Ralph Bollmann: Angela Merkel

Jan 26, 2022 at 14:55 1100

Der Historiker und FAZ-Journalist Ralph Bollman hat mit 800 Seiten die bisher umfassendste Biografie der Altkanzlerin unter dem Titel Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Zeit (Amazon.de) verfasst.

Ralph Bollmann erwähnt ihn seinem Vorwort die Trauerrede von Angela Merkel für Helmut Schmidt in der Hauptkirche St. Michaelis in Hamburg im November 2015, in der sie zustimmend den Satz des Altkanzlers erwähnte: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“. Sie rühmte den nüchternen Pragmatismus des Verstorbenen, seine Resistenz gegenüber ideologischer Einengung und schloss die Bilanz seiner Regierungszeit mit den Worten: „Die Leistungen dieses Bundeskanzlers zeigten sich in den Krisen, die er zu bewältigen hatte.“ Angela Merkel habe dabei so etwas wie in Selbstportrait in der dritten Person gezeichnet.

Für Ralph Bollmann liegen trotz früherer Kritik von Merkel an Schmidt die Parallelen der zwei Politiker auf der Hand: Beide hatten Deutschland durch eine Serie von zuvor kaum vorstellbaren Kriseen gesteuert. Bei beiden beruhe der nüchterne Pragmatismus auf der Erfahrung eines historischen Bruches (Zweiter Weltkrieg bzw. Zusammenbruch der DDR). Beide Krisenkanzler stünden auf den ersten Blick im Schatten zweier Gründerfiguren: Konrad Adenauer bzw. Helmut Kohl. Ich würde entgegnen: Auch nach dem zweiten Blick stehen sie im Schatten. Ralph Bollmann schreibt, das Urteil über die Krisenmanager hänge von Erfolg oder Misserfolg ab, auch über das Ende ihrer Amtszeit hinaus. Werden die Deutschen dereinst die „Ära Merkel“ zu einer guten alten Zeit verklären, die trotz aller Krisen noch Sicherheit und Kontinuität bot? Oder wird Angela Merkel als Frau gelten, die durch ihre Politik den Niedergang des Westens wenn nicht verursacht, so doch zumindest nicht aufgehalten hat? Ich würde schon heute sagen: den (vorübergehenden?) relativen Niedergang Deutschlands hat sie mit zu verantworten.

Ralph Bollmann sieht zurecht nicht die Flüchtlingsfrage, sondern die Finanzkrise im Jahr 2008 als Wasserscheide ihrer politischen Karriere. Sie wurde zur Krisenkanzlerin. Sie habe in der DDR bereits den Zusammenbruch eines Systems und die Umwälzung ihres gesamten Alltagslebens erfahren und sei auf die Krise daher womöglich besser vorbereitet gewesen als andere Politiker. Im Konflikt um die Ukraine (unter uns: Angriffskrieg von Russland) sei Deutschland die entscheidende Vermittlerfunktion zugekommen. Wirklich? Dann ist dabei nicht viel rausgekommen.

Ralph Bollmann schreibt, Angela Merkel habe ihre Absichten oft deutlicher artikuliert, als Gegner und Bewunderer ihr unterstellten. In Reden und Interviews an entscheidenden Wendepunkten fänden sich präzise Beschreibungen ihrer Pläne und Absichten, was wegen des spröden Tons ihres Vortrags oft überhört worden sei.

Bei Abschluss seines Manuskriptes kam der Autor zur Feststellung, dass viele Bücher zu Merkel veröffentlicht worden seien, im Ausland sogar noch mehr als in Deutschland. Allerdings seien darunter in deutscher Sprache nur vier klassische Biografien, die letzte davon sei 2005 erschienen. Am Ende ihrer Amtszeit sieht er die Zeit reif für einen vollständigen Abriss ihrer Lebensgeschichte.

Hubertus Knabe kommt bei Ralph Bollmann anders als bei Ursula Weidenfeld mit seinen kritischen Worten zur Stellung von Angela Merkel zur DDR nicht vor, ebensowenig der Satz von Merkel vom September 1989: „Wenn wir die DDR reformieren, dann nicht im bundesrepublikanischen Sinne„.

Hans-Jörg Osten, Merkels ehemaliger Kollege am Zentralinstitut für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften, hat Merkel als Teil einer rührigen FDJ-Leitung, als Sekretärin für Agitation und Propaganda in Erinnerung, die sich für die von Gorbatschow eingeleiteten Reformen in der Sowjetunion begeisterte (Ralph Georg Reuth im Sammelband von Plickert). Ralph Bollmann schreibt dazu: „Dass [Hans-Jörg] Osten in der DDR dem System näher stand als sie selbst, darüber war sich Merkel im Klaren: Er war nicht nur ihr Vorgesetzter bei der FDJ, er gehörte auch der SED an und versuchte einmal vergeblich, die Kollegin für eine Parteimitgliedschaft zu gewinnen. Als sie sich Bedenkzeit erbat, kam er allerdings nie wieder auf die Sache zurück.“ Ich würde sagen, die eine Einschätzung schliesst die andere nicht aus.

Ralph Bollmann schreibt zudem, dass 2013 rauskam, dass Hans-Jörg Osten als «IM Einstein» Berichte für die Stasi geschrieben hatte. Die Verpflichtungserklärung hatte der Wissenschaftler im Zusammenhang mit einem Forschungsaufenthalt unterschrieben, den er 1984 in Chicago absolvieren durfte. Informationen über Merkel lieferte er offenbar nicht. Nach der Wende beschwerte sich Osten öffentlich über den Tonfall, in dem Merkel nun über ihre alten Freunde sprach, wenn sie etwa sagte: Die waren alle exotisch links. Bollmann erwähnt ebenfalls, wie Osten sich «an [Merkels] Begeisterung für die durch Gorbatschow eingeleiteten Reformen in der Sowjetunion» erinnerte. Aus dem engeren Kreis ihrer Freunde und Kollegen wirklich verraten worden sei die Doktorandin nach heutigem Kenntnisstand nur von Frank Schneider, der zeitweise ihr direkter Büronachbar war und als «IM Bachmann» eifrig Berichte lieferte. Seinen Führungsoffizier liess Schneider wissen, Angela stehe «unserem Staat sehr kritisch gegenüber». Sie habe «Kontakte zu Kreisen aus dem Prenzlauer Berg, die wenig mit der Politik unseres Staates gemeinsam haben». Zudem berichtete der Spitzel über Merkels Liebe zur russischen Kultur und ihre Abneigung gegenüber der politischen Führungsrolle der Sowjetunion. Hans-Jörg Osten schrieb zudem: «Seit ihrer Gründung war sie begeistert einverstanden mit Forderungen und den Aktionen der Solidarność in Polen.» Schneider berichtete auch über Merkels Besuche bei der Witwe des Dissidenten Robert Havemann. Dabei musste Merkel wissen, dass die Dame unter Beobachtung stand.

In seiner Bilanz schreibt Ralph Bollmann, Angela Merkel sei als eine Kanzlerin der Veränderung angetreten, sie sei eine Kanzlerin des Bewahrens geworden. Sie habe schnell begriffen, wie wenig die Bewohner der westlichen Welt auf das Neue eingestellt gewesen seien. Sie habe den Westen Deutschlands und Europas à jour bringen wolleb, auf Augenhöhe mit den flinken und lebensdurstigen Menschen zwischen Posen, Shenzen und Jakarta, ohne autoritären Machthabern in Moskau oder Peking zu viele Zugeständnisse zu machen.

Wie bitte? Bin ich im falschen Film? Merkel und die Digitalisierung? Merkel und die Braunkohle? Merkel und Atomendlager? Merkel, die kurz vor der Wahl in der Türkei als Steigbügelhalterin zu Erdogan pilgert, damit dieser die Migrationswelle stoppt, während dem sie sich noch als Retterin der Migranten feiern lässt? Immerhin bemerkt Bollmann, dass Merkel mit der Türkei-Politik ihrer Vorgänger brach. Doch ich konnte keinen Hinweis im Buch darauf finden, dass Merkel kurz vor der Wahl zu Erdogan reiste und ihm so bei der Wahl half. Sie tat das wohl aus Kalkül, denn vor der Wahl brauchte er sie ebenso wie sie ihn.

Ralph Bollmann räumt ein, dass Merkel an ihrem eigenen Massstab ihrer Anfänge gemessen gescheitert ist. Er meint, das habe nicht so sehr daran gelegen, dass ihr Reformprogramm schon vor ihrem Amtsantritt an deutschen Befindlichkeiten zerschellte, sondern an der Weltlage. Aha?! Die Welt, die sie eigentlich verändern wollte, sei so sehr ins Rutschen geraten, dass das Bewahren zur ersten Politikerinnenpflicht avanciert sei. Sie musste sich an der Stabilisierung des Alten versuchen. Merz und Sarkozy seien zu sehr in den Bahnen des vertrauten Denkens gefangen gewesen, um sich auf die neue Weltlage wirklich einstellen zu können. Kurz und Macron habe die Lebenserfahrung gefehlt, um in allerletzter Konsequenz zu durchdringen, was auf dem Spiel gestanden habe.

Für Bollmann hat Merkel versucht, die politische Mitte zu besetzen und dort eine Art kultureller Hegemonie zu erreichen. Eine ihrer grössten Leistungen sei es gewesen sich von Helmut Kohl als Generalsekretärin in der Spendenaffäre abzugrenzen, wodurch der deutschen Christdemokratie das Schicksal der italienischen Schwesterpartei erspart geblieben sei. In diesem Punkt stimme ich dem Autor bei. Ansonsten ist meine Einschätzung eine ganz andere, z.B. bereits 2015.

Der Umbau des Steuer- und Sozialsystems, mit dem Merkel einst in den Wahlkampf zog, sei bei der Bevölkerung schlecht angekommen. Deshalb habe sie darauf die Konsequenz gezogen, umso entschlossener den Konsens zu suchen, obwohl sich viele in der Partei mehr Polarisierung wünschten („asymmetrische Demobilisierung“). Kritiker sahen darin eine Verbannung des Meinungsstreites aus der politischen Mitte, eine Stärkung extremistischer Kräfte. Ralph Bollmann schreibt dazu vorsichtig, dass spätestens der Einzug der AfD in den Bundestag diesen Eindruck zu bestätigen schien.

Bezüglich der Aussetzung der Wehrpfllicht und dem Ausstieg aus der Atomkraft sei Merkel vorgeworfen worden, konservative Positionen über Bord zu werfen. Ein beiden Fällen sei sie allerdings mehr Gebriebene als den Kurswechsel aktiv Einleitende gewesen. Bei der Wehrpflicht habe Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg die Initiative übernommen. Beim Atomthema hätten die süddeutschen Ministerpräsidenten sich durch ihr forsches Eintreten für diese Energieform selbst in eine missliche Lage gebracht. Merkels Fehler habe darin bestanden, aus rein taktischen Gründen den rot-grünen Atomkompromiss gekappt zu haben. Das Hin und Her habe den Eindruck von Planlosigkeit bestärkt. Ich hätte hier angefügt, dass die Physikerin von der Sicherheit der Atomkraft überzeugt war. Fukushima führte zu einem Umdenken, wohl nicht zuletzt, weil sie an die nächste Wahl dachte.

Im Zusammenhang mit der Finanz- und Staatschuldenkrise schreibt Ralph Bollmann, dass dadurch Deutschland und damit Merkel in die nie angestrebte Rolle des Halbhegemons über den Kontinent kam – zu stark, um die Balance zwischen den grossen Mitgliedstaaten zu wahren, aber zu schwach, um aus eigener Kraft den Zusammenhalt zu sichern. Es habe eine Weile gedauert, bis Merkel die Verantwortung, die sich daraus ergab, wirklich akzeptiert habe. Der Versuch, die Wettbewerbsfähigkeit der krisengebeutelten Länder zu erhöhen, sei auf halbem Weg stecken geblieben.

Für Bollmann genoss Merkel zuletzt durch ihr spezielles Charisma, ihre sachliche, ruhige, unaufgeregte Art Ansehen und Einfluss. Sie wurde zur Antipodin sowohl der Autokraten wie auch der Populisten im westlichen Lager.

Laut Bollmann bewunderte (Vergangenheit?) Merkel die ökonomische Dynamik, den technologischen Fortschrittsgeist der Chinesen, bei aller Abneigung gegen das autoritäre Einparteiensystem. Sie war davon überzeugt, dass sich der Westen in dieser Systemkonkurrenz nur behaupten würde, wenn er sich nicht in satter Bequemlichkeit zurücklehnte oder in inneren Konflikten aufrieb. Ihre Zweifel, ob die westlichen Gesellschaften dazu in der Lage wären, wuchsen im Lauf der Amtszeit, so unser Autor.

Unser Autor merkt kritisch an, Angela Merkels Realitätssinn sei schon immer ausgeprägter gewesen als ihr Möglichkeitssinn. Dieser Effekt habe sich mit wachsender Zahl an Amtsjahren verstärkt. Einen Reformstau hinterlasse sie in vielen Bereichen. Hier erwähnt Bollmann u.a. die Digitalisierung, die Altenpflege sowie eine Mischung aus Überbürokratisierung und Anarchie, wie man sie früher eher aus Italien kannte. Ich würde hier u.a. noch den Niedriglohnsektor, die Renten, die Infrastruktur, das fehlende Risikokapital und die Steuerlast anfügen. Bollman meint, einiges deute darauf hin, dass sich viele Menschen bald nach der Stablität unter Merkel zurücksehnen werden. Er sieht in der Kontinuität – 16 Jahre Merkel in unruhigen Zeiten – einen Wert an sich. Dem würde ich widersprechen.

Dies sind nur ganz wenige Angaben aus einem 800-seitigen Buch, das Pflichtlektüre zu Angela Merkel ist, auch wenn ich manche Urteile des Autors nicht teile. Für mich ist Deutschland heute in vielerlei Hinsicht wieder ein Sanierungsfall. Das hat nicht nur, aber auch mit einer Kanzlerin zu tun, die vor allem eine Machtpolitikerin war, der es an Gestaltungswillen mangelte. Krisen hat Mutti nicht als Chancen zur Erneuerung genutzt.

Ralph Bollman: Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Zeit. Biografie. Verlag C.H. Beck, 801 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Siehe zudem von Ralph Bollmann: Die Deutsche: Angela Merkel und wir. Klett-Cotta, 2. Aufl. 2013, 224 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Ebenfalls aus dem Hause der Frankfurter Allgemeinen Zeitung stammt Philip Plickert, der den Sammelband Merkel. Die kritische Bilanz von 16 Jahren Kanzlerschaft herausgegeben hat.

Relativ neu ist zudem das Buch Die Kanzlerin. Porträt einer Epoche von Ursula Weidenfeld.

Zitate und Teilzitate in dieser Buchkritik / Rezension von Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Zeit. Biografie sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Rezension / Buchkritik vom 26. Januar 2022 um 14:55 deutscher Zeit.