Sibelius. Die Biografie von Volker Tarnow

Dez 08, 2015 at 17:34 1691

Zum 150. Geburtstag von Jean Sibelius

Buchkritik / Rezension

Vor 150. Jahren wurde der finnische Komponist Jean Sibelius geboren. Dies war der Anlass für Volker Tarnow, eine leserfreundliche, gut informierte Biografie zu schreiben, auf der dieser weitgehend Artikel beruht. Der Autor schildert nicht nur die Entstehung der Werke von Sibelius, erläutert deren Form und Inhalt, sondern deckt zugleich das familiäre, musikhistorische, kulturelle und politische Umfeld des Komponisten und seiner Zeit ab. Mit Vorurteilen und Klischees vom finnischen Nationaldichter räumt er auf.

Die Biografie genügt wissenschaftlichen Ansprüchen und bleibt dabei unterhaltsam und leicht zu lesen. Das gelingt nur sehr wenigen Autoren. Die rund 270 Seiten reiner Text bieten eine geballte Dosis Information.

Dem Kritiker und Musikjournalisten Volker Tarnow ist ein grosser Wurf mit scharfem Urteil gelungen. Auch wer ihm nicht immer zustimmt, wird seinen Sibelius mit Gewinn lesen. Es ist ein Referenzwerk, das unter anderem auf dem Tagebuch des Komponisten und anderen – bisher in deutscher Sprache nicht oder kaum erschlossenen – Quellen beruht.

Die Jean Sibelius-Biografie von Volker Tarnow

Am 8. Dezember 1865 erblickte Jean Sibelius das Licht der Welt in der finnischen Provinz. Die Garnisonsstadt Tavastehus mit ihren rund 3000 Einwohnern war damals bedeutungslos.

Jean Sibelius entstammte der schwedischsprachigen Minderheit Finnlands, das wiederum – bis zur Unabhängigkeit 1917 – zum russischen Reich gehörte. Der Komponist sprach zuhause Schwedisch. Finnisch war seine erste Fremdsprache. Nichts deutete darauf hin, dass „Janne“ das berühmteste finnische Musikstück, Der Schwan von Tuonela, schreiben, zum finnischen Nationalkomponisten aufsteigen und die sinfonische Dichtung Finlandia komponieren würde, die an der Pariser Weltausstellung 1900 von einem Orchester aus Helsingfors (heute als Helsinki bekannt) gespielt, einem internationalen Publikum erstmals Finnisches präsentieren würde.

Der Vater des Künstlers, Christian Gustaf Sibelius, schrieb einst eine zukunftsweisende Dissertation über gynäkologische Fachfragen, um dann als  Militärarzt in der Provinz zu landen. Er war ein galanter Lebemann, Kleinstadtkavalier und Jäger, der über seine Verhältnisse lebte und zu sehr dem Alkohol und dem Tabak zugetan war. Er eroberte die begehrteste junge Dame von Tavastehus, Maria Borg. Als Leiter des örtlichen Fieberlazaretts tat er bis zum Ausbruch der Typhusepidemie des Jahres 1868, deren Opfer er wurde, pflichtbewusst seinen Dienst. Er verstarb mit 47. Jean war damals noch keine drei Jahre alt, weshalb er seinen Vater kaum kennenlernen konnte. Janne erinnerte sich nur an seinen starken Zigarrenduft. Diese Erinnerung pflegte er bis zu seinem eigenen Tod durch schwelgerischen, masslosen Nikotinkonsum, wie Volker Tarnow vermerkt.

Die Mutter meldete nach dem Tod ihres Gatten umgehend Konkurs an. Sie musste drei Kinder versorgen – das dritte war gerade unterwegs – und kehrte daher zu ihrer Mutter, einer Propstwitwe zurück.

Die Familie war musikalisch. Zu den Verwandten gehörten zum Beispiel Axel Gabriel Ingelius, der 1847 die erste finnische Sinfonie schrieb, Jeans Musiklehrer Martin Wegelius sowie die ersten international erfolgreichen finnischen Opernsänger, Kim Borg (Bass) und Aino Ackté (Sopran).

Onkel Pehr, der Bruder seines Vaters, vererbte Jean eine Stainer-Geige, auf welcher der Junge stundenlang übte. Da er jedoch erst mit 14 bei einem Militärmusiker ernsthaft unterricht nahm, war es für ihn zu spät für eine Solistenkarriere. Noch früher hatte er mit dem Klavier begonnen. Seine Mutter gab ihm die ersten Stunden. Dem um einen Drittelton zu tief  gestimmten Mietklavier sei eines der markantesten Merkmale von Sibelius‘ kompositorischen Stils zu verdanken: Die Meisterschaft der tiefen Register. Doch vom Klavier verabschiedete sich der Junge, als er bei einer Tante Unterricht bekam, die ihn bei Fehlern mit einer Stricknadel tracktierte.

Erst 1982 wurde das Bild von Jean Sibelius als Spätentwickler, der mit 27 Jahren plötzlich die Kullervo-Sinfonie in die Welt hinausschleuderte, widerlegt. In jenem Jahr erhielt die Universität Helsinki von der Sibelius Handschriften des Komponisten geschenkt. Er spielte mit seiner Schwester Linda vierhändig Klavier, Geige in einem Amateurquartett (Haydn, Schubert und Mendelssohn) und komponierte mit 16 ein Stück namens Luftschlösser, wobei ein noch älteres namens Wassertropfen nicht datierbar ist. Zudem begann er die deutsche Lehre der musikalischen Komposition von Adolf Bernhard Marx studieren, der darin das Studium des Volksliedes empfahl, nicht zum Zwecke der Nachahmung, sondern um sich mit der musikalischen Überlieferung bekannt zu machen, deren tiefste Quelle die Volksseele sei – nicht etwa die Kirche, der aristokratische Hof oder die Stube des Gelehrten. Laut Volker Tarnow wurde das 50 Jahre alte Buch von Marx zum wichtigsten musikalischen Wegweiser für den jungen Sibelius, da in Tavastehus Opernhaus, Konzertgesellschaft, Museum und Bibliothek fehlten. Helsingfors lag mit 100 km zu weit entfernt und verfügte damals ohnehin weder über eine Musikhochschule noch ein Konservatorium.

1883 schrieb Jean Sibelius ein Trio g-Moll für zwei Violinen und Klavier, ein unvollendetes Klaviertrio sowie 1984 eine Violinsonate in a-Moll, die von einer Violinsonate von Schubert inspiriert war. In jenem Jahr folgte noch ein Klaviertrio a-Moll, in dem sich Jean Sibelius laut Volker Tarnow mit 18 als begnadeter Melodiker zeigte, mit dem ihm mühelos das Entree in die Welt der klassischen Kammermusik gelungen sei. Sein bis dahin ambitioniertestes Werk sei jedoch das Klavierquartett d-Moll vom August 1884 gewesen. Im folgenden Jahr komponierte er ein Es-Dur Quartett. Keinem dieser frühen Werke sei anzuhören, dass sie von einem jungen Mann stammten, der weder vernünftige Lehrer noch musikalische Vorbilder kannte und in dessen Umgebung es nur eine einzige Sensation gab, nämlich ihn selbst.

Nach dem unerwarteten Bestehen des Abiturs 1885 ging Janne nach Helsingfors zum Jurastudium. Gleichzeitig meldete er sich in drei Jahre zuvor gegründeten Musikinstitut an. Die Professoren sahen in ihm das junge Talent, auf das sie gewartet hatten, Finnlands Komponisten der Zukunft. Der Gründungsdirektor des Instituts, Martin Wegelius, entwickelte ein fast freundschaftliches Verhältnis zu Sibelius und veröffentlichte gleich ein Werk des jungen Mannes, eine Serenade die als Teil einer Liedersammlung erschien. Leider komponierte der Lehrer selbst, vor allem patriotische Gesänge und Märsche von dürftiger Qualität, was Sibelius sofort erkannte und was zu einigen Empfindlichkeiten führte.

Wegelius war ein Wagnerianer. Ganz anders Sibelius. Die polemische Distanz zu Richard Wagner bewahrte ihn davor, ins Epigonentum zu verfallen, das zahllose Komponisten seiner Generation nur mühsam überwinden konnten. Wer dem Zukunftsmusiker Wagner entkam, dem drohte noch die rückwärtige Gefahr: Brahms. Doch Jean Sibelius ging seinen eigenen Weg. Sein Personalstil wurde zum finnischen Nationalstil, wie es bei Elgar und dem englischen Stil geschah, wobei es in beiden Fällen durchaus Vorläufer gab, die jedoch von den neuen Sternen zur Bedeutungslosigkeit verdammt wurden. So geschah es mit Robert Kajanus in Finnland, der vom neun Jahre jüngeren Sibelius ins Abseits gedrängt wurde. Allerdings beeindruckten die Werke von Kajanus Sibelius in keiner Weise. Kajanus stand unter Wagners Einfluss. Zudem vergötterte Kajanus den berüchtigten Tonsetzer Johan Svendsen. Sibelius hingegen konnte sich für diese Spielart finnischer Folklore ebenfalls nicht erwärmen.

Kajanus und Wegelius wurden väterliche Förderer von Sibelius, wobei der junge Mann seinen eigenen Weg ging. Gleichzeitig schlug er seinem Vater als Lebemann nach, feierte ausgiebig mit viel Alkohol und Frauen, zu denen auch Prostituierte gehörten. Zu den Kompositionen jener frühen Jahre gehörte denn auch das Lied Orgien, in dem sich Sibelius unverkennbar an eine Dame aus anderen Kreisen wendet, so Volker Tarnow.

Zu den wichtigsten Menschen, die Jean Sibelius begegneten und ohne die er nicht in die Musikgeschichte eingegangen wäre, gehörte Ferruccio Busoni. Der in der Toskana geborene Sohn eines korsischen Klarinettisten und einer österreichischen Pianistin kam 188 als Klavierlehrer ans Musikinstitut in Helsingfors. Sein künstlerischer Enthusiasmus, sein weitreichender Aktivismus, seine Ideen und seine bohemienhafte Lebensart hätten Sibelius die stärksten Anregungen gegeben. Aufgewachsen in Triest, ausgebildet in Wien und Leipzig, gut bekannt mit Brahms und Mahler endete Ferruccio Busoni in der Provinz von Helsingfors. Vor seiner sofortigen Abreise hinderten ihn nur die Mitglieder der jungen Künstlergruppe die Leskoviter. Sie benannten sich nach Busonis Neufundländer Lesko und bescherten den hauptstädtischen Lokalen hohe Einnahmen. Am liebsten trafen sie sich im Hotelrestaurant Kämp. Zum Kreis gehörten neben dem Vorsitzenden Busoni und Sibelius die Brüder Arvid und Armas Järnefelt, eine angehender Schriftsteller und ein angehender Klavierschüler am Musikinstitut, sowie Adolf Paul, der bald von Musik auf Literatur umsattelte. In jener Zeit benutzte Sibelius die Visitenkarten eines Onkels, der als Kapitän zur See gefahren war und sich deshalb den international geläufigen Vornamen Jean zugelegt hatte. So wurde aus Janne der Komponist Jean Sibelius.

Durch den Kreis der Leskoviter fand er zudem seine Frau, Aino Järnefelt, die wie ihre Brüder für die Kunst bestimmt war, Klavier spielte und Sprachtalent besass. Durch die Heirat mit Sibelius wurde die zart besaitete Aino schwer geprüft. Ihr Leben nahm eine Wendung ins Robuste und Depressive. Ihr Ehemann mutete er viel zu. Ihre Liebe liess sie viel ertragen, doch erst am Ende habe Sibelius verstanden, dass ihm ein grösseres Glück im Leben nicht hätte begegnen können.

Die Freundschaft zwischen Busoni und Sibelius hielt dreissig Jahre, bis zum Tod Busonis 1924. Damals versank der Finne in Depressionen und schrieb, der Alkohol sei doch der einzige Freund, der einen nie verlasse. Als Freund verliess Busoni Sibelius nie, vermittelte unschätzbare Kontakte zu Dirigenten und Verlegern und vermittelte den ersten Berliner Auftritt des Finnen. Sibelius seinerseits nahm Busoni als Komponisten überhaupt nicht zur Kenntnis.

Der Werdegang von Jean Sibelius kann hier nicht im Detail nachgezeichnet werden. Volker Tarnow erklärt die Bedeutung des Kultbuches Kalevala des Arztes Elias Lönnrot von 1835. Das Epos wurde aus Volksliedern zusammengestellt und bildete eine unermessliche Inspirationsquelle für Jean Sibelius.

Dazu gehört die Legende des unglückseligen Viehhüters Kullervo, die der Komponist in seinem gleichnamigen Werk vertont hat. Dabei setzte er auf die Innovationskraft des Uralten. Einzig in Modest Mussorgski sieht Volker Tarnow einen Vorläufer, der jedoch Sibelius damals nicht bekannt war und die neuen Methoden nicht so konsequent anwandte. Die archaische Wirkung des Kullervo beruht auf drei stilistischen Kunstgriffen: Die Verwendung von Kirchentonarten, Quartenharmonik und 5/4-Metren. Volker Tarnow erläutert alle Elemente im Detail und weist auf die Probleme der Musiker noch um 1900 hin, die nicht wussten, wie sie mit dem 5/4-Metrum umgehen sollten.

Die Uraufführung des Werkes im April 1892 brachte dem nur über minimale Dirigiererfahrung verfügenden Sibelius den künstlerischen Durchbruch in Finnland.

Volker Tarnow bespricht in seiner Biografie natürlich fast alle Werke von Jean Sibelius im Detail, geht auf die Reisen des Komponisten ebenso ein wie auf seinen schwierigen Charakter; Jean Sibelius stiess immer wieder Leute vor den Kopf die ihm halfen, sah überall Gegner am Werk, was seinen Erfolgsweg erschwerte, und ruinierte mit Alkohol seine Gesundheit und die Beziehung zu seiner Frau. In Finnland wurde der Schwedischsprachige zum Nationalkomponisten. Die grössten Erfolge in der Welt feierte er in England (so durch Stokowski, Beecham und Barbirolli) und in den USA (schon relativ früh und später durch Bernstein, Ormandy und Szell).

Volker Tarnow streicht die Bedeutung von Jean Sibelius als Erneuerer der Sinfonie hervor, so in der Vierten in a-Moll, was ihre Form, Harmonik und den Ausdrucksgehalt betrifft. Die Erste beschreibt er als pathetische, die Zweite als heroische (Monismus der Idee), die Dritte als pastorale, die Vierte als tragische, die Fünfte als kosmische und die Sechste als die schönste, klarste und beglückendste Sinfonie. Die Siebte sei so kurz und komplex wie keine andere, geprägt von formaler Verdichtung und Einheit des Mannigfaltigen. Die Achte schliesslich blieb unvollendet und wurde zusammen mit anderen Papieren ein Opfer des Feuers. Danach sei der Komponist sehr erleichtert gewesen, ist von Aino Sibelius überliefert.

Jean Sibelius starb am 20. September 1957 in Ainola, wo er seit 1941 definitiv mit seiner Frau lebte. Über die letzten Jahre ist wenig von ihm selbst bekannt. Da ab 1923 die Tagebücher dünn werden und schliesslich fehlen, wird darüber viel spekuliert.

Volker Tarnow leuchtet das Leben und Werk von Jean Sibelius hervorragend aus und vergisst das Umfeld nicht. Oben sind nur wenige Aspekte und Namen herausgegriffen. Es gäbe noch viel zu erwähnen: Russland, die Weltkriege, Missverständnisse in der Rezeption, Finanzprobleme… Lesenswert!

Volker Tarnow: Sibelius. Biografie. Henschel / Bärenreiter, 2015, 288 Seiten. Die Jean Sibelius-Biografie von Volker Tarnow bestellen bei Amazon.de. Das Buch ist die Quelle für diesen Artikel.

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Sibelius Edition. Deutsche Grammophon, 2015. Die Aufnahmen entstanden zwischen 1957 und 2004. Die 14-CD-Box bestellen bei Amazon.deAmazon.co.ukAmazon.fr und Amazon.com.