Tobias Bleek, Honorarprofessor an der Folkwang Universität der Künste Essen und der Universität Potsdam, arbeitet zudem als Autor und Vermittler seit 2002 für die Berliner Philharmoniker. In seinem Buch Im Taumel der Zwanziger Jahre. 1923: Musik in einem Jahr der Extreme (Amazon.de; wir erhalten eine Kommission; Cookies akzeptieren, damit Sie direkt zum Buch kommen) konzentriert er sich auf ein Jahr, in dem das Musikleben in Deutschland von der Hyperinflation geprägt wird. Gleichzeitig erneuert sich der in Russland geborene Komponist und Dirigent Igor Strawinsky, ein Vertreter der Neuen Musik, legt der Ungar Béla Bartók ebenfalls neue Werke vor und wird die Musik im besetzten Ruhrgebiet politisch vereinnahmt. Die Bluessängerin Bessie Smith macht in den USA mit „Down Hearted Blues“ ihre erste Aufnahme und erobert den Tonträgermarkt. Der Trompeter, Sänger (und später auch Schauspieler) Louis Armstrong, die Pianistin, Sängerin und Komponistin Lilian Hardin (die erst 1923 Armstrong heiratete) sowie King Oliver’s Creole Jazz Band (King Oliver war ursprünglich Armstrongs Mentor) in New Orleans revolutionieren ebenfalls in Amerika die Musikwelt mit einem neuen Sound. Gleichzeitig bricht die Zeit des öffentlichen Rundfunks in der Weimarer Republik an. Hier nur ein kurzer Blick auf ein weiteres Kapitel im Buch von Tobias Bleek.
Zum Thema Streit um die Urheberschaft der Zwölftonmusik ist bei Tobias Bleek unter anderem zu lesen, dass Arnold Schönberg und der Wiener Komponist Josef Matthias Hauer, der um 1920 ein eigenes Verfahren zwölftönigen Komponierens ausgearbeitet hatte, sich nicht nur inhaltlich stritten.
Obwohl sich Josef Matthias Hauers Kompositionstechnik, sein musikalisches Denken und seine ästhetischen Vorstellungen von Arnold Schönbergs Ansatz grundsätzlich unterschieden, witterte Schönberg eine ernste Gefahr für sein eigenes Projekt. Hauer hatte bereits im Sommer 1919 mit Nomos op. 19 – einem kurzen Stück für Klavier oder Harmonium – eine erste zwölftönige Komposition vorgelegt und ab 1920 begonnen, über seine Entdeckungen und Theorien zu publizieren.
Schönberg schrieb am 1. Dezember 1923 an Hauer: »Vor etwa 1 1⁄2 oder 2 Jahren nämlich fiel mir durch eine Ihrer Publikationen auf, dass Sie in ähnlicher Weise Ähnliches suchen wie ich. Nachdem ich mich mit dem peinlichen Gefühl auseinandergesetzt hatte, dass ein anderer, der sich auch mit dem befasst, worüber ich bald 15 Jahre nachdenke, den Ruf meiner Originalität gefährdet, was mich vielleicht zwingen könnte, auf die Darstellung meiner Ideen zu verzichten, wenn ich nicht als Plagiator gelten will – ein peinliches Gefühl, wie Sie zugeben werden – nachdem ich mich mit diesem auseinandergesetzt und erkannt hatte, worin wir uns unterscheiden, und dass ich imstande war, die Selbständigkeit meiner Ideen durchaus zu beweisen, nahm ich mir vor, Ihnen folgenden Vorschlag zu machen: ›Schreiben wir gemeinsam ein Buch, in welchem immer ein Kapitel von dem einen, das folgende vom andern ist. Stellen wir darin unsere Ideen unter genauer Abgrenzung des Unterscheidenden, mit Zuhilfenahme sachlicher (aber höflicher) Polemik dar, und versuchen wir, ein Stückchen trotz dieser Unterschiede zusammenzuarbeiten: es lässt sich auf Grund des Gemeinsamen sicher eine Basis finden, auf der wir reibungslos miteinander verkehren können.‹ Und auch das wollte ich sagen: ›Zeigen wir der Welt, daß die Musik wenigstens ohne die Österreicher zunächst nicht weiter gefunden hätte,während wir Fortsetzung wissen.‹«
Doch es kam trotz einer Begegnung zu keiner dauerhaften Einigung. Während Schönbergs Zwölftontechnik in Kreisen der neuen Musik schon bald eine breite Rezeption erfuhr, fühlte sich Hauer durch den Erfolg seines einflussreichen Rivalen und der Schönberg-Schule zunehmend an den Rand gedrängt.
Der Streit wurde gehässig. Ab der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre versah Hauer Briefe und eigene Manifeste sogar mit dem Stempelaufdruck: „Der geistige Urheber und (trotz vielen Nachahmern!) immer noch einzige Kenner und Könner der Zwölftonmusik.“
Schönberg liess – wie viele (grösstenteils zu Lebzeiten unveröffentlichte) Aufzeichnungen dokumentieren – nicht locker. Laut Tobias Bleek musste ihm zwar bald klar geworden sein, dass von Hauer keine wirkliche Gefahr ausging, doch dessen wortgewaltigen Angriffe und die Behauptung, dass Schönberg erst durch ihn, Hauer, zur Zwölftonkomposition angeregt worden sei, konnte und wollte er nicht unkommentiert lassen.
Es ging um Deutungsmacht, um den Versuch, die eigene Stellung in der Musikgeschichte zu sichern, sich als derjenige zu präsentieren, der mit seiner Form des zwölftönigen Komponierens der (deutschen) Musik eine Zukunftsperspektive eröffnet hat. Eine Rolle spielte dabei laut Tobias Bleek zudem sicherlich die charakterliche Disposition der beiden Komponisten sowie die Tatsache, dass es sich bei Hauer um einen bekennenden Antisemiten handelte.
Arnold Schönberg war im jüdischen Glauben erzogen worden, jedoch im Alter von 23 Jahren zum Protestantismus übergetreten. Nach dem Ersten Weltkrieg sorgte er sich um die Zunahme judenfeindlicher Einstellungen und antisemitischer Hetze. Während eines Ferienaufenthalts im österreichischen Ort Mattsee (am gleichnamigen See) erlebte er im Sommer 1921 dann die massiven Auswirkungen des Antisemitismus unmittelbar am eigenen Leib. Der beliebte Ferienort im Salzburger Land warb – wie 70 andere österreichische Erholungsziele – mit dem Slogan, seinen Gästen eine»judenfreie Sommerfrische« zu bieten.
Die Ankunft des berühmten Komponisten, dem zum Zeitpunkt der Anreise offensichtlich nicht klar war, in welche Gesellschaft er sich begeben hatte, löste laut Tobias Bleek entsprechende Unruhe aus. So kamen Vertreter der Gemeinde und des Fremdenverkehrsverbandes zu einer ausserordentlichen Sitzung zusammen, „um über das Eindringen des Juden Schönberg in die Sommerfrischeidylle und weitere Vorgehensweisen zu beratschlagen“.
Nach diesen und anderen Anfeindungen verliess die Familie Schönberg Mitte Juli 2021 vorzeitig Mattsee und schlug ihr Sommerquartier stattdessen im oberösterreichischen Traunkirchen auf. Dort entstand kurz darauf mit dem Präludium zur Klaviersuite op. 25 das erste Stück, in dem Arnold Schönberg miteiner zwölftönigen »Grundkonstellation« arbeitet. In einem berühmten Brief berichtet er Alma Mahler von diesem künstlerischen Durchbruch. Vor dem Hintergrund der antisemitischen Erfahrungen gibt er seinem kulturpolitischen Mantra dabei eine bemerkenswerte Wendung: „Die Deutscharier, die mich in Mattsee verfolgt haben, werden es diesem Neuen (speciell diesem) zu verdanken haben, dass man sogar sie noch 100 Jahre lang im Ausland achtet, weil sie dem Staat angehören, der sich neuerdings die Hegemonie auf dem Gebiet der Musik gesichert hat!“
Der assimilierte Jude Arnold Schönberg war laut Tobias Bleek tief verwurzelt in der deutschen Kultur und überzeugt vom ästhetischen Primat der deutschen Musik. Er war nicht bereit, seine kulturpolitische Mission aufzugeben. Zugleich hatte ihm der Antisemitismus in Mattsee 1921 drastisch vor Augen geführt, dass er aufgrund seiner jüdischen Herkunft bei einem Teil der Gesellschaft grundsätzlich unerwünscht war. Im Zuge der kaltblütigen Ermordung jüdischer Politiker durch rechtsextreme Gruppierungen und der Verschärfung antisemitischer Rhetorik wuchs bei Schönberg in den folgenden Jahren das Gefühl, nicht nur künstlerisch, sondern auch existenziell bedroht zu werden. So verstand er – ähnlich wie Albert Einstein – die Ermordung des deutschen Aussenministers Walther Rathenau, der am 24. Juni 1922 von Mitgliedern der rechtsterroristischen Organisation Consul erschossen wurde, als Menetekel für seine eigene Gefährdung: »Ich glaube kaum, daß ich in Deutschland dirigieren werde, solange es Hakenkreuze gibt«, erklärte er kurz darauf in einem Brief an seinen Freund und Schüler Erwin Stein. Im Frühjahr 1923, als er die Arbeit an seinem ersten grossformatigen zwölftönigen Werk, dem Bläserquintett op. 26, begann, erreichte ihn ein Brief Wassily Kandinskys, der ihn ans Bauhaus nach Weimar locken wollte, wohin er selbst erst vor kurzem berufen worden war. Kandinsky fragte Schönberg an, ob dieser sich vorstellen könne, den Direktionsposten an der dortigen „Musikschule“ zu übernehmen.
Doch Arnold Schönberg hatte von Alma Mahler von antisemitischen Tendenzen am Bauhaus erfahren. Er antwortete Wassily Kandinsky 1923, dass mit ihm in Weimar trotz seiner grundsätzlichen „Lust zu unterrichten“ keinesfalls zu rechnen sei. Zugleich kündigte er Kandinsky die Freundschaft auf: „Denn was ich im letzten Jahre zu lernen gezwungen wurde, habe ich nun endlich kapiert und werde es nicht wieder vergessen. Dass ich nämlich kein Deutscher, kein Europäer, ja vielleicht kaum ein Mensch bin (wenigstens ziehen die Europäer die schlechtesten ihrer Rasse mir vor), sondern, dass ich Jude bin. […] Ich habe gehört, dass auch ein Kandinsky in den Handlungen der Juden nur Schlechtes und in ihren schlechten Handlungen nur das jüdische sieht und da gebe ich die Hoffnung auf Verständigung auf. Es war ein Traum. Wir sind zweierlei Menschen. Definitiv!“
Im weiteren Verlauf des Jahres 1923 kommt es zu einer erschreckenden Zunahme jener antisemitischen Hetze und Gewalt, von der Schönberg in seinem Brief spricht. In den Wochen vor dem Hitlerputsch wurden in Bayern mehrere hundert jüdische Familien – sogenannte „Ost-juden“ – ausgewiesen. In Berlin kam es auf dem Höhepunkt der Inflations- und Hungerkrise am 5. November im Scheunenviertel zu Ausschreitungen mit pogromartigem Charakter.
Dies sind nur einige spannende Angaben aus einem Kapitel zum Musikjahr 2023, in dem Entwicklungen in den Sparten Blues, Jazz und Klassik auf die Hyperinflation und politische Verwerfungen trafen.
Tobias Bleek: Im Taumel der Zwanziger Jahre. 1923: Musik in einem Jahr der Extreme. Bärenreiter / Metzler, 2023, 316 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de (wir erhalten eine Kommission; Cookies akzeptieren, damit Sie direkt zum Buch kommen).
Zitate und Teilzitate in dieser Rezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.
Rezension vom 9. November 2023 um 17:08 Berliner Zeit. Ergänzt um 21:20 um die Bemerkung, das King Oliver einst Louis Armstrongs Mentor war.