Tango: Die Geschichte von Musik und Tanz

Jul 15, 2023 at 22:22 781

[Aus unserem Archiv, vom 15. Dezember 1999] Von Arne Birkenstock, Akkordeonist, freier Autor und Realisator, vor allem für die Kulturredaktionen des WDR, sowie Helena Rüegg, freie Rundfunkautorin und Musikerin, die 1998 ihre Ausbildung als Bandoneonistin am Rotterdamer Konservatorium abgeschlossen hat, stammt eine lesenwerte Einführung in die Geschichte und Kunst des Tango (Tango, dtv premium, 1999, 333 S.; Amazon.de). Das Buch kommt [damals, 1999!] inklusive einer CD, die 21 Titel von Carlos Gardel über Astor Piazzolla bis Osvaldo Pugliese enthält! Der Band enthält Dutzende von nützlichen (Internet-) Adressen zum Thema Tango, von denen wir einige am Ende unseres Artikels ausgewählt haben.

Die Geschichte des La-Plata-Tangos, der von Argentinien wie Uruguay als Nationalerbe beansprucht wird, beginnt in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Zwischen 1880 und 1930 wanderten rund sechs Millionen Europäer an den Río de la Plata aus. In den armen Stadtrand-Quartieren von Buenos Aires (Arrabal), in denen viele von ihnen ein neues zuhause fanden, entstand die neue Musik, die keine politischen oder sozialen Themen behandelte, sondern die Frustrationen und die Hoffnungslosigkeit der Menschen ausdrückte. „Für den Tango existiert kein Volk als abstrakte Einheit oder als Ideal, der Tango kennt nur den Menschen aus Fleisch und Blut“ (José Gobello). Zwischen Mythologie und bitterer Realität bewegen sich die drei Archetypen des Tango und des Arrabal: die aus Europa verschleppte Prostituierte und Bardame, die Milonguita, der Gaucho ohne Pferd und Macho kreolischer oder europäischer Herkunft, der Compadrito, sowie der verlachte (italienische) Einwanderer, der Cocoliche, eine Verballhornung der italienischen Verben cocollare (verhätscheln, verwöhnen) und cocolarsi (sich amüsieren),

Die Wurzeln des Wortes Tango, des Tanzes sowie der Musik sind nach wie vor umstritten. Gemäss Vicente Rossi hat sich der Tanz aus dem afrikanischen Candombe entwickelt. Auch der um 1850 im spanischen Cadiz entstandene Tango Andaluz, der zu den klassischen Flamencoformen gehört, ist Teil der Wurzel und wurde um 1880 im Arrabal gespielt, zusammen mit Milonga, Habanera, Walzer und Mazurka. Das Bandoneón stammt übrigens aus Deutschland, wo die wechseltönige Handharmonika um 1845 entwickelt wurde und sich als Bandonion bald grösster Beliebtheit erfreute. Der erste bekannte Bandoneonlehrer war Sebastián Ramos Mejía, genannt „El Pardo“, der viele Musiker der Guardia Vieja, der alten Garde von Tangomusikern unterrichtete. Er gehört zu jenen, die den Tango dank dem neuen Instrument veränderten und ihm so um die Jahrhundertwende zum Durchbruch verhalfen.

Die sich ab 1890 dem Tango widmenden Musiker, die Gurdia Vieja, eroberte damals die Strasse mit Musikkapellen, die auf Volksfesten und Jahrmärkten auch Walzer, Polkas oder Mazurkas spielten. 1911 entstand dank dem Unternehmer José Tagini die erste Tango-Schallplatte. Vicente Greco landete damit gleich einen Klassenschlager, der die Musikwelt revolutionierte. Als zweiter Star folgte Juan Maglio Pacho. Es herrschte ein reger Austausch zwischen Musikern dies- und jensseits des Río de la Plata, zwischen Buenos Aires und Montevideo. Die reinen Tango-Orchester verdrängten die gemischten Tanzmusikgruppen. Die Interpreten wurden immer professioneller. Zu den wichtigsten Erneuerern gehörte der Pianist Roberto Firpo. Die technischen Unzulänglichkeiten und fehlende musikalische Persönlichkeit der Guardia Vieja wurden von ihm früh überwunden. Harmonie, Rhythmus und Tempo passte Firpo den Tänzern an.

Der Tango hatte unterdessen Paris erreicht und erobert. Ab 1912 überschwemmte die französische Presse ihre Leser mit Artikeln zu Musik und Tanz. Ein Parfüm, ein Getränk, der Zug nach Deauville, dem Badeort der Schickeria, ja sogar Damenunterwäsche mit dem Namen Tango gab es. In Buenos Aires verlagerte sich die Tango-Szene vom Arrabal, wo nun die Mittelschicht wohnte, ins Zentrum, wohin Bordelle, Cabarets und Nachtclubs umgezogen waren. Der Tango wurde nun mit Glimmer und Luxus assoziiert, hatte das Arme-Leute-Image verloren.

Ab 1917 drängte die Guardia Nueva, die Neue Garde, hervor, mit neuen Komponisten und Interpreten, die Gesang und Dichtung im Tango zur Geltung brachten. Carlos Gardel, der 1935 im kolumbianischen Medellín bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, wurde bereits zu Lebzeiten zum Idol und Mythos; eine Stellung, die er bis heute unangefochten einnimmt. Die Guardia Nueva bestand ausschliesslich aus professionellen Musikern, die technisch und künstlerisch auf einem höheren Niveau standen. Eduardo Arolas erneuerte zudem das Bandoneonspiel grundlegend.

Während der Krise der dreissiger Jahre hielten kritische Töne wie die von Enrique Santos Discépolo Einzug in die Tangomusik. Obwohl die wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten gegen Ende jenes Jahrzehnts nicht überwunden waren, folgten die sogenannten Goldenen Zeiten mit der Blüte des Salontangos. In jenen Jahren begann Astor Piazzolla (1921-92) seine Karriere als professioneller Bandoneonist. Im Orchester von Aníbal Troilo spielte er die traditionelle Variante des Tango. Als er 1940 für Arthur Rubinstein, der auf Tournee in Buenos Aires gastierte, ein Klavierkonzert komponierte, erkannte dieser sein Talent und riet ihm, bei Alberto Ginastera Kompositionsunterricht zu nehmen, was er auch tat. Piazolla hörte bei Ginastera Bartok und Stravinsky. 1944 verliess er Troilos Orchester, weshalb ihm die Tango-Szene Undankbarkeit und Verrat vorwarf. Doch der 25jährige ging unbeirrt seinen Weg, gründete seine eigene Gruppe und baute Kontrapunkt, Fugen, neue Harmonien, kurzum alles, was er bei Ginastera gelernt hatte, in die Tangomusik ein. Doch erst in den 80er Jahren sollte er die Akkzeptanz erreichen, nach der er sich immer gesehnt hatte. Ich hatte noch das Glück, ihn als Student auf seiner letzten Tournee im November 1989 in der Genfer Victoria Hall live zu sehen und zu hören, ehe er in Paris 1990 einen Gehirnschlag erlitt, von dem er sich nicht mehr erholte. Er verstarb 1992 in Buenos Aires, ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben.

In Argentinien verlor der Tango in den 60er Jahren an Bedeutung. Erst in den letzten Jahren setzte seine Renaissance ein, zu der u.a. die Joven Guarida del Tango gehört. Die 20jährigen Musiker konnten sich 1997/98 an Musikfestivals der Stadt Buenos Aires in Szene setzen. Die meisten argentinischen Tango-Musiker sind heute unter 30 oder über 50 Jahre alt. Dazwischen klafft ein Lücke. Tanz und Musik befinden sich zur Zeit auf einem fast weltweiten Höhenflug (von Argentinien bis Finnland), von dem auch das hier besprochene Buch (mit weiterführender Literatur) zeugt (Amazon.de).

Eine grosse Auswahl an Tango-CDs bietet die Danza y Moviemento GmbH in Hamburg [im Dezemeber 1999 geschrieben]. Vom bekanntesten Komponisten und Interpreten der Geschichte des Tangos, Carlos Gardel, ist zum Beispiel die CD Tomo y obligo (Vol. 14 aus der Serie mit seinem Gesamtwerk) erhältlich. Sie enthält 18 historische Aufnahmen aus den Jahren 1924 bis 1931, darunter das Titelstück Tomo y obligo von Gardel/Romero, 1931 in Buenos Aires aufgenommen, das auch im Film Luces de Buenos Aires verwendet wurde.

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Am 20. April 2000 hat uns Peter Rupf folgenden Kommentar zu diesem Artikel zugesandt:

Das Werk von Arne Birkenstock und Helena Ruegg hat alle Zutaten, um ein Klassiker der Literatur zum Tango zu werden. Tango (Amazon.de) erzählt die Entstehungsgeschichte dieses Tanz- und Musikstiles flüssig, gar spannend, sulgt aber nicht in der bereits abgegriffenen, und deshalb so einfach verständlichen Naktemädchenbeine- und Bordellromantik. Auch bleibt der proletarische Klassenkampf bei der Beschreibung des sozialen und wirschaftlichen Umfeldes des Argentiniens des auslaufenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts artig vor der Tür. Tango ist vielmehr der – wohlgemerkt: gelungene – Versuch, Hintergrundwissen, Anekdoten und liebevoll erarbeitete Übersetzungen von Klassikern der Tangolyrik denjenigen weiterzugeben, die einfach Vergnügen daran finden, die Tanzfläche zu betreten und sich den Takten des Tango „avec corps et âme“ hinzugeben. Arne Birkenstock und Helena Ruegg bleiben erfrischend sachlich. Wie sie selbst sagen: „…Andere bauen sich eine regelrechte Philosophie um den Tanz herum, entdecken ihren verborgenen Eros, therapieren sich selbst und ihren Partner gleich mit oder erleben La Cumparsita als meditatives Happening. Wieder andere tanzen ihn einfach gerne: den Tango…“

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Rezension vom 15. Dezember 1999. Erneut hinzugefügt zu unseren neu WordPress-Seiten am 15. Juli 2023 um 22:22 deutscher Zeit.