Die Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz» in Winterthur sandte 2021 bedeutende Werke zur grossen Maillol-Schau ins Musée d’Orsay. Nun revanchiert sich das Pariser Museum für die Grosszügigkeit. Vom 18. Mai bis am 15. September 2024 zeigt die Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz» die kleine, aber feine Sonderausstellung Von Grösse und Grazie – Maillol und Sintenis, zu der einige Exponate aus dem Ausland angereist sind.
38 vermeintlich zeitlose Werke des Franzosen Aristide Maillol (1861 – 1944) werden 22 Arbeiten der angesagtesten Berliner Bildhauerin der 1920er Jahre, Renée Sintenis (1888 – 1965), gegenübergestellt. Hinzu kommt ein Gemälde von Pierre-Auguste Renoir, das Ambroise Vollard, Maillols Kunsthändler, mit einer frühen Kleinplastik von Maillol in der Hand zeigt. Neben gegenseitiger Wertschätzung und verwandter Projekte verband Maillol und Sintenis der gemeinsame Mäzen – Harry Graf Kessler (1868–1937).
Der Katalog zur Ausstellung, herausgegeben von den zwei Kuratorinnen Katja Baumhoff und Kerstin Richter sowie der Sammlung Oskar Reinhart „Am Römerholz“ Winterthur: Von Grösse und Grazie. Maillol und Sintenis. Mit Beiträgen der sieben Spezialisten Angelika Affentranger-Kirchrath, Katja Baumhoff, Ophélie Ferlier-Bouat, Harry Klewitz, Antoinette Le Normand-Romain, Kerstin Richter und Fabian Steiner. Hirmer Verlag, 2024, 144 Seiten mit 100 Abbildungen in Farbe, 21 x 22 cm, Klappenbroschur. Den Katalog zur Ausstellung bestellen (Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission) bei Amazon.de.
Am Winterthurer Katalog arbeiteten auch die zwei Kuratorinnen der Pariser Maillol-Ausstellung, Antoinette Le Normand-Romain und Ophélie Ferlier Bouat, mit. Insbesondere so konnten neue Forschungsresultate zum Thema Maillol erarbeitet werden.
Kat. 4: Die Skulptur La Méditerranée von Aristide Maillol, enstanden um 1905-1907. Kalkstein Pierre de Lens, 114 x 78 x 107.5 cm. Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz», Winterthur. Foto © Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz», Winterthur.
Aristide Maillol widmete sich zuerst der Malerei, der Tapisserie und dem Kunsthandwerk, ehe er sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts entschlossen der Bildhauerei zuwandte. Ophélie Ferlier Bouat erläutert in ihrem Katalog-Essay, dass sich der Künstler zuerst im Schnitzen von Reliefs, dann von Holzstatuetten (Kat. 19 und 20) versuchte. Rasch nahm er das Modellieren grosser Formate auf und entwarf dekorative Skulpturen für Aussenräume. So gestaltete er eine leider zerstörte Gruppe «ringender Frauen» und entwarf eine Reihe von Statuen für ein nicht realisiertes, 1902-1904 geplantes Emile-Zola-Denkmal. Das Thema der sitzenden Frau beschäftigte ihn schon seit Langem (Abb. 1), insbesondere das Motiv der Badenden. So führte sein emblematisches Werk Femme à la vague (um 1895, Öl auf Leinwand, Privatsammlung) zu einem Höhepunkt in seinem Schaffen mit dem grossformatigen Relief Femme au bain, das formale Verbindungen zur späteren Méditerranée aufweist (Abb. 2).
Laut der Maillol-Biographin Judith Cladel begann der Künstler um 1903–1904 mit der Gestaltung einer überlebensgrossen Figur, einer drapierten, sitzenden Frau, mit unter dem Körper angewinkeltem Bein underhobenem Kopf, die er La Nymphe nannte. Seine Frau Clotilde stand für diese Skulptur Modell. Für den Sammler Karl Ernst Osthaus fertigte er eine später leider zerstörte Version aus Stein für dessen Park in Hagen (Sérénité, Abb. 3). Mit aufgerichtetem Oberkörper wendet sich Sérénité ihrem angewinkelten Knie zu, während ihr rechter Arm eine Draperie anhebt. Gleichzeitig arbeitete Aristide Maillol an einem sitzenden, lebensgrossen, weiblichen Akt, der stärker in sich geschlossen war.
Judith Cladel zufolge brachte Maillol bereits im «Frühjahr 1900 einen ersten Entwurf dieser Figur nach Paris, die er schlicht Femme accroupie nannte. Sein Modell Dina Vierny war 1937 beim Gespräch zwischen Maillol und Cladel anwesend und machte sich Notizen. Demnach sagte Maillol: «Ich habe in den Jahren 1899–1900 angefangen, La Méditerranée als Skulptur anzufertigen. Die erste grosse Version erfolgte 1900. Ich habe zwei weitere Versionen gemacht, die zerbrachen, aber ein grosser Torso mit fragmentarischem Kopf […] gefiel mir. Ich habe ihn im Atelier aufbewahrt […] Dieser grosse Torso mit Kopf, der mir 1902 gelang, half mir bei der Konstruktion des endgültigen Kopfs. Als Kessler 1904 das Atelier besuchte, sah er natürlich dieses grosse fragmentarische Werk, das er sofort verstand. Ich war dabei, die Position der Beine zu suchen. Es war höllisch. Ich wollte dem Realismus entfliehen.»
Im Römerholz-Katalog schreibt die Kuratorin Kerstin Richter, dass Aristide Maillol fortwährend auf der Suche nach der Balance und Harmonie der Massen bei stetiger Reduktion war, dass er nach der allgemeingültigen Idee hinter der Darstellung des Modells suchte. In Maillol sah sein grösster Förderer, Harry Graf Kessler, einen intuitiv arbeitenden, archaischen Modernen.
Ophélie Ferlier Bouat erwähnt in ihrem Katalog-Beitrag, dass Harry Graf Kessler in seinem Tagebuch seinen ersten Besuch bei Aristide Maillol in Marly am 21. August 1904 sowie die Absicht des Franzosen erwähnt, eine lebensgrosse Statue nach einer kleinen Femme accroupie zu schaffen, sowie seinen Plan, eine Skizze der späteren Méditerranée in eine Skulptur umzusetzen, gibt aber nicht an, den grossen Torso im Atelier gesehen zu haben. Die endgültige Version der Méditerranée entstand daher erst nach diesem ersten Besuch Kesslers. Es folgte ein Mittagessen im Hotel Chatham, bei dem Maillol eine neue Zeichnung skizzierte (Kat. 1). Am Herbstsalon 1905 schliesslich präsentierte der Künstler eine Gipsskulptur einer sitzenden Frau, die nun weniger kompakt ist als bei der erwähnten ersten Zeichnung für Harry Graf Kessler.
Der am Pariser Herbstsalon 1905 erstmals öffentlich gezeigte Gipsakt hiess damals noch einfach Femme. Der heutige Titel La Méditerranée erscheint erst 1923. Kritiker arbeiteten in ihren Beiträgen zur am Herbstsalon 1905 erstmals öffentlich gezeigten ersten grossen Skulptur Maillols dessen Distanz zur Kunst von Auguste Rodin heraus, was Maillol zum Durchbruch verhalf.
Aristide Maillol begann als Autodidakt mit dem Behauen seines ersten Steins, was zur berühmten Méditerranée (Kat. 4) führte. Das Wesentliche war getan, als Harry Graf Kessler im Sommer 1907 mit dem berühmtesten französischen Bildhauer, Auguste Rodin, in Maillols Atelier nach Marly kam (im Katalog findet sich ein Foto von diesem Besuch: Abb. 5). Rodin betrachtete die Skulptur von allen Seite und lobte sie. Gegenüber Harry Graf Kessler erklärte Aristide Maillol bezüglich La Méditerranée: «Ich habe während Jahren darüber nachgedacht und als ich sie machen wollte, fand ich überall Zeichnungen, die ich nur noch zusammentragen musste. Sie drückt meine Konzeption so gut aus, weil ich sie zur Reife gebracht habe. Ich hätte mich mit dieser Frauenfigur zufriedengeben können.»
Im Römerholz sind als Höhepunkt der Ausstellung drei grosse Versionen von La Méditerranée in einem Raum zu bewundern: Die Gipsversion (111 x 116 x 80 cm) aus einer Privatsammlung, Courtesy Fondation Dina Vierny – Musée Maillol, Paris; die 1927 entstandene Version aus Marmor (110,5 x 117,5 x 68,5 cm) aus dem Musée d’Orsay, Paris; sowie die um 1905-1907 entstandene Version aus Kalkstein (Pierre de Lens, 114 x 78 x 107.5 cm), die für Harry Graf Kessler entstand und sich seit 1931 in der Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz» befindet, da sich der Mäzen Kessler nach dem Börsencrash 1929 und der danach folgenden Weltwirtschaftskrise in finanziellen Nöten befand und sich von Kunstwerken trennen musste.
Der französische Staat interessierte sich erst spät für Aristide Maillol. Ein Exemplar von La Méditerranée aus Marmor wurde am 28. August 1923 vom französischen Staat per Erlass in Auftrag gegeben. Als der Bildungs- und Kunstminister Léon Bérard dem Kurator des Musée du Luxembourg Léonce Bénédite eben diesen Auftrag erteilte, um die Präsenz von Maillol im «musée des Artistes vivants» zu verstärken, war der Künstler bereits 61 Jahre alt. Aristide Maillol zog übrigens Stein dem Marmor vor, dem er «eine Art übermässig reichen Glanz vorwarf», wie sein Freund Pierre Camo 1950 in seinem Buch Maillol, mon ami berichtete.
Ophélie Ferlier Bouat notiert in ihrem Römerholz-Katalogeintrag zur Marmor-Version, dass Aristide Maillol dafür die Volumina leicht veränderte: Der Torso wurde geometrischer und das Volumen vereinfacht. Das Werk trage die Zeichen der 1920er-Jahre, in denen es entstanden ist.
Kat. 24: Portrait d’Ambroise Vollard von Pierre-Auguste Renoir, 1908, Öl auf Leinwand, 81,6 x 65,2 cm, The Courtauld Gallery, Samuel Courtauld Trust, London. Photo Copyright © The Courtauld Gallery, Samuel Courtauld Trust, London. Ambroise Vollard war einer der führenden Händler für Moderne Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der einen Grossteil von Renoirs Werk nach 1900 verkaufte. Das Thema lehnt sich an Bilder von Sammlern aus der italienischen Renaissance an. Vollard war ein dicker Mann mit Knollennase und Glatze, der deswegen oft verspottet wurde. Renoir hat ihn hier leicht geschönt dargestellt.
Das Gemälde Portrait d’Ambroise Vollard zeigt den Kunstländler mit einer kleinen Terrakottastatuette von Maillol in den Händen. Bei der Kleinplastik handelt es sich um die Jeune fille accroupie, eine frühe Figur, die sowohl Ambroise Vollard («Edition Vollard») wie auch Maillol selbst («Edition Maillol») verlegt haben. In der Ausstellung im Römerholz ist neben dem Gemälde von Renoir eine Terrakotta-Version der Jeune fille accroupie aus der «Edition Vollard» zu bewundern, die aus der Sammlung Auguste Pellerin stammt.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts brüstete sich Winterthur gerne damit, dass auf jeden 1000. Einwohner ein Werk Renoirs kam. Zugleich besass – und besitzt – die Stadt die höchste Dichte an herausragenden Maillol-Skulpturen ausserhalb Frankreichs.
Mitten im Ersten Weltkrieg besuchte der Kunsthändler Ambroise Vollard im November 1916 im Auftrag der Propagandaabteilung des französischen Aussenministeriums die Stadt und hielt im Kunstmuseum Winterthur anlässlich der Ausstellung moderner französischer Kunst einen Vortrag – über Pierre-Auguste Renoir.
Kat. 46: Die Kleinskulptur Sich kratzendes Fohlen von Renée Sintenis, 1918, Bronze, 6.8 x 8.5 x 4.5 cm, Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz», Winterthur. Foto Copyright © Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz», Winterthur.
Die Bildhauerin, Grafikerin und Medailleurin Renate Alice Sintenis ist hugenottischer Abstammung. Ihr Vater war Jurist. Der Familienname soll sich von Saint-Denis ableiten. Die in Niederschlesien Geborene kam als 17-Jährige nach Berlin, wo ihr Vater als Jurist am Kammergericht eine Anstellung fand. Sie studierte von 1907 bis 1912 an der Unterrichtsanstalt des Berliner Kunstgewerbemuseums, wo Frauen im Gegensatz zur Hochschule für die bildenden Künste zugelassen waren. In jener Zeit änderte sie ihren Vornamen zu Renée.
An der Kunstgewerbeschule lernt Renée Sintenis den 13 Jahre älteren Emil Rudolf Weiss kennen. 1917 heiratet sie den bekannten Maler, Typographen und Illustrator (Abb. 4). Sie bleibt mit ihm bis zu seinem Tod im Jahr 1942 verheiratet. Der Verlust ihres Gefährten und uneigennützigen Förderers, die schweren Jahre des nationalsozialistischen Regimes und des Zweiten Weltkriegs, in denen sie wegen der jüdischen Abstammung einer Grossmutter 1937 als Professorin von der Preussischen Akademie der Künste verwiesen wird, sowie die Zerstörung ihres Berliner Ateliers im Jahr 1945 schlagen sich in ihrer äusseren Erscheinung nieder – wovon vor allem die späten Selbstporträts ein ergreifendes Zeugnis ablegen. Acht ihrer Werke in deutschen Museen werden während der Aktion «Entartete Kunst» 1937 beschlagnahmt. 1941 wird ihr das Bronze-Giessen verboten. Doch sie bleibt der Stadt Berlin treu, von der sie inspiriert wird. Ihre Tiere blieben jung und dynamisch wie am ersten Tag, so der Römerholz-Katalogbeitrag von Angelika Affentranger-Kirchrath.
Renée Sintenis wurde zuerst als Gestalterin kleiner, weiblicher Figuren bekannt. Es sind alles sehr schlanke, hoch aufragende Frauen – wie die Künsterlin selbst – in anmutiger, oft tänzerischer Pose. Sie begann ihre Karriere als Tierbildnerin im Jahr 1915 und blieb der Gattung ihr ganzes Leben lang verpflichtet. Sie hielt sich Hunde und war eine leidenschaftliche Reiterin. Neben Rehen, Böcken, Elefanten und Bären widmete sie sich immer wieder der Darstellung von Hunden und Pferden. Stets sind es Jungtiere, denn diese waren für die Künstlerin Ausdruck des Unverbrauchten, nicht Domestizierten, erklärt Angelika Affentranger-Kirchrath.
Renée Sintenis überragte mit ihren 180 Zentimetern die meisten ihrer Zeitgenossen. Von schlanker Statur, immer modisch gekleidet und mit zeitgemässer Kurzhaarfrisur fiel die «Riesin mit Bubikopf» auf. Im Berlin der 1920er-Jahre avancierte die schöne Garçonne zu einem begehrten Modell von Photographinnen und Photographen wie Frieda Riess, Hugo Erfurth oder Jaro von Tucholka (Abb. 1).
Renée Sintenis kannte den Pionier der Gattung der autonomen Tierplastik, den deutschen, ebenfalls in Berlin lebenden Plastiker August Gaul. Seine Werke sind wie ihre zumeist kleinformatig. Er schuf vor allem Katzen und Vögel, Affen und Bären, die durch ihre pulsierende Lebendigkeit überzeugen.
Angelika Affentranger-Kirchrath betont, dass August Gauls Tierplastiken oft statischer und geschlossener aufgefasst sind als diejenigen von Sintenis. Sie wirken klassischer und ernster als die übermütigen Jungtiere der Künstlerin. Während die Tierfiguren von Sintenis formal unmittelbar an die Plastiken von Gaul anknüpfen, sind sie in der künstlerischen Auffassung wohl niemandem näher als den Tierbildern und Tierskulpturen von Franz Marc. Er sah wie sie im Tier das nicht vom Menschen vereinnahmte Geschöpf, das mit der Natur im Einklang lebt.
Insbesondere die vor 1944 enstandene Kaltnadelradierung auf Velinpapier Zwei Fohlen, (Kat. 50; 42 × 33,3 cm) aus dem Städel Museum in Frankfurt am Main zeigt die Nähe von Renée Sintenis zu Franz Marc.
Laut dem Tagebucheintrag von Harry Graf Kessler vom 15. Juli 1930 lobte der damals bereits international bekannte und anerkannte Maler und Bildhauer Aristide Maillol die Werke von Renée Sintenis, die er im Kronprinzenpalais in Berlin entdeckte, mit den Worten: «Sie ist eine grosse Künstlerin. Alles, was sie schafft, ist jung.» Angelika Affentranger-Kirchrath unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass man in Maillols Werk ebenfalls vergeblich nach einer Figur in fortgeschrittenem Alter sucht. Über ihren gemeinsamen Mäzen Harry Graf Kessler lernt Renée Sintenis 1930 Aristide Maillol kennen.
Der Dichter Rainer Maria Rilke, der eine Zeitlang Auguste Rodins Sekretär und Übersetzer war, erwies sich als enthusiastischer Vermittler der Werke von Renée Sintenis. In Deutschland gehörte Baron Karl von der Heydt bald zu den Sammlern ihrer Werke, in der Schweiz Oskar Reinhart. Der Galerist Alfred Flechtheim wurde auf die junge Künstlerin aufmerksam und verhalf ihr mit Ausstellungen in seiner bedeutenden Galerie zu einem fulminanten Start. Julius Meier-Graefe, der wortgewaltige und einflussreiche Kunstvermittler und Publizist, schwärmte genauso von der Künstlerin wie von ihrer Kunst.
Renée Sintenis arbeitete nicht in der freien Natur. Sie bemerkte dazu: «Ich mag draussen nicht arbeiten, es zerstreut und verwirrt mich. Auf berlinerisch würde ich sagen: Det macht mich ganz besoffen.» Sie schuf ihre Formen frei aus dem Gedächtnis. Sie formte ihre Plastiken buchstäblich von innen her. Das Drahtgestell fungierte gleichsam als Skelett. Im selbstvergessenen Akt des Modellierens wurde sie zu einer Einheit mit ihrem Werk. Diese Nähe merkt man auch noch den in der Giesserei Noack sorgfältig gegossenen Bronzen an, so Angelika Affentranger-Kirchrath.
Egal, ob die Oberfläche glatt und ebenmässig ist wie bei den frühen Werken oder aufgeraut und aufgebrochen wie bei den späteren Arbeiten – immer ist ihre eigene Begegnung mit dem Modell mit gemeint. Bei aller Zuwendung vermied sie jedoch streng jede Vermenschlichung und schloss jeden narrativen Aspekt aus. Angelika Affentranger-Kirchrath betont: Das Tier bleibt Tier – ein vom Menschen unabhängiges Wesen.
Ein Blick in die Ausstellung Von Grösse und Grazie. Maillol und Sintenis. Hier der Raum mit drei Versionen der Méditerranée von Aristide Maillol, umrahmt von Meisterwerken der Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz» wie zum Beispiel Vincent van Goghs Der Krankensaal des Hospitals von Arles (1889, Öl auf Leinwand, 72 x 91 cm) und Der Innenhof des Hospitals von Arles (1889, Öl auf Leinwand, 73 x 92 cm). Foto Copyright © Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz», Winterthur.
Ein Blick in die Ausstellung Von Grösse und Grazie. Maillol und Sintenis. Hier der Raum mit den zwei Skulpturen von Renée Sintenis Grosses grasendes Fohlen (1929, Bronze, 75 × 65 × 26,5 cm) aus Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz» sowie Grosses Vollblutfohlen (1940, Bronze, 115 × 88 × 17 cm), das der Stadt Herten gehört. Umrahmt werden diese zwei Plastiken der Sonderausstellung von Meisterwerken der Sammlung wie zum Beispiel (ganz links) Pablo Picassos Bildnis Mateu Fernández de Soto (1901, Öl auf Leinwand, 61,3 x 46,5 cm) aus seiner Blauen Periode. Foto Copyright © Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz», Winterthur.
Ein Besuch der Sammlung Oskar Reinhart „Am Römerholz“ in Winterthur lohnt sich immer, da hier 207 Meisterwerke der Kunstgeschichte ausgestellt werden. In der Sonderausstellung Von Grösse und Grazie. Maillol und Sintenis – die letzte, bevor das Museum für eine Renovierung einige Zeit schliessen wird – werden die Werke von Aristide Maillol und Renée Sintenis umrahmt von weiteren künstlerischen Höhepunkten. Allein im Raum mit den drei Versionen der Méditerranée sind Werke von Vincent van Gogh, Paul Cezanne, Henri de Toulouse-Lautrec und anderen Koryphäen der Kunstgeschichte zu bewundern.
Harry Graf Kessler erwarb im Laufe der Zeit über vierzig plastische und graphische Arbeiten Maillols. Die zwei Künstler Aristide Maillol und Renée Sintenis illustrierten auf Anregung ihres Mäzens aus vermögenden Haus zudem klassische Texte.
Harry Graf Kessler hatte zuvor als Leiter des Weimarer Grossherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe (ab 1903) einem deutschen Publikum die moderne bildende Kunst mit (vor allem französischen) Künstlern wie Claude Monet, Pierre-Auguste Renoir, Paul Gauguin und Paul Cezanne in etwa dreissig Ausstellungen zusammen mit Vorträgen zur Literatur renommierter Autoren nahegebrach. Viele fühlten sich provoziert. Die Präsentation von Aktzeichnungen Rodins führte 1906 zum Eklat und schliesslich zu seiner Demission.
In seiner eigenen Sammlung mit rund 150 Werken hatte Harry Graf Kessler vor allem Arbeiten von Künstlern des Impressionismus und Neoimpressionismus zusammengetragen, darunter solche von Georges Seurat, Pierre-Auguste Renoir, Pierre Bonnard und Maurice Denis.
Wie oben erwähnt begegnete Harry Graf Kessler 1904 erstmals der Person und dem Werk von Aristide Maillol. Der erste Auftrag zur grossen Steinfigur der Méditerranée (Kat. 4) geschah spontan, kaum hatten sich beide kennengelernt. Bereits bei der dritten Begegnung 1904 beauftragte der Mäzen den Künstler mit der Illustration der Eklogen Vergils (Kat. 38), lange bevor das Projekt der Edition ausgereift war, so Kerstin Richter.
Es sollte noch bis 1926 (!) dauern, ehe die klassischen Texte, illustriert von 43 Holzschnitten von Aristide Maillol, publiziert werden sollten. Die Eclogen Vergils erschienen in der Ursprache und Deutsch, übersetzt von Rudolf Alexander Schroeder, sowie als Les Églogues de Virgile, Texte latin et traduction française de Marc Lafargue (beide Ausgaben sind in Winterthur zu sehen; hinzu kam noch eine englische Ausgabe).
Harry Graf Kesslers hochgradig ästhetisches Verständnis der Buchedition war von der britischen Arts-and-Crafts-Bewegung geprägt. Für die Typographie wurde eine Schrift nahe der berühmten Jensen Antiqua von 1470 entwickelt, den Druck begleitete der Typograph Emery Walker, eine Koryphäe, wie auch Eric Gill, der die Typen schnitt. Selbst das reine, ungebleichte Vergé-Montval-Papier wurde ab 1910 selbst entwickelt und in einer eigens dazu aufgebauten Papiermühle hergestellt.
Harry Graf Kessler brachte die Editionen in seiner Cranach-Presse heraus. An der Buchausstellung in Leipzig 1927 wurden sie ausgezeichnet. Laut Kerstin Richter zählen sie heute zu den schönsten des 20. Jahrhunderts. Von den geplanten Editionen mit Maillol war dies die einzige, welche Kessler realisieren konnte. Seine Cranach Presse, die immer Verluste schrieb, musste er 1937 verkaufen. Die Georgica Vergils und die Oden von Horaz, an deren Abbildungen Maillol schon 1918 arbeitete, erschienen erst ab den späten 1930er-Jahren bei Gonin.
Angelika Affentranger-Kirchrath schreibt, nirgends zeige sich die subtile Annäherung von Renée Sintenis an das Tier besser als in ihren Zeichnungen und Graphiken. Ihr umfangreiches graphisches Œuvre umfasst nicht bloss Vorstudien zu den Skulpturen, sondern eigenständige Kunstwerke, die parallel zu oder nach den Skulpturen entstanden.
Ein Berührungspunkt von Aristide Maillol und Renée Sintenis sind die Holzschnitte, die sie 1930 als Illustrationen zum Antiken Text Daphnis und Chloe des griechischen Schriftstellers Longos (latinisiert: Longus) für Harry Graf Kessler entwarfen. In diesem Projekt überschnitten sich die Themenwelten des weiblichen Aktes und der Tierdarstellung. Im direkten Vergleich der Illustrationen wird ersichtlich, dass Aristide Maillol weiche Umrisse wählte und sich motivisch auf das bukolische Idyll konzentrierte, während die Arbeiten von Renée Sintenis herber und kantiger gestaltet wurden und sie zudem dramatische Szenen integrierte.
Oskar Reinhart war nicht der einzige Winterthurer Maillol-Sammler. Harry Klewith erläutert in seinem Essay, dass zum Beispiel das Ehepaar Hahnloser in Paris zuerst Gemälde von Maillols Gefährten Félix Vallotton und 1913 in der Galerie von Ambroise Vollard erste Kleinplastiken von Maillol erwarb, darunter je ein Guss der Léda und der Baigneuse se coiffant. Es folgten Ankäufe bedeutender Grossplastiken wie Vénus au collier, Pomone, L’Été und Flore. Den Garten ihrer Villa Flora in Winterthur liessen sie sich um 1916 von den Architekten Rittmeyer & Furrer für die Skulpturenpräsentation sogleich umgestalten (Abb. 1). Zwölf Zeichnungen und vier weitere Skulpturen wurden später ergänzend, teilweise direkt vom Künstler erworben.
Die Hahnlosers behielten den persönlichen Kontakt zum französischen Künstler noch lange aufrecht. Maillol verbrachte im September 1933 mehrere Tage in der Villa Flora und besuchte dabei auch Oskar Reinhart in der Villa «Am Römerholz». Hier sah er seine Femme accroupie se tenant les deux pieds (Kat. 25), Léda (Kat. 22) und La Méditerranée (Kat. 4), die im Garten unter einem Kastanienbaum stand, sowie den Grand Torse féminin, étude pour L’Action enchaînée (Kat. 34).
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Zitate und Teilzitate in dieser Ausstellungskritik / Buchkritik / Rezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.
Rezension / Buchkritik / Ausstellungskritik vom 24. Mai 2024 um 12:32 deutscher Zeit. Aufdatiert um 12:48.