Vor ziemlich genau 50 Jahren, am 8. April 1973, verstarb Pablo Picasso.
Der Autor von Picasso malt Picasso: Selbstportraits 1894 bis 1972 (Amazon.de), Pascal Bonafoux, beginnt sein Werk mit einem Abendessen in der Villa Medici in Rom im Jahr 1982. Als Stipendiat der Französischen Akademie weilte er dort, um an seiner Doktorarbeit zum bis dahin unerforschten Thema des Selbstportraits in der abendländischen Malerei zu arbeiten, wofür er die Sammlungen der Accademia San Luca in Rom und die Sammlung der Grossherzöge der Toskana in den Uffizien in Florenz untersuchen wollte.
Jacqueline Picasso (1927-1986), die sich am 15. Oktober 1986 in Notre-Dame-de- Vie in Mougins das Leben nahm, war die zweite und letzte Ehefrau von Pablo Picasso (1881-1973). Sie fragte Pascal Bonafoux bei jenem Abendessen, ob er in seiner Arbeit auch Pablos Selbstportraits erwähne. Der angehende Kunsthistoriker antwortete, er habe sich am Fotografen Brassaï orientiert, wonach Pablo Picasso im November 1918 bei der morgendlichen Rasur in seinem Zimmer im Hotel Lutetia von Guillaume Apollinaires Tod erfahren habe und fortan Spiegel als unerträglich empfunden habe, weshalb er sich nie mehr gemalt oder gezeichnet habe.
Jacqueline Picasso wies Pascal Bonafoux darauf hin, dass sich Brassaï getäuscht habe. Pablo habe sich durchaus weiterhin selbst gemalt, gezeichnet und in Druckgraphiken dargestellt. Mit der Hilfe, die sie ihm in Aussicht stellte, sollte es kein Problem sein, alle Selbstportraits von Pablo zusammenzutragen und ein Buch darüber zu schreiben. Er müsse sich nur in Acht nehmen vor dem, was manche über angebliche Aussagen von Picasso selbst geschrieben hätten, unter anderem dass er sich als Harlekin und Minotaurus dargestellt habe. Er sei zwar niemals gleich geblieben, habe dabei aber dennoch nicht aufgehört, er selbst zu sein.
Pablo Picasso (1881-1973) hat in seinem Leben 169 Selbstportraits in allen erdenkbaren Techniken – Bleistiftskizzen, Tusche, Ölmalerei, Photographie, Skulptur – geschaffen, von denen wir (laut Pascal Bonafoux) wissen. Der französische Kunsthistoriker Pascal Bonafoux hat sich in seinem 2021 veröffentlichten Buch Picasso par Picasso: Autoportraits 1894-1972 (Amazon.fr) auf ihre Spuren gemacht. 2023 ist nun die deutsche Ausgabe Picasso malt Picasso: Selbstportraits 1894 bis 1972 bei Schirmer/Mosel erschienen (Amazon.de).
Im „Postscriptum“ schreibt Pascal Bonafoux unter anderem, dass eine ganze Reihe von Werken keine offizielle Zuschreibung erhielten, als nicht authentisch anerkannt wurden was, dem Kunsthistoriker teilweise ausgesprochen willkürlich erscheint. Trotz der wertvollen Unterstützung seitens des Picasso-Nachlasses sei es nicht möglich gewesen, in Picasso malt Picasso (Amazon.de) alle ermittelten Selbstportraits zu reproduzieren. Einige Sammler hätten den Abdruck des oder der Selbstportraits aus ihrem Besitz untersagt. Nach der aktuellen Gesetzgebung sei es »Rechteinhabern« möglich, den Abdruck des Werkes eines Künstlers in den ersten siebzig Jahren nach seinem Ableben zu verweigern, wenn es nicht ihrem »Wunsch und Willen« entspricht. Da Pablo Picasso am 8. April 1973 verstorben ist, muss folglich das Jahr 2043, bis alle Selbstportraits des Künstlers problemlos abgedruckt werden können. Dennoch ist das Buch Picasso malt Picasso: Selbstportraits 1894 bis 1972 (Amazon.de) natürlich reich bebildert.
Der Autor verschob die Erfüllung des Jacqueline Picasso 1982 gegebenen Versprechens, ein Buch zu den Selbstportraits ihres verstorbenen Mannes zu verfassen, immer wieder, mit unterschiedlichsten Ausreden. Seine vorrangige Sorge sei bei vielen Bildern gewesen, sie der Kategorie Selbstportraits zuzuordnen. Es sei vorgekommen, dass Picasso, von Picasso gemalt, Picasso nicht ähnlich sah. Zudem habe er die Identität der im Bild dargestellten Person manchmal durch den Werktitel verschleiert. Meistens hat Picasso seinen Arbeiten gar keinen Namen gegeben.
Christian Zervos, dem späteren Verfasser von Picasso’s Werkverzeichnis, sagte der Künstler 1935: »Wer Gemälde erklären will, ist meist auf dem Holzweg. Gertrude Stein hat mir kürzlich freudig kundgetan, sie habe endlich verstanden, was mein Bild darstellen soll: drei Musiker. In Wirklichkeit war es ein Stillleben!«
Pascal Bonfoux zitiert Louis Aragon (aus den Französischen Briefen, 1954), der dort im Text „La verve de Picasso“ festhielt: »Die Malerei ist etwas Einzigartiges, weil sie uns bezaubert und weil sie uns dummes Zeug reden lässt.«
Pascal Bonfoux unterstreicht zudem, bei Pablo Picasso treffe man mehr als bei allen anderen Künstlern auf sämtliche Probleme des Genres Selbstportrait, einer Gattung, die Mythen mit Anekdoten verknüpfe. Und im gleichen Masse Demut voraussetze, wie sie Verunsicherung provoziere.
Pascal Bonafoux verweist auf den Dichter, Essayisten, Romanautor und Initiator des Musée d’Art moderne in Paris Jean Cassou, der wie andere mit Recht gesagt habe, dass Picassos Kommentare zu seinen Werken »der Inbegriff der Zweideutigkeit« seien. Zudem habe Pablo Picasso selbst bemerkt: »Man muss nicht immer alles glauben, was ich sage. Die Fragen fordern zum Lügen heraus, vor allem dann, wenn es keine Antwort gibt.«
Pascal Bonfaoux schreibt, wenn man die Selbstportraits Picassos in der Gesamtschau betrachte, hätten sie nichts gemeinsam mit den Portraits, die Rembrandt im Laufe der Zeit von sich gezeichnet, graviert und gemalt habe, ebenso wenig wie mit der Gesamtheit der Selbstportraits von Van Gogh und Cézanne, an denen man ablesen könne, welchen gestalterischen Herausforderungen sie sich gestellt hätten. In den sehr unterschiedlichen Selbstportraits Picassos dagegen seien derlei Zusammenhänge nicht erkennbar. Unaufhörlich verändere Picasso seine Erscheinung im Bild und sei und bleibe doch immer Picasso. Betrachte man seine Selbstbildnisse, so sehe man ganz klar, wie sehr er mit seinen Beiträgen genau das in Frage stelle, was über Jahrhunderte hinweg die Tradition der Gattung ausgemacht habe und ausmachen musste. Und so sei es kein Zufall, dass keines von Picassos Selbstportraits Eingang gefunden habe in die Sammlung der Uffizien, die mit fast zweitausend Exemplaren die grösste solche Sammlung der Welt ist. Hätte Picasso zugestimmt, den Uffizien ein Selbstportrait zu geben? Pascal Bonafoux bezweifelt dies, weil ein einziges Selbstportrait Picassos keine »Aussage« darüber zulasse, welche Metamorphosen er durchlaufen habe.
Picasso fragte Brassaï einst: »Was versteht man unter Skulptur? Was unter Malerei? Man klammert sich immer an veraltete Ideen, an überholte Definitionen, als bestünde die Rolle des Künstlers nicht genau darin, neue zu finden.« Pascal Bonafoux zitiert sogar die Sängerin Madonna, die 2015 ohne zu zögern gesagt hat: »Unser Job als Künstler ist es doch, die Welt auf den Kopf zu stellen, sodass alle verwirrt sind und neu zu denken anfangen.« Dass ihr Ruhm und Erfolg auf Provokation basiere, unterscheide die Queen of Pop gar nicht so sehr von Picasso. Diese Rolle des Künstlers ziehe sich seit Jahrhunderten durch die Kunstgeschichte. Der italienische Architekt, Hofmaler der Medici und Biograf italienischer Künstler Giorgio Vasari meinte: »Wer hinter jemandem hergeht, wird ihn nie überholen.
Pascal Bonafoux betont die Bedeutung von Picassos Aussagen: »Beim Namen nennen, das ist es! In der Malerei gelangt man nie so weit, dass man Objekte beim Namen nennt.« Sowie: »Der Künstler muss die Mittel kennen, um seine Umgebung von der Wahrhaftigkeit seiner Lügen zu überzeugen.« Und: »Für mich spricht ein Bild für sich; was soll es bringen, weitere Erklärungen hinzuzufügen?«
Der Kunsthistoriker meint, man müsse vielleicht einfach akzeptieren, dass wir, wenn wir ein Selbstportrait Picassos nicht verstünden, dabei etwas anderes zu verstehen lernten. Vielleicht liefere Albert Einstein die Lösung, der in einem Brief schrieb: »Da jeder von uns aus seiner subjektiven Wahrnehmung heraus Picassos Werk auf eine ganz eigene Art empfindet, sind verschiedene Sichtweisen vonnöten, um ihn in seiner universellen Gesamtheit zu erfassen.« Ich würde den simplen Satz hinzufügen: Kunst liegt im Auge des Betrachters.
So wie Jacqueline Picasso ihm einst sagte: Sie sind am Zug! (ein Werk zu den Selbstportraits Picassos zu verfassen), so teilt Pascal Bonfaoux dem Leser mit: Sie sind am Zug (eine Interpretation zu Picassos Selbstportraits zu finden).
Dies sind nur einige wenige Passagen aus und Anmerkungen zu einem Buch, das zur Auseinandersetzung mit dem Jahrhundertkünstler Pablo Picasso und seinen Selbstportraits anregt, und dies nicht nur mit dem Text eines Kunsthistorikers, der sich seit seiner Dissertation mit dem Thema auseinandersetzt, sondern zudem mit zahlreichen Fotografien und den chronologisch angeordneten Selbstportraits des Künstlers.
Pascal Bonafoux: Picasso malt Picasso: Selbstportraits 1894 bis 1972. Schirmer/Mosel, März 2023, 224 Seiten. Das deutsche Buch bestellen bei Amazon.de. Die englische Ausgabe, Picasso: The Self-Portraits, Thames & Hudson, bestellen bei Amazon.de, Amazon.com, Amazon.co.uk. Die französische Originalausgabe, Picasso par Picasso: Autoportraits 1894-1972, SEUIL, Oktober 2021, bestellen bei Amazon.fr.
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Rezension / Buchkritik vom 2. April 2023 um 11:42 deutscher Zeit.