Marcel Duchamp

Mai 15, 1999 at 00:00 4918

Biographie, Biografie, Leben und Werk - basierend auf Calvin Tomkins: Ein Leben zwischen Eros, Schach und Kunst

Der seit 1960 für den New Yorker arbeitende Calvin Tomkins interviewte Marcel Duchamp erstmals 1959 für Newsweek. Damals gab ihm der Künstler die berühmt gewordene Antwort, er sei einfach <ein Atmer>. Tomkins verfasste 1966 das Buch The World of Marcel Duchamp. Diese langjährige Auseinandersetzung mit Duchamp trägt heute seine Früchte. Dem Journalisten ist eine leichtflüssige, allgemein verständliche Biographie (Amazon.de) gelungen, die das Leben und Werk von Marcel Duchamp, sein persönliches und künstlerisches Umfeld auslotet sowie eine Einführung in die Kunst des 20. Jahrhunderts bietet. Unverständlich ist nur, weshalb die Abbildungen in der Biographie von Tomkins durchgehend nur schwarzweiss sind.

Der 1887 in der Normandie geborene Duchamp begann sein Leben wie Jackson Pollock im Schatten seiner Brüder. Gaston arbeitete unter dem Namen Jacques Villon. Er war fast von den Anfängen des Kubismus bis zu seinem Tod 1963 jenem von Picasso und Braque entwickelten Stil verbunden. Um die Jahrhundertwende waren die von ihm geschaffenen Reklametafeln in ganz Paris zu sehen. Daneben malte er Genreszenen und schuf Zeichnungen für humoristische Publikationen. Raymond, der für Marcel immer das eigentliche Wunderkind der Familie blieb, war unter dem Namen Duchamp-Villon tätig. Seine erste Skulptur nahm der Salon des Beaux-Arts 1902 an. Er blieb dem Kubismus bis zu seinem frühen Tod 1918 treu.

Marcel folgte bereits 1904 seinen Brüdern nach Montmartre. In Paris besuchte er eine private Kunstakademie. Um nur einen einjährigen Militärdienst leisten zu müssen, begann er eine Lehre in Rouen als Buchdrucker. Nach dem Jahr im Militär machte er in Paris die Bekanntschaft von Juan Gris. Beide versuchten, mit humoristischen Illustrationen ihr Geld zu verdienen, was ihnen erstmals nach zwei Jahren gelang. Marcel lebte auf Kosten seines Vaters, einem pensionierten Bürgermeister und Notar. 1908 konnte er drei Gemälde im Salon d’Automne ausstellen, in dessen Jury sein Bruder Jacques Villon sass. Die Kritik nahm keine Notiz davon. Duchamp versuchte sich bis 1911 im Impressionismus, Postimpressionismus, Fauvismus und Symbolismus. Nach seiner eigenen Aussage beeinflussten ihn damals hauptsächlich Redon und Cézanne. Der Einfluss des letzteren ist zum Beispiel im Porträt des Vaters des Künstlers von 1910 überdeutlich. Doch es waren <Schwimmübungen>, wie Duchamp später selbst seine Bemühungen bezeichnete.

1911 wandte er sich dem Kubismus zu, wobei sein Portrait de Joueurs d’Echecs (1911) gemäss Tomkins zeigt, wie Schachspieler Schach <denken> und damit auf seine spätere Entwicklung hinweist. Mit dem  <Elementarparallelismus> entwickelte er seinen eigenen Stil. Die Idee stammt von Zeitrafferphotos von sich bewegenden Menschen und Tieren. Entgegen dem Futurismus, der dieselbe Idee ein Jahr früher aufgenommen hatte, wollte Duchamp allerdings nicht <den Eindruck von Bewegung auf der Leinwand wiedergeben>, sondern <einen visuellen Eindruck der Idee von Bewegung>. 1912 reichte er Akt eine Treppe herabsteigend, Nr. 2 beim Salon des Indépendants von 1912 ein. Das Bild erschien der kubistischen Puteaux-Gruppe als Verspottung ihres Stiles. Vor allem der Titel erregte Anstoss. Duchamp war es allerdings gemäss Tomkins nicht um eine gewollte Provokation gegangen. Seine Brüder unterrichteten ihn von der Ablehnung des Bildes durch die Jury. Ein Wendepunkt für Duchamp: <Ich sah, dass ich mich danach nie mehr allzusehr für Gruppen interessieren würde.>

Der Akt eine Treppe herabsteigend wurde erstmals einen Monat nach seiner Ablehnung in Paris in Barcelona gezeigt, wo es <keine besondere Aufmerksamkeit erregte>. Der Medienrummel um das Bild begann erst 1913 mit der Internationalen Ausstellung moderner Kunst im New Yorker Waffenarsenal. Die Leute standen Schlange vor dem Saal mit dem <Skandalbild> und die Zeitungsreporter überboten sich mit vernichtenden und verspottenden Beschreibungen wie Julian Street mit <Explosion in der Schindelfabrik>. Die Ausstellung war allerdings ein Erfolg, auch für alle drei Duchamp-Brüder, auch wenn Marcels Werke keine besonders hohen Preise erzielten. Entscheidend war, dass er mit 25 Jahren begann, sich selbst zu finden und seinen eigenen Weg zu gehen, der ihn für die nächsten zehn Jahre auf das Terrain des <Verbal-Visuellen> führte. Zwei Monate im Sommer 1912 hatte Duchamp in München verbracht, ohne jedoch von den Ideen des Blauen Reiters und des deutschen Expressionismus beeinflusst zu werden. Das war ja <retinale> Kunst, von der er sich entfernte. In den fünf Monaten zwischen der Entstehung des abgelehnten Bildes und seiner ersten Bleistiftskizze zu Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblösst, sogar entwickelte er Ideen, die das Fundament der konzeptionellen Kunst bilden sollten.

Duchamp reiste 1915 reiste nach New York, wo er <bereits berühmter als Picasso oder Matisse> war, im Gepäck unter anderem Studien – so 9 männische Formen – für eines seiner Hauptwerke, das Grosse Glas, an dem er von 1915 bis 1923 arbeitete. Walter Conrad Arensberg und seine Frau Louise, er Sohn eines Stahlwerk-Mitbesitzers, sie Tochter eines Textilfabrikanten, wurden zu den wichtigsten Sammlern und Gönnern von Duchamp. Dieser setzte sich später dafür ein, dass sein gesamtes Werk in die Hände der Arensberg gelangt, was ihm allerdings nicht gelang. Marcel suchte in diesen ersten drei Jahren in New York nicht den kommerziellen und künstlerischen Erfolg, sondern hielt sich mit Französischstunden über Wasser. Leicht hätte er mit kubistischen Gemälden ein Vermögen verdienen können, doch daran war er nicht interessiert. Zudem lag ihm nicht, der kubistischen Bewegung anzugehören, einem Führer folgend. Kunst sollte in seinen Augen nichts <mit eindeutigen Theorien gemein haben>, das ähnle zu sehr der Propaganda. Er wollte sich voll und ganz von der Tradition lösen. In diesem Punkt bewunderte er die Amerikaner, die sich in seinen Augen <keinen Deut um Shakespeare scherten>.

Er war allerdings künstlerisch nicht untätig. Er kaufte sich eine amerikanische Schneeschaufel, ein maschinell hergestelltes Massenprodukt ohne ästhetische Qualitäten, auf dessen Metallleiste er In advance of the broken arm schrieb und mit seinem Namen signierte. Das Ready-made war geboren. Die vage Idee dazu trug er bereits seit zwei Jahren mit sich herum. Das Fahrrad-Rad auf dem Küchenschemel gilt zwar als das erste Ready-made, doch war es gemäss Tomkins <kein visuell indifferentes Objekt>. Zusammen mit dem Gestell zum Trocknen von Flaschen in seinem Pariser Atelier hatte er es nicht mit Titel und Namen versehen und so zum Kunstobjekt gemacht. Der entsprechende Telefonanruf erreichte seine Schwester Suzanne zu spät, sie hatte den nutzlosen Kram bereits fortgeworfen. Duchamp war sich klar darüber, dass die Zahl der Ready-mades zu limitieren sei, nur so könne man dem Geschmack, <dem grössten Feind der Kunst>, entgehen. Deshalb schuf er in seinem ganzen Leben nicht mehr als zwanzig Ready-mades.Er ignorierte allerdings nicht, dass der Künstler allein schon mit der Auswahl eines Objektes Geschmack ausübt. Duchamp fand denn auch nie zu einer Definition des Ready-mades, die ihn vollständig zufrieden stellte. Alle seine Objekte wiederspiegeln seine Ironie, so auch das Pissoir, das er zur Fontaine deklarierte. Es ging 1917 in die Kunstgeschichte ein, weil es von der Jury der Ausstellung der Independentsin New York, der Duchamp selbst angehörte, zurückgewiesen wurde. Er hatte es unter dem Pseudonym R. Mutt eingereicht. Duchamp und Arensberg, der in die bewusste Provokation eingeweiht war, traten sofort unter Protest vom Vorstand zurück, ohne ihre <Täterschaft> offen zu legen. Eine Woche später wurde das Urinal in der Galerie von Alfred Stieglitz gezeigt. Duchamp wandte sich weiterhin gegen die Vermarktung, die Kommerzialisierung der Kunst und dachte nicht einmal daran, seine Ready-mades zu verkaufen. Das Original von Fontaine teilte das Schicksal von Fahrrad-Rad und Flaschentrockner und landete auf dem Müll. Für Duchamp war seine neue Kunst zwar <im selben Geist> wie Dada gewesen, aber nicht der Aktion verschrieben und nicht gegen das Publikum gewandt. Tomkins fügt hinzu, dass den Dada-Künstlern (mit Ausnahme von Arp) zudem die Ironie gefehlt habe.

1918 malte Duchamp sein letztes Gemälde auf Leinwand, Tu m‘ (in der Regel als Tu m’emmerdes gedeutet). Es war eine Art Sythese oder Résumée seiner bisherigen Aktivitäten. Gemäss Tomkins hatte Marcel wohl Angst, <in die Falle der Kunst zu geraten>, denn Tu m‘ war wieder <ein höchst „retinales“ Bild>. 1919 versah Duchamp eine Mona Lisa-Postkartenreproduktion mit einem Schnurrbart und fügte am Rande die Buchstaben L.H.O.O.Q. (lies: Elle a chaud au cul). Eine dadaistische Provokation und eine Art erweitertes Ready-made, mit dem er unsere Vorstellung des Bildes von Leonardo veränderte, so Tomkins, der sich allerdings gegen die in der Kunstkritik ausufernden und in seinen Augen verfehlten Vergleiche Leonardo-Duchamp wehrt.

Duchamps Geist entsprang 1920 der Künstlername Rose Sélavy – Eros ist das Leben -, der zugleich sein Lebensmotto war. Marcel schuf Werke, die er mit diesem Namen versah und Man Ray photographierte ihn als Frau verkleidet. Die Zeichnung Dimanchesaus dem Jahr 1910 illustriert Duchamps mehr oder weniger lebenslange Einstellung zur Ehe. Neben seiner hochschwangeren Frau gehend schiebt ein Mann einen Kinderwagen durch einen trostlosen Vorort von Paris, beide mit trauriger Miene.
Der Eros steht auch im Zentrum von Das Grosse Glas, LA MARIEE MISE A NU PAR/SES CELIBATAIRES, MEMES (1915-23), ein Fenster, durch das <der Betrachter an einem endlos aufgeschobenen Akt des Koitierens teilnehmen kann, der keine Strafe (kein Bedauern) nach sich zieht, weil er niemals vollzogen wird.> Tomkins verwirft überzeugend freudianische Deutungen des enigmatischen Werkes, bietet aber selbst keinen Ersatz dafür an. Duchamps Grosses Glas wurde ab November 1926 erstmals (und letztmals im Originalzustand, da darauf auf dem Transport teilweise zerstört) in New York öffentlich gezeigt, doch die Kunstkritik nahm bei der umfassendsten Schau der Moderne in der Stadt seit 1913 keine Notiz davon, obwohl es bei der Vernissage als Meisterwerk vorgestellt worden war.

<Von 1921 an schien er allerdings weniger und weniger dazu zu neigen, irgend etwas zu machen, das nach Kunst roch. Er blieb auf Distanz zu den Dadaisten […].> Zum Ende seiner Malerei bemerkte Duchamp später, er habe einfach keine Ideen mehr gehabt und habe sich nicht wiederholen wollen. Gleichzeitig aber versuchte er Metallkettchen mit den vier Buchstaben D A D A zu verkaufen, als Armband oder Krawattennadel. Doch aus der kommerziellen Idee wurde nichts wie er auch mit vielen andern Unternehmungen scheiterte. So versuchte er sich zusammen mit einem Partner als Stoff- und Federnfärber. Das Unternehmen, für das er sich von seinem Vater dreitausend Francs lieh, endete sechs Monate später im Konkurs der Firma (Duchamps Eltern verstarben übrigens 1925). Duchamp versuchte sich auch mit einem Gewinnsystem im Roulette. Die Monte Carlo Obligation, die er ausstellte, wurde kein Erfolg, da die Gewinnspanne sich als zu gering erwies und er deshalb rasch das Interesse daran verlor. Wer jedoch die Originalzertifikate behielt, konnte später auf dem Kunstmarkt damit Kasse machen.

Bis 1933 hatten seine Aktivitäten nur noch wenig mit Kunst zu tun. Dieser <Ausstieg> wurde oft <zu einer wichtigen künstlerischen Äusserung hochstilisiert>, was er gemäss Tomkins nicht war. Vielmehr hatte Duchamp den Ehrgeiz, ein professioneller Schachspieler zu werden, als er im Februar 1923 New York verliess. Ihm gelang gar der Sprung in die französische Nationalmannschaft, doch der richtige Durchbruch kam nicht, was er 1933 auch einsah. In dieser Zeit kappte er nie wirklich die Verbindung zu den Künstlern, hielt sich aber von der Szene selbst fern. In Paris ging er eine Liaison mit einer amerikanischen Kriegerwitwe, Mary Reynolds, ein, die fast zwei Jahrzehnte andauern sollte. Zu den Widersprüchen in Duchamps Leben gehört auch, dass er sich einerseits gegen die Kommerzialisierung der Kunst wandte, andererseits während zweier Jahrzehnte seinen (bescheidenen) Lebensunterhalt in erster Linie mit dem Kauf und Verkauf von Werken anderer Künstler bestritt. Zu den Inkonsequenzen gehört auch seine Heirat 1927 mit der hässlichen Tochter eines wohlhabenden Pariser Automobilfabrikanten. Die Mitgiftjagd misslang, da der Vater der Braut nur wenig Geld mit in die Ehe gab, die denn auch nach sieben Monaten wieder geschieden wurde. Seine Ex-Frau <verstand nie, was ihr widerfahren war>, schliesst Tomkins aus ihren Memoiren. Der gleiche Duchamp lehnte aber die Aufforderung eines Kunsthändlers ab, für zehntausend Dollar pro Jahr wieder zu malen. Er hielt sich auch von den  Surrealisten und ihren <Schismen und Aufständen> fern. Gleichzeitig erlaubte er dagegen die öffentliche Ausstellung seiner Werke, half bei ihrer Restauration nach Beschädigung und äusserte sich weiterhin zu seinen Arbeiten.

Von der Grünen Schachtel produzierte er dreihundert Exemplare und zehn De-Luxe-Ausgaben. Es handelte sich um Notizen und Skizzen zum Grossen Glas, das ja <eine Akkumulation von Ideen>, eine <Verschmelzung mentaler und visueller Reaktionen> war. Damit bestätigte er, dass die Idee des Künstlers für ihn wichtiger war als deren Umsetzung. Von der Boîte en valise aus dem Jahr 1941 stellte er zwanzig De-Luxe-Ausgaben her. Die valise enthielt eine ausgewählte Anzahl von Reproduktionen seiner Bilder, Ready-mades und Texten im Kleinformat. Es war quasi ein Museum im Koffer und gleichzeitig eine Suche nach dem kommerziellen Erfolg, wie Duchamp selbst festhielt, auch wenn heute darin teilweise eine Kritik an der Institution Museum gesehen wird.

Duchamp führte Peggy Guggenheim – nach deren eigenen Angaben – in die moderne Kunst ein. Unter Anleitung von Duchamp und einem jungen kalifornischen Kunsthändler kaufte sie billig Kunst der Moderne im von den Nazis bedrohten Europa auf, ohne dass sie verstand, was für ein <Glück> sie dabei hatte. So entstand der Grundstock ihrer weltberühmten Sammlung. Tomkins teilt der <grande Dame> wiederholt Seitenhiebe aus. Wenn jemand nicht so wollte wie sie, konnte sie ungnädig werden, wie Tomkins an einem Beispiel erläutert. Etwas abschätzig schreibt er auch von ihrer Promiskuität (Duchamp lebte auch nicht gerade enthaltsam). Sie habe mit allen Künstlern schlafen wollen, was ihr mit Duchamp entgegen ihren eigenen Äusserungen gemäss Tomkins nicht gelang. Der Biograph erzählt auch die Anekdote von Pollocks Stenographic Figure– eines seiner Hauptwerke (siehe Cosmopolis Nr.1), das sie Mondrian gegenüber in ihrer New Yorker Galerie als <ziemlich furchtbar> bezeichnete. Dieser entgegnete, es sei das aufregendste Gemälde, das er seit langer Zeit gesehen habe. Noch am gleichen Abend führte Peggy ein anderes Jurymitglied zu eben jenem Pollock mit den Worten: <Ich möchte Ihnen etwas sehr, sehr Interessantes zeigen.>

Duchamp verliess Europa erst im Juni 1941 auf einem portugiesischen Schiff. In New York fühlte er sich als <einziger> europäischer Künstler wohl. Er liebte den <Rhythmus der Stadt und das Gefühl der Freiheit, das sie ihm gab>. Dort lebte er vom Verkauf seiner Schachteln und seinen Französischstunden. Er schuf fast keine Kunst, entwarf aber den Katalogumschlag für Man Rays Ausstellung in der Julien Levy Gallery 1944. Ebenfalls entwarf und produzierte er 1947 den Katalog für die Ausstellung <Le Surréalisme en 1947>, das Tomkins als das <letzte Hurra der Bewegung> bezeichnet.

Maria Martins, die Gattin des brasilianischen Botschafter und Doyens des diplomatischen Korps wurde zu einer guten Freundin. Sie war bis 1948 in New York. Bis 1951 hielten sie brieflichen Kontakt, der nach einem letzten Treffen in New York abbrach. In der Valise, die er ihr gab, befand sich eine seltsame Zeichnung, die keine weitere Entsprechung in seinem Werk findet. 1989 wurde festgestellt, dass Duchamp bei Paysage fautif ejakulierte Samenflüssigkeit als Zeichenmedium benutzt hatte. Maria Martins war die Muse für sein letztes grosses Werk, Etant donnés, an dem er im Geheimen von 1946 bis 1966 arbeitete – eine Skizze dazu trägt den Untertitel Maria, la chute d’eau et le gaz d’éclairage. Das ein Jahr nach seinem Tod 1969 im Philadelphia Museum of Art der Öffentlichkeit zugänglich gemachte Hauptwerk besteht aus einem fensterlosen Raum. An einer Wand befindet sich eine Holztür, die von einem Backsteinbogen umfasst wird. Durch zwei Gucklöcher sieht der zum Voyeur gemachte Betrachter eine nackte Frau rücklings auf einem Lager aus Ästen, Zweigen und Blättern liegend (Courbets Der Ursprung der Welt als Vorbild?). In einer Hand hält sie eine Gaslampe. Im Hintergrund ist ein Teich oder See sowie ein winziger Wasserfall (ein Trompe-l’oeil-Effekt) zu sehen. Wie im Grossen Glas ist der sexuelle Akt das Thema. Doch im Gegensatz dazu ist er nicht bevorstehend, aber permanent aufgeschoben, sondern wahrscheinlich vollzogen worden. Tomkins erklärt das dreidimensionale durch und durch <retinale> Werk mit Duchamps Worten: <Ich habe mich gezwungen, mir selbst zu widersprechen, um es zu vermeiden, dass ich meinem eigenen Geschmack entspreche.> Auch hier findet Tomkins zu keiner Deutung des Werks, vor allem auch, weil Duchamp keinerlei erklärende Aufzeichnungen dazu hinterlassen hat.

Der Junggeselle Duchamp steuerte 1954 überraschend nochmals den ehelichen Hafen an, zusammen mit Alexina <Teeny> Matisse, der früheren Frau des Kunsthändlers Pierre Matisse, Sohn des berühmten Henri Matisse. Teeny war eine attraktive Frau, Kennerin der Kunstwelt, Schachspielerin und gute Köchin. Duchamp erhielt ab 1953 vom Bruder seiner verstorbenen jahrzehntelangen Freundin Mary Reynolds vierteljährliche Schecks von einem Treuhandfonds. Fünf- bis sechstausend Dollar pro Jahr, was in etwa allen seinen andern jährlichen Einkünften 1953 entsprach und ihm wohl den Schritt zur Heirat erleichtert hatte.

Duchamp war lebenslang eine Art Geheimtip, der Künstler der Künstler. Viele seiner Werke waren nicht öffentlich zugänglich bzw. in Ausstellungen waren nur Replika zu sehen, da die Originale zerstört oder stark restauriert worden waren. Die Idee seines Werkes ist tatsächlich stärker als die einmalige Originalkunst. Ironischerweise vertrat Duchamp die Ansicht, dass ein Kunstwerk unvollständig sei, solange es nicht von einem oder mehreren Betrachter gesehen und bedacht worden sei. Der Künstler vollbringe <nur einen Teil des schöpferischen Aktes>. Damit stand er im Gegensatz zum Ego der meisten seiner Kollegen, besonders distanzierte er sich damit vom abstrakten Expressionismus. Für Duchamp existiert eine Kluft zwischen den Intentionen des Künstlers und den Endergebnissen, die vom Publikum mit abhängen – ein Seitenhieb auf seine Kritiker und ihre psychoanalytischen Deutungen seines Werkes. Tomkins nimmt sich ebenfalls einige frühere Biographen zur Brust. Vor allem Arturo Schwarz‘ Monographie mit Catalogue raisonné hat es ihm angetan. Er verwirft viele der zum Teil abstrusen psychologischen Erklärungen des Werkes von Duchamp durch den Mailänder Kunsthändler. Der <arme Schwarz> habe von der Existenz von Etant donnés erst kurz vor der Drucklegung seiner Biographie erfahren und in wenigen Tagen seine psychologischen Erklärungen dazu verfasst. Tomkins wendet sich vor allem gegen die vermeintlich inzestuöse Beziehung Marcels zu seiner Schwester Suzanne, die z.B. in Jeune Homme et Jeune Fille dans le Printemps aus dem Jahr 1911 oder in Etant donnés zum Ausdruck kommen solle. Auch die von anderen vorgebrachten Thesen, die Alchimie oder die Werke von Alfred Jarry (Roi Ubu) seien Quelle und Schlüssel zu Duchamps Werk, verwirft er mit dem Hinweis auf des Künstlers‘ Äusserungen dazu. Die Quellen jeden schöpferischen Aktes seien zu Komplex, als dass sie sich <in solch absurd pedantischer Weise festnageln liessen>, meinte Duchamp, für den das wahre Kunstwerk unabhängig vom Künstler war oder sein sollte. Zur Erklärung des Grossen Glases fügte er einen seiner Lieblingssprüche an: <Es gibt keine Lösung, weil es kein Problem gibt.>

Für Tomkins hat Duchamp – mit seiner Form des Kubismus, den Ready-mades und der Idee der konzeptionellen Kunst – das 20. Jahrhundert stärker geprägt als Picasso. Warhol lässt sich gemäss Tomkins mit seiner Werbung, der Wiederholung und totalen Kommerzialisierung als <B-Seite der Indifferenz à la Duchamp auffassen>. Rauschenberg, der die Barriere zwischen Leben und Kunst einreissen wollte, steht wie viele heutige Kunstrichtungen mehr oder weniger in der Schuld von Duchamp, dem Vater vor allem der konzeptionellen Kunst. Allerdings blieb Duchamps Haltung gegenüber der Pop-Art oder Neo-Dada ambivalent, da er sie <für „einen leichten Ausweg“ und eine falsche Lesart von Dada> hielt, denn er verneinte ja jede Ästhetik in seinem Werk, wie Tomkins ebenfalls festhält. Seltsam ist, dass der Biograph, der die Ironie von und im Werk Duchamps betont, dessen Äusserungen immer zum Nennwert nimmt und nie hinterfragt.


Calvin Tomkins: Marcel Duchamp. Eine Biographie. Aus dem amerikanischen von Jörg Trobitius. München, Carl Hanser Verlag, 1999, 601 S., 108 s/w-Abbildungen. Bestellen bei Amazon.de.

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Marcel Duchamp: Die Schriften II. Interviews und Statements.
Marcel Duchamp: Marcel Duchamp. Hatje Cantz, 2002. Katalog zur von Harald Szeemann kuratierten Ausstellung im Museum Jean Tinguely in Basel. Bestellen bei Amazon.de.