Am 19. September 2021 fand unter dem Titel „Brücken bauen mit Musik“ ein zweigeteiltes, interdisziplinäres kulturelles Event im Museum Kleines Klingental sowie danach im Medical Image Analysis Center (MIAC) in Basel statt, das die Möglichkeiten von Inspiration und Synergien zwischen Musik, bildender Kunst und Neurowissenschaften auslotete. Kein Journalist der Basler Presse schaffte es an den herausragenden Anlass, obwohl die Stadt wegen der Pandemie noch immer nur wenige kulturelle Live-Anlässe bietet.
Die Zahl der Besucher war auf Grund der Covid19-Lage auf rund 80 Personen begrenzt, die in den Genuss musikalischer Höhepunkte kamen. Im ersten Teil glänzten Michaela Paetsch (Violine), Dimitri Ashkenazy (Klarinette), Iseut Chuat (Cello) und Krisztina Wajsza (Klavier) in abwechselnden Duos, bereichert von Erklärungen der Neurowissenschaftler PD Dr. med. Athina Papadopoulou und PD Dr. med. Marcus D’Souza zur Vernetzung der Sinne, insbesondere Sehen und Hören.
Johannes Brahms Musiknoten von Johannes Brahms
Das Konzert begann mit dem Ungarischen Tanz Nr. 2 in d-Moll von Johannes Brahms (1833-97), in einer Bearbeitung von Michaela Paetsch für Violine und Klavier, wobei die Geigerin vom ersten Ton an das Publikum mit ihrer Begeisterung und Energie mitriss. Sie wandelte dabei auf den Spuren des Geigers Eduard Reményi, der durch seine glutvolle Wiedergabe von Friskas und Csárdás Johannes Brahms einst zur Komposition seiner Ungarischen Tänze inspiriert hatte.
Michaela Paetsch und Krisztina Wajsza sorgten mit ihrem fulminanten, herzhaften Auftakt gleich zu Beginn mit dem Allegro non assai – Vivace für einen in der Tat bewegten Höhepunkt. Nebenbei bemerkt: Der Raum hat eine ideale, relativ intime Grösse für zwei bis vier Musiker und eine beschränkte Anzahl Zuhörer.
Der darauffolgende Ungarische Tanz Nr. 4 in f-Moll von Johannes Brahms begann getragen (Poco sostenuto), mit einem Lamento mit Feuer, wobei das Klavierspiel von Krisztina Wajsza hier besser zur Geltung kam. Michaela Paetsch spielte berührend, tänzelnd im Vivace, mitreissend und zum Schluss wie vom Komponisten gewollt Molto Allegro. Bravo!
Krisztina Wajsza (Klavier) und Dimitri Ashkenazy (Klarinette) spielen im Museum Kleines Klingental die Rhapsodie Nr. 1 für Klarinette und Klavier von István Hajdu (*1967), die der Komponist 2001 für Dimitri Ashkenazy und Robert Kolinsky geschrieben hat. Die zwei Musiker bestritten 2001 im Rahmen der Martinu-Festage die Uraufführung des Werkes.
István Hajdu
In neuer Besetzung ging es weiter. Krisztina Wajsza am Klavier spielte nun zusammen mit Dimitri Ashkenazy an der Klarinette die Rhapsodie Nr. 1 für Klarinette und Klavier von István Hajdu (*1967). Der Komponist war beim Konzert im Museum Kleines Klingental anwesend.
Die Rhapsodie Nr. 1 besteht aus zwei kontrastierenden Sätzen. Das Piano startet alleine: lakonisch, fliessend, sphärisch, zauberhaft. Die Klarinette gesellt sich bald hinzu in diesem Lassù (Langsam) überschriebenen ersten Satz, der von der traditionellen ungarischen Anwerbungsmusik für Soldaten inspiriert wurde. Nach einem ruhigen Beginn folgt eine emotionale Entwicklung mit Dramatik, Aufschrei. Die Klarinette spielt immer aufgewühlter, ehe die Entwicklung nach einem Kulminationspunkt schwermütig in sich zusammenfällt.
Der zweite Satz, Friss (Frisch-Schnell), beginnt schwungvoll, unterhaltsam, tänzerisch, mit burlesken Zügen, wobei Krisztina Wajszas Klavierspiel lebhafter wird, die Hirtenflöte nachahmend. Friss enthältend auch wehmütige, an die ungarische Heimat erinnernde Passagen. Piano und Klarinette treten abwechselnd in den Vordergrund, tänzelnd, eine warme Atmosphäre verbreitend, ehe der Satz nach einer kurzen, frenetischen Coda abrupt endet.
Neurowissenschaftler erläutern wie Musik Kunst und Wissenschaft verbindet
Die Neurowissenschaftlerin PD Dr. med. Athina Papadopoulou erläuterte das Thema „Brücken bauen mit Musik“. Musik verbindet Kunst und Wissenschaft. Es geht um das Vernetzen. Das Gehirn ist ein Meister der Vernetzung. Dort findet viel Kommunikation statt. PD Dr. Med. Marcus D’Souza erklärte, dass Nervenzellen die Grundlage dieses Netzwerkes bilden. Das Gehirn hat in etwa 100 Milliarden Nervenzellen, die untereinander in Verbindung stehen. Eine Nervenzelle ist im Durchschnitt mit rund 15,000 anderen vernetzt. Kunst kann man sehen, hören, riechen, fühlen und schmecken. Wobei für die Musik sehen und hören im Vordergrund stehen. PD Dr. med. Athina Papadopoulou erklärte, dass 60% der Grosshirnrinde an der Wahrnehmung und Interpretation von Bildern beteiligt ist. Wenn wir Kunst schön finden, dann werden ganz bestimmte Gehirnareale aktiviert.
Krisztina Wajsza (Klavier) und Iseut Chuat (Cello) spielen das Adagio für Cello und Klavier von Zoltán Kodály (1882-1967). Photo Copyright © Franz Bannwart. CDs mit Iseut Chuat
Zoltán Kodály
Die französische Cellistin Iseut Chuat und die Pianistin Krisztina Wajsza sorgten mit Zoltán Kodálys (1882-1967) Adagio für Cello und Klavier, 1905 für Geige und Klavier komponiert, 1910 für Cello und Piano bearbeitet, für einen weiteren Höhepunkt. Krisztina Wajsza widmete diese Komposition ihren Eltern, die vor 43 bzw. 41 Jahren mit ihrer Tochter aus dem kommunistischen Rumänien flohen. Das Werk beginnt mit einem elegischen Adagio, das Piano scheint ätherisch zwischen den Zeiten zu schweben, das Cello gründet tief. Im Tempo 1 folgt ein arpeggierte Stelle, mit einem fliessend, perlenden Klavier, über dem Iseut Chuat ein intensives, emotionales Spiel entfaltet. Das kurze Largo führt erneut ins Tempo 1 mit neuen Piano-Arpeggi, wobei das Cello in einer wunderbaren Cantilene aufblüht. Das emotionale Adagio klingt ruhig aus, schliesst im Frieden mit der Welt in einem C-Dur-Dreiklang. Grossartig!
Hören ist komplexer als sehen
Im zweiten Teil ihrer Erläuterungen erklärten die Neurowissenschaftler PD Dr. med. Athina Papadopoulou und PD Dr. med. Marcus D’Souza unter anderem, dass das Hören sehr viel komplexer und faszinierender als das Sehen ist. Wir können die Mutter bereits im Mutterleib hören. Wir können fast 400,000 Töne voneinander differenzieren. Schallwellen, Vibrationen erzeugen die Töne erst im Kopf. Daher kann man mit Füssen hören, so in der Diskothek, was in der Musiktherapie genutzt wird. PD Dr. med. Marcus D’Souza erklärte anschliessend, wie über Schallwellen die Töne im Gehirn erzeugt werden. Die primäre Hörrinde ist mit anderen Zentren im Gehirn verbunden, die sich um Syntax, Semantik, Handlung, Emotion und Vorstellung vernetzt. Heute können Wissenschaftler mittels MRT sehen, welche Gehirnteile bei bestimmten Tönen aktiviert oder deaktiviert werden. Beethoven konnte sich Musik vorstellen und komponieren, obwohl er nicht mehr hören konnte, weil das Gehirn grosse Plastizität besitzt. Um ein musikalisches Hirn zu bekommen, um z.B. ein grosser Komponist zu werden, muss man im Alter zwischen drei und maximal sechs Jahren beginnen. Wenn man Musik mag, werden andere Areale des Hirns aktiviert, als wenn man Musik nicht mag. Die zwei Neurologen konnten für Laien anschaulich machen, sehen und hören dazu beitragen, im Gehirn Brücken zu bauen.
Michaela Paetsch (Violine) und Krisztina Wajsza (Piano). Photo Copyright © Franz Bannwart.
Ofer Ben-Amots
Der in Haifa geborene Komponist Ofer Ben-Amots (*1955) schrieb 2017 Montage Music für ein Quartett: Klarinette, Violine, Cello und Klavier. Dimitri Ashkenazy (Klarinette), Michaela Paetsch (Violine), Iseut Chuat (Cello) und Krisztina Wajsza brachten es am 19. September 2021 im Museum Kleines Klingental zur Uraufführung.
Ofer Ben-Amots komponierte Montage Music zur Persönlichkeit und zu Bildern der Künstlerin Bebe Krimmer (1930-2014) aus Santa Fé, deren visuelle Kunstwerke während des Konzerts auf einer grossen Leinwand eingeblendet wurden. Der getragene, meditative erste Satz Departure — Prologue wurde auf die englischen Noten B-E-B-E komponiert. Er beginnt mit einem Piano solo, rasch ergänzt durch die Klarinette, die Streicher setzten etwas später ein. Man sieht die Bilder durch die Musik anders an, und hört die Musik durch die Bilder anders, wodurch fast eine Art neue Kunstform entsteht.
Der zweite Satz, Velocity of Rotation, beruht auf einem Gemälde, das den Komponisten Ofer Ben-Amots an eine fantastische bunte Milchstrasse erinnert, die sich durch die tiefe und endlos schwarze Dunkelheit des Kosmos bewegt. Die Musik nimmt fast die Form eines Rondos an. In rascher Folge begegnen uns exotische Klanglandschaften. Kosmische Begegnungen unterbrechen das Stück, manchmal bedrückend, dramatisch. Jüdische Elemente fliessen in seine Komposition ein.
Der dritte Satz, Bebe’s Blues, war jazzig, denn Bebe Krimmer liebte den Dixieland. Er war inspiriert von zwei Mixed-Media-Bildern aus Bebes mittlerer Periode, die geprägt war von der Enkaustik-Technik, der Verwendung von Wachs.
Zuerst nehmen wir an einem Trauermarsch in New Orleans teil. Allmählich wechselt die Musik in einen schnelleren Blues-Modus und endet mit einem fröhlichen Second-Line-Dance. Normalerweise können klassische Musiker nicht viel mit Jazz anfangen bzw. ihn nicht richtig rüberbringen. Doch die Musiker, insbesondere Iseut Chuat (Cello) und Michaela Paetsch (Violine), glänzten hier; Michaela spielt übrigens regelmässig Jazz.
Im vierten Satz, Return – Epilogue, schliesst sich der Kreis. Wir kehren wir zurück zum Eröffnungskryptogramm B-E-B-E. Eine komplexe Komposition fand ihren Abschluss.
Die Neurowissenschaftlerin PD Dr. med. Athina Papadopoulou erklärt die Vernetzungen in unserem Gehirn. Foto Copyright © Franz Bannwart.
Der zweite Teil im MIAC
Im zweiten Teil des Abends – nach einem kurzen Spaziergang über die Mittlere Brücke ins MIAC am anderen Rheinufer – kamen die Konzertbesucher in den Genuss eines Aperos mit erlesenen Appetithäppchen und Weinen aus Georgien, darunter ein Tchotiashvili Rcheuli Qvevri Saperavi 2016 Rotwein sowie ein Orgo Rkatsiteli 2018 Dry Amber. Danach bzw. dazwischen gab es einen Rundgang durch eine Ausstellung mit Gemälden, Skulpturen und anderen Kunstwerken der in Tbilisi (Georgien) geborenen Nina Gamsachurdia und des Schweizers Sandro Del-Prete, bekannt durch das Illusoria-Land in Hettiswil bei Hindelbank, begleitet von der Uraufführung der Auftragskomposition 2021 von Demetre Gamsachurdia Haërovani, einer Installation für acht Lautsprecher, Klarinette (Dimitri Askhenazy), Violine (Michaela Paetsch) und Cello (Iseut Chuat), wobei die Künstler eine Etage höher über den Besuchern auf Brücken musizierten.
Haërovani bedeutet auf georgisch „luftig“ oder „luftähnlich“. Die Komposition bewegt sich vorwiegend in sphärischen, illusorischen, repetitiven Klangräumen voller Luft, Atem und Windgeräuschen. Neben Live-Musik gab es zuvor aufgenommene, neu von Demetre Gamsachurdia abgemischte Stimmen der Wissenschaftler und Aufnahmen der drei beteiligten Live-Musiker.
Ein grossartiger Abend fand so seinen würdigen Abschluss.
Das Foto (ebenfalls zuoberst als featured image) zeigt die vier Musiker vereint im Quartett von Ofer Ben Amots (*1955) Montage Music bei der europäischen Uraufführung. Wie alle Fotos vom Abend im Museum Kleines Klingental: Photo Copyright © Franz Bannwart. CDs mit Iseut Chuat
PD Dr. Med. Marcus D’Souza mit Erklärungen zu den Nervenzellen. Foto Copyright © Franz Bannwart.
Kunst kommt meistens ohne Sponsoren nicht aus. „Brücken bauen mit Musik“ wurde grosszügig von Irma Sarasin, der Sulger-Stiftung sowie dem Fachausschuss Musik BS/BL unterstützt. Das MIAC und Dr. med. Jens Würfel stellten die Räumlichkeiten des MIAC in Basel für den zweiten Teil des Abends zur Verfügung.
Konzertkritik vom 25. September 2021 um 16:33 Schweizer Zeit.