Nawalny

Feb 07, 2022 at 12:28 1112

Das Schicksal des russischen Politikers, Regimekritikers und Antikorruptions-Aktivisten Alexej Nawalny bewegt Menschen rund um den Globus. In ihrem Buch (Amazon.de) Nawalny: Seine Ziele, seine Gegner, seine Zukunft, erzählen uns Jan Matti Dollbaum, Morvan Lallouet, Ben Noble zu Beginn, wie Alexej Nawalny auf einem Flug von Tomsk nach Moskau vergiftet wurde, das Flugzeug notlandete, der Patient später nach Berlin gebracht wurde. Dort erklärten deutsche Ärzte, Nawalny sei mit einem Cholinesterase-Hemmer – einem Wirkstoff, der das Nervensystem angreift – vergiftet worden. Dieser könnte von einem gewöhnlichen Schädlingsbekämpfungsmittel stammen – oder von einem waffentauglichen Nervenkampfstoff.

Am 14. Dezember 2021 veröffentlichte das Recherchenetzwerk Bellingcat die Ergebnisse seiner Ermittlungen, die es mit der russischen Online-Zeitung The Insider sowie der Unterstützung von CNN und dem Spiegel durchgeführt hatte. Nawalny sei von einer auf giftige Substanz spezialisierten Einheit des russischen Geheimdienstes FSB vergiftet worden, die Nawalny seit Jahren beschattet und womöglich bereits zuvor zu vergiften versucht habe.

Am 21. Dezember 2021 veröffentlichte Alexej Nawalny das Video eines Telefonats, das er bereits kurz vor Veröffentlichung der Bellingcat-Recherche mit Konstantin Kudrjawzew geführt hatte. Dieser soll am Mordversuch beteiligt gewesen sein. Nawalny gab sich als Mitarbeiter des früheren FSB-Chefs aus, und Kudrjawzew fiel darauf herein, liess sich Details der Operation entlocken: «Die Unterhosen … an der Innenseite … im Schritt» – dort sei das Nervengift Nowitschok aufgetragen worden, sagte Kudrjawzew.

Jan Matti Dollbaum, Morvan Lallouet, Ben Noble erzählen jedoch nicht einfach nur die Ereignisse nach, natürlich noch mit viel mehr Details, sondern sie gehen zudem der Frage nach, wer ist Alexej Nawalny? Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International nahm nach einigen Wochen ihre Entscheidung zurück, Nawalny als «Gewissensgefangenen» (prisoner of conscience) einzustufen. Amnesty begründete dies mit seinen früheren Aussagen der «Befürwortung von Hass, auf der die Anstiftung zu Diskriminierung, Gewalt und Feindseligkeit gründet».

Jan Matti Dollbaum, Morvan Lallouet, Ben Noble präsentieren eine Kurzbiografie von Alexej Nawalny, der am 4. Juni 1976 in Butyn – einem Dorf im Westen Moskaus – geboren wurde. Seine Mutter arbeitete als Buchhalterin. Sein Vater war ein aus der Ukraine stammender Offizier der sowjetischen Armee. Die UdSSR genoss in der Familie dennoch kein hohes Ansehen. Laut den Autoren hörte der Vater den US-Sender Voice of America, eine Grossmutter hasste Lenin. Sie lebte in einem Dorf bei Tschernobyl, bis die Region durch den Nuklearunfall unbewohnbar wurde.

Nawalny war 15, als die Sowjetunion zusammenbrach. Er machte sich über den Kommunismus keine Illusionen. In der Jugend habe er die radikale Version des Liberalismus befürwortet, Jelzin und dessen Reformen unterstützt. Später bereute er dies und sei zum Schluss gekommen, dass die Reformer die Samen für Putins autoritäre Herrschaft säten.

Nawalny studierte Jura und machte einen weiteren Abschluss in Finanz- und Börsenwesen. Doch, so Nawalny selbst, an der Universität habe er begonnen, am Liberalismus zu zweifeln, und sei in Richtung Nationalismus umgeschwenkt. Unsere Autoren betonen, Nawalny sei damals allerdings noch kein Aktivist gewesen. Um die Jahrtausendwende gründete er mehrere Unternehmen und habe in guten Monaten $4000 bis $5000 verdient.

Nawalny sei von einem tiefen Gefühl moralischer Gewissheit durchdrungen. Die Macht liege in der Wahrheit, sagte er. Er sei ein orthodoxer Christ und ein Familienmensch. 2001 heiratete er Julia Nawalnaja (geborene Arosimowa), mit der er zwei Kinder hat (Daria geboren, Zakhar 2008). Seine Frau hat nie eigene politische Ambitionen erkennen lassen.

Trotz seinem selbsterklärten traditionellen Familienbild pflege Nawalny einige fortschrittliche Ansichten, die vom Mehrheitstandpunkt stark abwichen. So unterstütze er die gleichgeschlechtliche Ehe. Kremlfreundliche Boulevardblätter betonten, Nawalny trage teure Markenkleidung und mache Urlaub im Ausland. Doch mehr hätten sie nie herausgefunden. Er sei schlagfertig, einnehmen, witzig, aber auch aufbrausend. Ziemlich oft grenze seine Direktheit an Unverschämtheit. Er habe zahlreiche Auseinandersetzungen mit Journalisten, ehemaligen Verbündeten und Politikern.

Nawalny sei eine komplexe Figur. Seine Wahrnehmung sei in Russland gespalten. Die Meinungen reichen von demokratischer Held, der Putins autoritärem Regierungsstil entgegentrete, Anführer der Opposition bis zu Verräter, Strohmann des Westens, der von der CIA bezahlt werde. Für andere wiederum sei er ein fremdenfeindlicher Nationalist. Die Menschen seien nicht zu unrecht verwirrt, so die drei Autoren.

Nawalny sei ein Liberaler, der nationalistische – sogar rassistische – Erklärungen abgegeben habe, ein Antikorruptionsaktivist, der selbst wegen Unterschlagung verurteilt worden sei, ein russischer Patriot, der aber zu internationalen Sanktionen gegen russische Behörden aufrufe, ein bekennender Demokrat, der seine Bewegung mit starker, autoritärer Hand führe. Er greife seine Gegner mit zynischen Kommentaren an und sei nur selten zu Kompromissen bereit. Eine charismatische, medienerfahrene öffentliche Figur wie ihn habe es bisher in Russland nicht gegeben – in einem Land mit einem Regime, das mit Kritik zumindest nicht gut umzugehen wisse.

In Russland lebten über 250,000 Dollarmillionäre, während dem viele Millionen in Armut lebten. Korruption, Ungleicheit, die Oligarchen, die die Macht stabilisierten, seien daher ein grosse Themen. Um ein ernsthafter Herausforder zu werden, brauche es Mut, Kreativität und Witz. Nawalny besitze all diese Qualitäten. Deshalb habe sich der Kreml auf ihn eingestellt.

Jan Matti Dollbaum, Morvan Lallouet, Ben Noble begeben sich in ihrem Buch auf die Spuren von Nawalny, dem Antikorruptionskämpfer, dem Politiker und dem Strassenaktivisten. Dies seien die drei wichtigsten Aspekte seiner Karriere. Hinzu kommen Kapitel zum Kampf des Kreml gegen Nawalny und zur Bedeutung Nawalnys für die Zukunft Russlands.

Gegen Ende halten die Autoren fest, dass laut einer Umfrage von Anfang 2021 nur 19% der Russen und Russinnen mit Nawalnys Aktivitäten einverstanden seien. Laut einer Umfrage von Ende 2020 glaubten 49%, Nawalnys Vergiftung sei von westlichen Geheimdiensten erfunden oder arrangiert worden. Es sei unklar, wie Nawalnys Zustimmungswerte in einem freien System ausfallen würden. Der Kreml wolle verhindern, dass er die Zukunft Russland wird. Doch Nawalny, sein Team und seine Begewung kämpften für eine andere Möglichkeit: dass es dem russischen Volk erlaubt sein müsse, über die Zukunft des Landes selbst zu bestimmen. Dies und mehr ist diesem kritischen Buch zu Alexej Nawalny zu entnehmen.

Jan Matti Dollbaum, Morvan Lallouet, Ben Noble: Nawalny: Seine Ziele, seine Gegner, seine Zukunft , Hoffmann und Campe, August 2021, 288 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Einige Informationen zu den Autoren:

Jan Matti Dollbaum forscht an der Universität Bremen zu politischen Protestaktionen in Osteuropa. Er hat viele Jahre in Russland verbracht und ist Spezialist für Nawalnys Bewegung. Zudem arbeitet er für die kritische russische Nachrichtenseite dekoder.org und schreibt u.a. für die Neue Zürcher Zeitung.

Morvan Lallouet hat Politikwissenschaften an der Universtät Sciences Po in Paris studiert und zu Pussy Riot geforscht. Er schreibt zur Zeit an einer Doktorarbeit zu Alexej Nawalny an der University of Kent.

Ben Noble lehrt Russische Politik am University College London und ist Mitglied des Chatham House, einem bedeutenden Think Tank. Er hat Nawalnys Aufstieg in den Jahren 2011-13 in Moskau vor Ort miterlebt. Seine Artikel zur russischen Politik erscheinen in The Washington Post, The Telegraph, Time Magazine, Newsweek, The New Statesman und anderen Medien.

Zitate und Teilzitate in dieser Rezension zu Alexej Nawalny / Navalny sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Buchkritik / Rezension vom 6. Februar 2022 um 12:27 deutscher Zeit.