Die Wirtschaftsjournalistin, Moderatorin und Kommentatorin Ursula Weidenfeld (*1962) zieht in Die Kanzlerin. Porträt einer Epoche (Amazon.de) die Bilanz der Ära Merkel. Zu Beginn ihres Buches hält sie fest, der beinah freiwillige Abgang im letzten möglichen Moment sei ein Symbol ihrer Kanzlerschaft wie ihres Lebens: Angela Merkel sei unabhängiger und freier als die meisten, gleichzeitig jedoch unentschlossen bis zur äussersten Schmerzgrenze. Mit schwierigen Entscheidungen warte sie, bis es fast zu spät sei. Zögern und Zaudern sei ihr Regierungsprinzip. Sie hoffe geduldig, dass sich zumindest ein Teil der Herausforderungen im Zeitablauf von selbst erledigt. So habe sie es von Helmut Kohl gelehrt. So habe ich dies ebenfalls schon geschrieben.
Ursula Weidenfeld verweist allerdings auch auf Angela Merkels eigene Aussage, die sie gegnüber ihrer Biografin Evelyn Roll (Das Mädchen und die Macht. Angela Merkels demokratischer Aufbruch. Rowohlt, 2001, 304 Seiten. Bei Amazon.de) tätigte: «Ich bin, glaube ich, im entscheidenden Moment mutig». Angela Merkel befreite die CDU am 22. Dezember 1999 von Helmut Kohl und der Spendenaffäre, indem sie an jenem Tag in der FAZ riet, sich von den alten «Schlachtrössern» zu befreien und selbst laufen zu lernen. Der damalige CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäuble, die jungen Wilden Roland Koch, Peter Müller, Friedrich Merz standen zwar ebenfalls auf dem Sprungbrett, aber ihnen fehlte der Mut. Das sehe ich genau wie Frau Weidenfeld.
Nach 16 Jahren Kanzlerschaft bilanziert die Autorin, Merkel habe ihre Ecken und Kanten, ihre Haltung, ihren Humor und ihre Meinungen so erfolgreich unterdrückt, dass zum Ende ihrer Amtszeit viele zweifeln, ob sie überhaupt welche habe. Ursula Weidenfield zitiert Merkels erste Vizekanzler Franz Müntefering von der SPD mit dem Bonmot: Wenn man mit Angela Merkel in ein Flugzeug steige, werde man sicher ankommen. Man wisse halt nur nie, wo.
Die Kanzlerin sei über die Jahre zur wandelnden Enttäuschung für die Politikexperten und Leitartikler geworden, die sich nach Charisma sehnen, Blut-Schweis-und-Tränen-Reden verlangten oder wenigstens eine einzige visionäre Überzeugungsgrosstat in der Ära Merkel feiern wollen. Es sei ein Paradox: Globalisierung und Digitalisierung sorgen in der Politik für eine Machtverschiebung zu Lasten der Parlamente und zugunsten der Regierungen. Selbst in Deutschland hat der Regierungschef inzwischen fast präsidiale Macht. Die Kanzlerin aber nutze diese Durchgriffsmöglichkeiten nicht für eigene politische Ziele.
Ursula Weidenfeld betont unter anderem, Merkel habe als Parteivorsitzende nicht einmal sicherstellen können, dass es rechts von der Union keine politische Kraft geben dürfe. Doch dort steht nun die AfD. Ihr Nachfolge konnte sie nicht regeln (AKK war eine Fehlbesetzung). Seit Abschlus von Weidenfelds Manuskript ist klar geworden: Merkels innerparteilicher Erzgegner Merz ist doch noch ihr Nachfolger als CDU-Parteichef geworden.
Die Autorin schreibt in Die Kanzlerin. Porträt einer Epoche vorsichtig und abgewogen zu Merkels Elternhaus und ihrer Jugend. Doch sie erwähnt auch, dass der Pfarrer und seine Frau Reisen ins nichtsozialistische Ausland machen dürfen, und die Kinder Angela und Marcus zum Physik-Studium zugelassen werden. Daher hätte ich hier angefügt, dass Pfarrer Kasner von der DDR-Diktatur doch als mehr oder weniger zuverlässig eingestuft wurde. Kritisch-aufmüpfigen Geistern wären Auslandsreisen und Studium verwehrt geworden. Ursula Weidenfeld betont hingegen zurecht, dass die Situation der Familie Kasner zu besonderer Vorsicht erzog, die sich im späteren Leben von Merkel immer wieder zeigte.
Kritiker – auch ich – verweisen immer mal wieder auf die Russisch-Kenntnisse der Kanzlerin, die eine Russisch-Olymiade und damit eine Reise nach Russland gewann, was nicht gerade auf Systemferne als Jugendliche hindeutet. Ursula Weidenfeld hingegen betont zurecht, dass Angela Kasner auch im Englischunterricht brillierte. Die Autorin übernimmt von der Kanzlerin die eigene Charakterisierung ihrer Beziehung zu ihren Eltern: herzlich und distanziert.
Ursula Weidenfeld ist der Meinung, wer so tue, als habe Merkel die Spuren ihrer DDR-Biografie bewusst verwischt, um nach der Wiedervereinigung als vermeintliche Dissidentin in der CDU Karriere machen zu können, verzerre die Realität. Sie habe – ähnlich wie Friedrich Merz über seine Jugend im Sauerland oder Joschka Fischer über seine äusserst robuste 68er-Periode – ihre Erinnerungen den Erwartungen der Gegenwart angepasst. Sie habe sich die passenden Geschichten ausgesucht und zu einem Narrativ innerer Distanz zum DDR-Regime verdichtet. Das ist schön formuliert. Ursula Weidenfeld zitiert in diesem Zusammenhang den Historiker Hubertus Knabe, der meint, Merkel sei in der DDR mehr als nur mitgelaufen. Weidenfeld ist der Meinung, es gebe vielleicht gar nichts zu vertuschen. Doch statt Erklärungen abzugeben, die niemand verstehe, erfülle Merkel einfach die Erwartungen der Westdeutschen. Euphemistisch nenne ich das. Merkel redet ihre Haltung in der DDR schön, wie ja auch Ursula Weidenfeld selbst aufzeigt, indem sie Ereignisse und Merkels Erinnerungen daran zerlegt.
Zu den Erfolgen von Angela Merkel zitiert die Autorin „die nackten Zahlen“ zwischen 2005 und 2021. Die Arbeitslosenrate sank trotz zwei Weltwirtschaftskrisen von 11,7% auf 5%. Das BIP stieg von 2,3 Billionen Euro auf 3,3 Billionen Euro. Die Ungleichheit ist in dieser Zeit laut Ursual Weidenfeld nicht gestiegen. Dies und noch viel mehr präsentiert sie in der Erfolgsbilanz.
Im Kapitel „Fehler“ ist zu lesen von diplomatischen Versäumnissen beim Brexit, falschen Einschätzungen in der Energiepolitik, Versagen bei der Corona-Pandemie, unterlassener Zukunftsarbeit bei Renten und Gesundheit. Damit unterscheide sich Merkel jedoch nicht von Vorgängern und Kollegen im Ausland, soll Ursula Weidenfeld.
Die Autorin unterstreicht, Fehler unterschieden sich von Irrtümern dadurch, das derjenige, der sie mache, es eigentlich besser wisse. Bundeswehr, Migrationskrise, Atomausstieg und Energiewende beleuchtet sie. Nach einem Kapitel „Enttäuschungen“ mit Themen wie AKK, Koalitionsvertrag und Wehrpflicht, folgt das Kapitel „Katastrophen“. „Von der Krisenkanzlerin zur Kanzlerin in der Krise“ überschreibt sie einen Abschnitt. Die besonders ironische Wendung der Geschichte sei, dass es Merkel am Ende ihrer Amtszeit ähnlich wie ihrem Amtsvorgänger Gerhard Schröder und ihrem langjährigen Lehrmeister Helmut Kohl erging. Macht und Regierungsstil hätten sich verbraucht. Es sei Zeit zu gehen.
Im Schlusskapitel „Vermächtnis“ schreibt Ursula Weidenfeld, nach 16 Helmut Kohl sei das Land gelähmt, die Regierungspartei ausgeblutet und skandalgeschüttelt gewesen, Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Sozialsysteme steckten in einer tiefen Krise. Deutschland sei der „kranke Mann Europas“ gewesen. Eine junge ostdeutsche Politikerin habe die Wende für Westdeutschland organisiert. Wie bitte? Kein Wort zu Gerhard Schröder, der eben dies Tat. Merkel profitierte nur davon, ohne die Fehler der schröderschen Rerformen zu korrigieren. Vielmehr behauptet Ursula Weidenfeld, nach 16 Jahren Angela Merkel stünden Wirtschaft, Arbeitsmarkt und soziale Sicherung gut da, trotz der Corona-Pandemie. Deutschland sei ein anderes Land geworden. Der Sammelband von Philip Plickert kommt da zu ganz anderen Einsichten. Immerhin merkt Ursula Weidenfeld kritisch an, der Staat selbst jedoch scheine in jeder Krise anfälliger zu werden, die Polarisierung nehme zu, die Regierungsparteien seien erschöpft und skandalumwittert. Das System bedürfe einer Erneuerung, die ohne politische Ziele nicht auskommen werde.
Dies sind nur einige Einsichten aus einem abwägenden Buch, dessen Aussagen ich manchmal voll zustimme, manchmal staune und Widerspruch formulieren möchte.
Ursula Weidenfeld: Die Kanzlerin. Porträt einer Epoche. Rowohlt, Berlin, August 2021, 350 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.
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Rezension / Buchkritik vom 16. Januar 2021 um 17:20 deutscher Zeit.