In ihrem Buch Das Russland- Netzwerk. Wie ich zur Russlandversteherin wurde und warum ich es heute nicht mehr sein kann unterstreicht Susanne Spahn, der Erfolg der russischen Propaganda beruhe nicht nur auf dem rasanten Aufstieg von RT und dem Nachrichtenportal Sputnik und ihrer Verzerrung der Realität, um die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu beeinflussen, sondern Russland habe über Jahre hinweg ein Netzwerk von Journalisten, Politikern, Aktivisten von extrem rechts bis links, Verschwörungsideologen, bis weit hinein in die etablierten Medien, Parteien und Wirtschaft in Deutschland aufgebaut.
Susanne Spahn: Das Russland-Netzwerk. Wie ich zur Russlandversteherin wurde und warum ich es heute nicht mehr sein kann. Fazit Communication GmbH Frankfurter Allgemeine Buch, Oktober 2024, 288 Seiten, ISBN-13: 978-396251204. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und das Buch bestellen bei Amazon.de.
Dem Netzwerk sei es zu verdanken, dass das Verständnis für Russland und die Putin-Führung in Deutschland so weit gediehen sei, dass ihr lange alles nachgesehen wurde: der Georgien-Krieg, die Annexion der Krim, die Intervention im Donbas, die Militärhilfe für den syrischen Diktator Assad oder die Ermordung politischer Gegner wie etwa im Berliner Tiergarten.
Susanne Spahn hält fest, dass Deutschland bis 2022 mehr als die Hälfe seines Bedarfs an Gas und einen Grossteil an Erdöl aus Russland bezogen und dadurch mit Milliarden Euro die Eroberungskriege Putins mitfinanziert hat. Bis zur „Zeitenwende“ im Februar 2022 sei die Aussenpolitik Deutschlands auf Partnerschaf mit Russland ausgerichtet gewesen, wobei die sozialdemokratische Maxime des „Wandels durch Annäherung“, die der Ostpolitik von Kanzler Willy Brandt in den 70er-Jahren zugrunde lag, in neue Formeln gekleidet wurde: Von „strategischer Partnerschaf“ und „Modernisierungspartnerschaf“ sei die Rede gewesen. Dies habe die Entwicklung Russlands zu einer Diktatur, die repressiv gegen Andersdenkende im Inneren und aggressiv gegenüber seinen ausländischen Nachbarn auftrat, missachtet.
Susanne Spahn erwähnt die niederschmetternde Umfrage des Berliner Institutes CeMAS vom November 2022, laut der 40% der Befragten ganz oder teilweise der Aussage zustimmten, dass der russische Angrifskrieg eine alternativlose Reaktion Russlands auf die Provokation der NATO sei.
Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stifung von 2023 zeigte, dass damals rund ein Drittel der deutschen Bevölkerung der Ansicht war, dass „die westliche Welt sich gegen Russland und Putin verschworen“ habe, „um die eigene Macht auszubauen“. Susanne Spahn folgert zurecht, dass diese Umfragen zeigen, dass die russischen Narrative in Deutschland auf fruchtbaren Boden fallen.
Im ersten Teil von Das Russland- Netzwerk zeigt Susanne Spahn am eigenen Beispiel, wie sie unter dem Einfluss von Journalisten und Wirtschaftsvertretern zur Russlandversteherin geworden sei. Erst 2010/11 sei sie „aufgewacht“. Damals wurde sie als freie Korrespondentin in Moskau mit der Realität von Putins „gelenkter Demokratie“ konfrontiert. 2014 habe sie angefangen, kritische Analysen zu den russischen Medien in Deutschland zu schreiben und sei daraufhin selbst zum Ziel der Angriffe von RT, Sputnik und Trollen geworden.
Im zweiten Teil von Das Russland- Netzwerk stellt die Autorin das Netzwerk der Fürsprecher Russlands an einigen Akteuren exemplarisch vor. Diese Akteure seien von Anfang an, als RT und Sputnik 2014 in Deutschland an den Start gingen, als Lobbyisten, Werbe- und Medienpartner dabei gewesen.
Susanne Spahn unterscheidet zwei Gruppen: die russischen staatlichen und staatsnahen Medien und Akteure, und deutsche und russische Akteure mit eigener Motivation, die nicht organisatorisch eingebunden sind, aber die russischen Narrative inhaltlich unterstützen. Wie diese Akteure Russlands Ziele im hybriden Krieg und seine Interessen befördern, zeigt sie in den folgenden Kapiteln.
Susanne Spahn erwähnt die „Gorbi“-Euphorie in den 1980er Jahren in ihrer Heimatstadt Münster. In ihrem altsprachlichen Gymnasium wurde sogar Russisch als Fremdsprache eingeführt. Zu Beginn nahmen 40 Schüler an den Kursen teil, am Schluss blieben nur noch fünf besonders Begeisterte übrig, darunter Susanne Spahn. Sie hatte Sputnik, den Digest der sowjetischen Presse, im Abo und ging regelmässig zum Bahnhof, um sich die Zeitung Iswestija zu kaufen.
1991 durfte die Autorin mit einer Delegation von Schülern aus NRW nach Simferopol auf die Krim reisen – zum Russischkurs. Zu dieser Zeit befand sich auch Gorbatschow auf der Krim – er wurde von Putschisten auf seiner Datscha festgehalten. Davon ahnten die Schüler nichts.
Nach dem Abitur 1992 ging Susanne Spahn nach Russland, wo sie ein soziales Jahr machen wollte. Damals war ihr nicht klar, dass es in Russland kein „soziales Jahr“ wie in Deutschland gibt. Von einer Gastfamilie eingeladen flog sie nach Moskau und wohnte in Iwanowo, 250 Kilometer nordöstlich von Moskau. Ihre Gasteltern wollten ihre Datscha zum Hotel für ausländische Touristen machen. Nachdem sie einige Wochen mit wild wuchernden Sträuchern im dortigen Garten gekämpf hatte, wurde ihr klar, dass ihre Gasteltern von ihrem sozialen Jahr ganz andere Vorstellungen hatten als sie. Also fuhr sie nach St. Petersburg, wo sie ein Mädchen kannte, das sie auf der Krim kennengelernt hatte. Sie und ihre Mutter halfen ihr, ein Zimmer auf der Wassiljewskij-Insel, in der 18. Etage eines Hochhauses, bei einer Freundin der Mutter zu finden
Die Autorin wunderte sich, wie grob und unfreundlich die Leute oft in der Öffentlichkeit auftraten und sich zu Hause völlig anders verhielten: herzlich und gastfreundlich.
An der Staatlichen Universität in St. Petersburg besuchte Susanne Spahn Kurse für die russische Sprache und Kultur. Zudem nahm sie Privatunterricht in Geschichte. Ihren Plan mit dem sozialen Jahr hatte sie noch nicht vergessen. Daher ging sie ins Lenin-Krankenhaus auf der Wassiljewskij-Insel. Nach vielen Versuchen erlaubte ihr die Leitung, dort zu arbeiten. Doch die Krankenschwestern verstanden nicht, warum sie arbeiten wollte, wenn sie nicht Ärztin werden wollte ,dazu noch ohne Bezahlung. Sie könne ein Spion sein, argwöhnte eine Schwester: „Sie wird alles heimlich filmen und dann diese Zustände im Ausland zeigen.“ In der Sowjetunion war der Kontakt zu Ausländern ausserhalb organisierter Treffen unerwünscht. Eine andere Schwester meinte, Susanne Spahn sei bestimmt mit der humanitären Hilfe aus Deutschland geschickt worden. So bekam sie einen Kittel mit der Aufschrift „Krankenhaus Ratzeburg“ aus der Kiste mit den Sachen aus Deutschland. Später erhielt sie den offziellen Titel „Helfer ohne spezielle Ausbildung“. Ihre Erlebnisse notierte sie abends in ihrem Tagebuch, das sie bald auf Russisch führte.
Im April 1993 endeten ihr Studium und ihr Spitaleinsatz jäh, als sie auf dem glatten Eis ausrutschte und sich das Bein brach. Die medizinische Behandlung war damals kostenlos, also fand sie, sie habe keine Ansprüche zu stellen. Leider wurde ihr Fussgelenk nicht gut gerichtet – dreimal wurde Gips draufgepappt und nach dem Röntgen wieder abgenommen für den nächsten Versuch. Seitdem laufe sie mit zwei unterschiedlich langen Beinen umher – was ihrer Russland-Begeisterung aber keinen Abbruch getan habe. Mit dem Zug reiste sie zurück nach Deutschland.
In anderen Worten: Susanne Spahn war russophil. Es dauerte Jahre, bis sie erkannte, wohin Putin das Land führte. In Das Russland-Netzwerk finden sich Kapitel zu den „neuen Russen“, zu falschen Signalen an Moskau, zu Oligarchen, zur scheinbaren Modernisierung des Landes, zu RT und Sputnik in Deutschland, zum hybriden Krieg, zur Krim, zu Syrien, zur Pandemie, die es (laut der Propaganda) nicht gebe, zur grossen Invasion der Ukraine, zu Freien Sachsen für Russen, zur Herkunft des Geldes für den Informationskrieg, zu Keine Waffen für die Ukraine!, zu Präsident Selenskyj „gehorcht wie ein gut dressierter Hund“, zum imperialistischen Fernsehmoderator Wladimir Solowjow und vieles mehr.
Am Ende notiert Susanne Spahn, es wäre ein erster Schritt, die überkommenen Russlandbilder abzulegen und sich ein reales Bild vom heutigen Land zu machen. Ein weiterer Schritt wäre es, Medienkompetenz zu fördern: Zu schauen, wer als Quelle hinter einer Nachricht stehe und wie man Falschnachrichten erkenne. Ihr gefalle der schwedische Weg: Die Gesellschaft Schwedens sei so gut informiert, dass Sputnik sich 2016 selbst einstellte, wegen zu geringen Zulaufs und ganz ohne Verbote. Davon sei Deutschland leider noch weit entfernt, fürchtet die Autorin.
Susanne Spahn: Das Russland-Netzwerk. Wie ich zur Russlandversteherin wurde und warum ich es heute nicht mehr sein kann. Fazit Communication GmbH Frankfurter Allgemeine Buch, Oktober 2024, 288 Seiten, ISBN-13: 978-396251204. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und das Buch bestellen bei Amazon.de.
Susanne Spahn ist Osteuropa-Historikerin, Politologin und Journalistin. Nach dem Studium der osteuropäischen Geschichte, Slawistik und Politikwissenschaft an den Universitäten St. Petersburg und Köln arbeitete sie als Wirtschaftsredakteurin und freie Korrespondentin in Moskau. 2011 folgte die Promotion zur Aussenpolitik Russlands gegenüber der Ukraine und Belarus. Sie hat sechs Studien und zahlreiche Publikationen zu russischen Medien und Desinformation in Deutschland verfasst.
Zitate und Teilzitate in dieser Rezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.
Rezension vom 15. Februar 2025 um 13:11 deutscher Zeit.