Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine

Apr 20, 2019 at 20:45 2075

Die Ukraine wählt heute mit grosser Wahrscheinlichkeit einen Komiker zum neuen Präsidenten. Da ist ein Blick zurück in ein düsteres Kapitel der Geschichte des Landes angebracht.

2017 veröffentlichte die in Warschau lebende und mit Polens ehemaligen Aussenminister Radek Sikorski verheiratetete amerikanische Historikerin und Journalistin Anne Applebaum das Buch Red Famine. Stalin’s War on Ukraine (Doubleday, New York; die englische Paperbackausgabe bestellen bei Amazon.co.uk, Amazon.com). 2019 ist nun die deutsche Ausgabe unter dem Titel Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine erschienen (dt. Ausgabe, Siedler, 543 Seiten, bestellen bei Amazon.de).

Laut Anne Applebaum liess Stalin 1932 und 1933 über 3 Millionen Ukrainer den erzwungenen Hungertod sterben. Dieser sogenannte Holodomor (zusammengesetzt aus den ukrainischen Wörtern holod (Hunger) und mor (Tod) ist ausserhalb Osteuropas leider nach wie vor wenig bekannt.

Es war ein Mord mit Ansage. Bereits im Frühjahr 1932 hungerten in den sowjetischen Getreideanbaugebieten in der Ukraine, im Nordkaukasus, der Wolgaregion und in Westsibieren die Menschen. Berichte der Geheimpolizei sowie Briefe aus den betroffenen Regionen erwähnten Kinder mit vor Hunger geschwollenen Bäuchen, Famijlien die Gras und Eicheln assen sowie Bauern, die ihr Zuhause auf der Suche nach Lebensmitteln verlassen mussten. Im März 1932 fand eine Ärztekommission in einem Dorf bei Odessa Leichen auf der Strasse. Manche schrieben Stalin direkt an und fragten wie sie, die Kolochosearbeiter, eine sozialistische Volkswirtschaft aufbauen sollten, wenn sie zum Hungertod verurteilt seien. Ein anderer von Applebaum zitierter Brief erwähnt zehn bis zwanzig Familien, die in den Dörfern täglich verhungerten, wobei dafür nicht das Sowjetregime, sondern die längst entmachtete Bourgeoisie verantwortlich gemacht wurde. Die Hungersnot sei ein kapitalistischer Plan der Bourgeoisie, den gesamten Bauernstand gegen die Sowjetregierung aufzuhetzen.

In Tat und Wahrheit war die Hungersnot die Folge der sowjetischen Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Die reichen Bauern (Kulaken) wurden von ihren Ländereien vertrieben, die einfachen Landarbeiter sollten fortan in kollektivistischen Kolchosen arbeiten. Die von Stalin angeordnete Politik führte ins Chaos, zu Hungersnöten, die durch die erwähnten Berichte Anfang 1932 dokumentiert sind.

Wie 1921 hätte das Sowjetregime um internationale Hilfe bitten können, stattdessen verschärfte es im Herbst 1932 die Agrarpolitik. So wurde die Hungersnot in den ländlichen Regionen der Ukraine ausgeweitet und verschärft. Auf dem Höhepunkt der Krise beschlagnahmten Polizei und Aktivisten der Kommunistischen Partei, angestachelt durch Jahre der Hasspropaganda und Verschwörungsrhetorik, alles Essbare sowie Vieh und Haustiere der ukrainischen Bauern.

Zwischen 1931 und 1934 verhungerten laut Applebaum deshalb in der gesamten Sowjetunion mindestens 5 Millionen Menschen, darunter über 3,9 Millionen Ukrainer. Der Holodomor war Teil einer grösseren Hungersnot in der Sowjetunion (so in Kasachstan, wo weiterführende Studien noch nötig sind), doch mit eigenen Ursachen und Merkmalen, darunter Dekreten, die sich einzig auf die Ukraine bezogen, die Schliessung der ukrainischen Grenze, etc.

Gleichzeitig mit der Hungersnot 1932/33 attackierte die sowjetische Geheimpolizei die intellektuelle und politische Elite der Ukraine. Alle, die mit der ab Juni 1917 nur einige Monate lang existierenden unabhängigen Ukrainischen Volksrepublik irgendwie verbundenen gewesen waren, alle, die sich für die ukrainische Sprache und/oder Geschichte einsetzten, alles unabhängigen Geister (Wissenschaftler, Künstler, etc.) riskierten das Ende ihrer Karriere, Verhaftung, Verbannung in Arbeitslager und gar die Exekution.

Der Holodomor im Winter und Frühjahr 1932/33 sowie die Unterdrückung der intellektuellen und politischen Klasse der Ukraine diente dem Zweck der Sowjetisierung, der Zerstörung des ukrainischen Nationalbewusstseins, der Zerschlagung jeder ukrainischer Infragestellung der sowjetischen Einheit.

Der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin, der den Ausdruck Genozid prägte, nannte die Vorgänge in der Ukraine jener Jahre ein «klassisches Beispiel» seines Konzepts: «Es ist ein Fall von Genozid, von Vernichtung, nicht nur von Einzelnen, sondern von einer Kultur und einer Nation.» Am Ende des Buches geht Anne Applebaum gezielt der Frage nach, ob der Holodomor nun ein Genozid war oder nicht. Dabei kommt sie zum Schluss, dass der Holodomor nicht gemäss UNO-Definition ein Völkermord war, weil die Hungersnot nicht der Versuch war, alle Ukrainer zu vernichten.

Doch zuerst widmet sich die Historikerin der Frage, was in der Ukraine zwischen 1917 und 1934 geschah, wobei die Ereignisse von 1932/33 im Zentrum stehen. Wie kam es zur Hungersnot (Ereignisse und Mentalität)? Wer war verantwortlich? Welchen Stellenwert hat die Hungersnot in der Geschichte der Ukraine und der ukrainischen Nationalbewegung?

Anne Applebaum widmet Kapitel der ukrainischen Frage, der Revolution von 1917, der Revoltion von 1917, dem Hunger und Waffenstillstand der 1920er Jahre, der Doppelkrise von 1927-29, der Kollektivierung und der darauffolgenden Rebellion, dem Scheitern der Kollektivierung 1931/32, den Hungerbeschlüssen von 1932, der Hungersnot im Frühjahr und Sommer 1933 sowie den Nachwirkungen, der Vertuschung, dem Holodomor in Geschichte und Politik, der Wiederaufnahme der ukrainischen Frage mit dem Ende der Sowjetunion. In einem Kapitel beschreibt Anne Applebaum eindringlich, wie sich der Hunger auf die Menschen auswirkte, wie sie starben, wie sich Wut und Gleichgültigkeit ausbreiteten, wie Leute zu Dieben und Mördern bzw. in den Wahnsinn getrieben wurden.

Bis 1991 leugnete die Sowjetführung, dass es in der Ukraine überhaupt eine Hungersnot gegeben hatte. Lokale Archive wurden zerstört. Totenscheine durften Unterernährung nicht erwähnen. Sogar öffentliche zugängliche Volkszählungsdaten wurden verschleiert. Die Ukraine wurde russifiziert.

Erst seit dem Zerfall der Sowjetunion und der Schaffung eines unabhängigen ukrainischen Staates wird der Holodomor von Historikern erforscht. Anne Applebaum erwähnt über ein Dutzend Forscher, die das Thema umfassend untersucht haben, wobei das Harvard Ukrainian Research Institute mit vielen zusammengearbeitet hat, um ihre Arbeiten zu veröffentlichen und zu verbreiten. Zudem erwähnt die Autorin das Holodomor Research and Education Consortium in Toronto, das mit ukrainischen Forschern sowie mit ihr zusammenarbeitet. Neue Archivunterlagen, Augenzeugenberichte und Forschungsergebnisse flossen in ihr Buch Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine ein.

Die deutsche Version des Buches mit 543 Seiten ist 2019 erschienen im Siedler Verlag. Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine bestellen bei Amazon.de. Die englische Originalausgabe aus dem Jahr 2017, Red Famine. Stalin’s War on Ukraine (Doubleday, New York). Die Paperback Version bestellen bei Amazon.co.uk, Amazon.com.

Artikel vom 20. April 2019. Hinzugefügt um 20:45 Berliner Zeit.