Dokument, in dem er die Ermordung der Juden anordnet, doch gleichzeitig ist klar, dass er es so wollte. Den Inhalt seiner Reden, nicht nur was den Holocaust angeht, setzten Funktionäre und Mitläufer oft in vorauseilendem Gehorsam um. Es bedurfte oftmals keiner klaren Befehle, da viele Deutsche dem Führer in vorauseilendem Gehorsam entgegen arbeiteten.
Ian Kershaw: Hitler 1889-1936 Hubris. W.W. Norton & Company, April 2000, 912 pages. Newer edition: Penguin Books, paperback, October 2001, 880 pages. Order the English book from Amazon.com, Amazon.co.uk, Amazon.fr, Amazon.de. German edition, DVA, 1998, 972 Seiten. Order the German edition from Amazon.de. Commandez le premier tome de l’édition française chez Amazon.fr.
Ian Kershaw: Hitler 1916 to 1945 Nemesis. W.W. Norton, hardcover 2000, 832 pages. Order the English version from Amazon.com. English paperback edition, Penguin, 2001, 1115 pages. Order the biography from Amazon.co.uk. Edition française du deuxième tome: Amazon.fr. Deutsche Ausgabe: Amazon.de.
Seit über einem Jahrzehnt beschäftigt sich Kershaw, eigentlich ein Mediävist, mit Nazideutschland. In dieser Zeit hat er eine Reihe von Büchern und Studien zu diesem Thema veröffentlicht. Die vorliegende zweibändige Hitler-Biographie fasst seine Erkenntnisse weitgehend zusammen und ist von früheren Arbeiten über Hitler beeinflusst. Kershaws Stärke und gleichzeitig sein Schwachpunkt liegt darin, dass er Hitler in seinem historischen Kontext zeigt. Kershaw klebt nicht so stark wie Joachim Fest in seiner herausragenden Biographie aus dem Jahr 1973 an Hitler, doch gleichzeitig wird die Figur des Diktators dadurch blass. Das ist natürlich zum einen dadurch bedingt, dass Kershaw Hitler als einen ausserhalb der Politik unbedeutenden, blassen Mann sieht. Zum andern verschwindet Hitler zeitweise in der Fülle an Informationen, die Kershaw präsentiert. Sein Werk ist teilweise eher eine Geschichte des Nationalsozialismus, als eine Biographie Hitlers. Zum Glück ist Kershaw kein Anhänger der Psychobiographie. Er erspart uns zwar die psychologischen und psychosexuellen Deutungen Hitlers nicht ganz, doch nur, um ihre Unzulänglichkeiten aufzuzeigen.
Der Historiker Kershaw wurde durch die Sozialgeschichte auf Hitler aufmerksam. Sein Ansatz ist also ein völlig anderer wie der von Burleigh. Die Sozialgeschichte nimmt den auch einen breiten Raum in Kershaws Darstellung ein. So räumt der Brite im ersten Teil von Hitler der nationalsozialistischen Bewegung viel Platz ein. Das Individuum Hitler sowie die anderen Führungsfiguren des Dritten Reiches stehen nicht im Zentrum seiner Analyse. Kershaw ist weniger an Hitlers Persönlichkeit, den Erfahrungen, die seine Ideologie formten sowie an der Ideologie selber interessiert, als vielmehr an der Erklärung, wie es möglich war, dass Hitler seine Macht zu einer absoluten ausbauen konnte, sodass selbst Generäle, geschulte Funktionäre und intelligente Geister dem ehemaligen Korporal folgten, ohne dessen Befehle und Anordnungen je in Frage zu stellen. Kershaw fragt sich, wie es zu dieser unkritischen Gehorsamkeit gegenüber einem Autodidakten kommen konnte, dessen einziges und unbestreitbares Talent gemäss Kershaw darin bestand, die Gefühle der Massen in Aufruhr zu bringen.
Natürlich war in der Nachkriegsära, insbesondere in Deutschland, die Versuchung bei Historikern, Politikern und einfachen Bürgern zu gross, Hitler als die omnipotente Person darzustellen, die er so nie war. Der Mythos vom Verführer eines unschuldigen Volkes verfing bei einigen. Kershaw widerlegt diese Fantasien überzeugend. Gleichzeitig verfällt er nicht der gegenteiligen Vereinfachung eines Goldenhagen, der in den Deutschen nur noch willfährige Ausführende von Hitlers Willen sieht. Kershaw vereinfacht nicht die Geschichte. Er unterschlägt nicht, das Göring 1939 keinen Krieg wollte. Der Brite kann sich den Holocaust auch nicht ohne Hitler vorstellen. Für Kershaw war Hitlers Ende im Abgrund nur logisch. Der Kunstmaler kam fast durch Zufall zur Politik. Im Nachkriegschaos entdeckte er sein rhetorisches Talent, das es ihm erlaubte, die Massen zu begeistern. Hitler wollte die auf Versailles beruhende Friedensordnung umstossen und für die Deutschland bereitete Schmach Revanche nehmen. Die Juden waren in seinen Augen dafür verantwortlich. Doch erst in der Mitte von 1920 verband Hitler Antisemitismus und Antibolschewismus. Später wurden ein neuer Krieg und die Ausrottung der Juden zu seinen Obsessionen. Ab 1933 wurde der Antisemitismus in Deutschland wichtig. Weite Teile der Gesellschaft waren davon infiziert, eine wichtige Minderheit nahm aktiv daran teil, wobei viele Menschen dem Antisemitismus gegenüber indifferent blieben. Insgesamt waren gemäss Kershaw mehr Deutsche in die Verbrechen des Regimes verstrickt, als viele lange wahrhaben wollten. Doch daraus schliesst er nicht auf eine Kollektivschuld. Als General Ludwig Beck 1938 zurücktrat, war er isoliert. Gemäss Kershaw war dies der letzte Moment gewesen, an dem die Deutschen noch erfolgreich Widerstand gegen Hitler hätten leisten können. Lediglich die militärischen Führer wären dazu in der Lage gewesen. 1941 war die Radikalisierung bereits zu weit fortgeschritten. Terror, Mord und Tatschlag waren gemäss Kershaw nicht mehr aufzuhalten. Entgegen dem Eindruck dieser Zeilen ist Kershaws Biographie kein Werk vereinfachender Erklärungen, im Gegenteil, der Autor fällt nuancierte Urteile, auch wenn er kein Meister der Formulierung ist.
Kershaws Hitler steht auf dem neuesten Stand der Forschung. Er hat auch neu veröffentlichte Quellen in sein Werk eingebaut, die früheren Historikern nicht zur Verfügung standen; dazu gehören die Tagebücher von Joseph Goebbels (1924-1945). Dank der monumentalen Grösse seines Werkes präsentiert Kershaw das bisher umfassendste Porträt von Hitler und seiner Zeit. Der Diktator selbst und einige seiner spezifischen Entscheidungen bleiben allerdings etwas zu blass. Kershaw vernachlässigt zudem die Dimension der „politischen Religion“ (die Burleigh ins Zentrum stellt), welche die Nazi-Ideologie einnahm und den Hitler-Mythos mit ausmachte. Nach Allan Bullocks (oft zu falschen Schlüssen neigenden) Biographie, nach der Studie von Eberhard Jäckel (1969), der umfassenden Analyse von Joachim Fest (1973) und dem nützlichen Band von Sebastian Haffner (1978) bildet Ian Kershaws Hitler einen weiteren Meilenstein in der wohl unendlichen Geschichte der Versuche, Hitler und sein Regime zu verstehen.
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Gesamtausgabe von Ian Kershaw: Hitler. Taschenbücher, dtv, 2002, 2424 Seiten. Die zwei Bücher plus Registerband. Bestellen bei Amazon.de.
Buchkritik vom 1. Dezember 2000. Rezension zu unseren neuen WordPress-Seiten hinzugefügt am 2. Mai 2021.