Die Biografie von Igor Janke
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán gehört zu den umstrittensten Politikern der Europäischen Union. Der polnische Journalist Igor Janke verfasste 2012 eine umfassende Biografie des Regierungschefs, die in Polen und Ungarn zu einem Bestseller wurde. 2014 erschien sie auf Deutsch beim Schenk Verlag.
Viktor Orban wurde am 31. Mai 1963 in Székesfehérvár geboren. Diese beschauliche Stadt mit heute rund 100,000 Einwohner war im Mittelalter neben Buda die Krönungsstadt der ungarischen Könige. Viktor wuchs zuerst im Haus der Grosseltern, danach am Rande eines kleinen Dorfes in einem Haus ohne fliessendes Wasser auf. Zusammen mit seinem kleinen Bruder sammelte er an Nachmittagen die abgebrochenen Maiskolben armer Bauern auf. Zu seinem Vater hatte Viktor kein gutes Verhältnis. Sein Grossvater Mihály Orbán war für ihn die massgebliche Autorität. Von ihm soll laut Igor Janke der heutige Ministerpräsident zahlreiche Charakterzüge geerbt haben.
Die Familie Orban war arm und calvinistisch, mit dem für Protestanten üblichen Arbeitskult ausgestattet. Der Junge war laut seinem Biografen arbeitsam, rational, systematisch, äusserst entschlossen, stur, eigensinnig und trotzig. Mit seinem Fleiss schaffte es der Dorfjunge aufs Gymnasium
Der Antikommunismus war Viktor Orban nicht in die Wiege gelegt worden. Sein Vater war Parteimitglied. In die Politik mischte man sich nicht ein – eine nach der Niederschlagung des Volksaufstandes 1956 weit verbreitete Haltung.
Vor dem Studium musste Viktor Orban im August 1981 für elfeinhalb Monate ins Militär. Er kannte bereits die polnische Solidarnosc und hörte Radio Freies Europa; er hatte Englischunterricht im Gymnasium gehabt. Im Militär kam er in eine Einheit mit Gabor Fodor, seinem späteren Freund und Zimmergenossen, mit dem er später die Partei Fidesz gründete. Igor Janke erfuhr von Fodor, dass die Aufgabe des Militärs darin bestand, ihre Persönlichkeit zu zerstören und sie zu Gehorsam und zum Dienst in der kommunistischen Armee zu zwingen. Doch er und Orban hätten sich widersetzt. Der kommunistische Staatssicherheitsdienst versuchte mehfach, Orban zu rekrutieren. Doch der junge Mann widerstand dem Angebot, für seine Mitarbeit bestimmte Vorzüge an der Universität zu geniessen. Er sei aus psychologischen Gründen nicht in der Lage, ein Doppelleben zu führen, war Orbans Ausrede. Zum Glück sei auch nichts vorgelegen, um ihn zu erpressen, so Orban.
In der Armee entwickelte sich Orbans Antikommunismus. Er liess sich nicht vom Gulaschkommunismus nach 1956 kaufen: Einen Esslöffel Sozialismus mit einer Messerspitze Kapitalismus. Im Studentenwohnheim schliesslich entwickelte er den revolutionären Geist, der ihn zum Parteigründer machte.
Am 10. November 1982 starb Leonid Breschnew. Am nächsten Morgen rief ein Professor an der Budapester Eötvös Loránd-Universität vor seiner Vorlesung zu einer Trauerminute auf. Drei Erstsemester Jura blieben sitzen. Der Dozent schrie Skandal. Die drei Studenten standen auf und gingen. Zwei der drei waren spätere Fidesz-Gründer: Viktor Orban und Lajos Simicska.
Igor Janke beschreibt nicht nur den Aufstieg Viktor Orbans, sondern hier und dort auch die Entwicklung und den Zustand der ungarischen Gesellschaft. Diese ist seit dem Beginn des 20. Jahrhundert in städtische, kosmopolitische und liberale Urbane auf der einen und völkisch-nationale Staatsbürger auf der anderen Seite geteilt.
Die städtische Intelligenz bildete gegen Ende des sozialistischen Regimes eine demokratische Opposition, aus der dann der Bund Freier Demokraten hervorging (SzDSz). Leute aus der Provinz dagegen formierten das spätere, konservative und nationale Ungarische Demokratische Forum (MDF).
Die Jungs im Studentenheim sahen zuerst Solidarnosc als Vorbild und versuchten diesem Geist nachzuleben, der alle Bürger in einer Opposition vereint. 1984/85 war János Kis, der damalige Oppositionsführer, häufiger Gast im Studentenwohnheim Kis wurde Mitbegründer des SzDSz und dessen erster Vorsitzender. Der Milliardär George Soros unterstützte mit seiner Stiftung ab 1984 die jungen, aufbegehrenden Kräfte, schenkten ihnen ein Kopiergerät, ermöglichte Studienreisen nach England und in die USA sowie Stipendien. Viktor Orban und seine Freunde gehörten dem Bibó-Kolleg an der Juristischen Fakultät an, an dem das intellektuelle und gesellschaftliche Leben sprudelte, neue Ideen entwickelt und neue Wege gesucht wurden.
Gabor Fodor und Viktor Orban waren zuerst Freunde, riefen 1988 den Bund junger Demokraten (Fidesz) zusammen ins Leben, standen später an der Spitze konkurrierender Plattformen und wurden schliesslich politische Feinde. Doch zu Beginn verband sie der Antikommunismus. Zum Studienabschluss schrieb Orban eine Arbeit über den Kampf der polnischen Gesellschaft gegen das Einparteiensystem.
1986 heiratete Viktor Orban die Juriistin Anikó Lévai, mit der er heute fünf Kinder hat. Sie und der reformierte Geistliche Zoltán Balog brachten den jungen Politiker zum Glauben, der ihm Kraft gab, insbesondere bei der Überwindung seiner Wahlniederlage 2002.
Als 1988 ein Polizist an Viktor Orbans Tür klopfte und diesen im Zusammenhang mit der Bildung eines Jugendverbandes verhören wollte, antwortete der Junge Mann schlagfertig: „Das muss sich um einen Irrtum handeln, die Organisation ist schon gegründet. Das ist Tatsache. Sie existiert und steht auf dem Boden der Verfassung.“ Orban liess den Polizisten wissen, dass er keine Fragen beantworten würde. Der überforderte Mann wollte zumindest ein Protokoll aufnehmen. Schlussendlich holten sie zwei Zeugen von der Strasse, vor denen der Polizist eine offizielle Verwarnung Orbans verlas. Der junge Mann liess sich nicht einschüchtern und nutzte geschickt die bestehenden Gesetze. Er spürte, dass das Regime vor dem Zusammenbruch steht. Das dieser dann so rasch kam, sah er nicht voraus.
Mit dem Fidesz trat Orban offen gegen das System an. Die jungen Revolutionäre verspotteten Funktionäre, trotzen einem Staatsanwalt und gingen anders als das MDF allgemein und offen auf Konfrontation. Das konservative MDF hingegen war von älteren Leuten gegründet worden, die 1956 erlebt hatten und deshalb Zurückhaltung übten, nicht offen den Schlagabtausch mit der Staatsmacht suchten. Das Fidesz wurde für seinen kämpferischen Mut belohnt und vom Staat als legale Organisation behandelt.
Einer grösseren Öffentlichkeit ins Bewusstsein trat Viktor Orban am 15. März 1989, dem Jahrestag der Ungarischen Revolution und dem Freiheitskampf von 1848/49. In seiner ersten Rede vor einer grossen Menschenmenge, die im Buch von Igor Janke abgedruckt ist, nahm er kein Blatt vor den Mund. Die Menge brach in Hochrufe aus. Solches hatte viele Jahre lang niemand mehr gesagt. Die Rede wurde direkt übertragen. Viktor Orban hatte nicht zuletzt den Abzug der sowjetischen Truppen verlangt!
Die Soros-Stiftung ermöglichte Viktor Orban im Spätsommer 1989 ein Stipendium in Oxford. Im Januar 1990 kehrte der junge Mann auf Wunsch seiner Freunde nach Budapest zurück, um als Gast an der Sitzung des Parteivorstands des Fidesz teilzunehmen. Er trat damals für eine Linie der Äquidistanz zu Liberalen und Konservativen ein und setzte sich durch.
Igor Janke beschreibt, wie Viktor Orban zum Parteiführer aufsteigt, seine Linie durchsetzt und die Partei von einem liberalen zu einem bürgerlich-konservativen Kurs bringt. Der Fidesz füllte so das Vakuum auf der rechten Seite, das durch den Niedergang des MDF entstanden war. Gleichzeitig wurde die Partei so nicht zum jungen Anhängsel der liberalen Partei SzDSz; damals lag das Höchstalter für die Parteimitgliedschaft im Fidesz bei 35 Jahren.. Mit den Altkommunisten/Sozialisten zusammenz arbeiten kam und kommt für Viktor Orban sowieso nicht in Frage.
Wer mehr Details zu den folgenden Jahren will, muss zur lesenswerten Biografie von Igor Janke greifen, der zeigt, weshalb einiges, was Viktor Organ im Kampf gegen die Sozialisten tat, richtig war. Den Wandel des Politikers vom liberalen zum konservativ-religiösen Politiker beschreibt er als authentisch. Er machte es sich nicht einfach. Die Wandlung war keinesfalls nur taktisch-strategisch bedingt. Der freche Revoluzzer wurde zum Liebling der Schwiegermütter. Auf der anderen politischen Seite endete die Zusammenarbeit von Postkommunisten und Liberalen des SzDSz im Fiasko.
Hier der Rest der Karriere Viktor Orbans im Zeitraffer: Bereits mit 35 Jahren wurde er 1998 zum ersten Mal Ministerpräsident Ungarns, indem er das Duell gegen den Sozialisten/Altkommunisten Gyula Horn gewann, der den jungen Mann unterschätzte. Doch ab 2002 folgten acht lange Jahre der Opposition, die erst endeten, als die Sozialisten völlig abgewirtschaftet hatten und Viktor Orban den Fidesz mit parteinahen Think Tanks, Medien und Unternehmen schlagkräftig gemacht hatte. Der Rechtsruck wurde nun auf Regierungsebene möglich.
Mit seiner Zweidrittelmehrheit hat Viktor Orban ab 2010 den Versuch unternommen, Ungarn völlig umzugestalten. Die neue Verfassung schuf er nach seinem Gusto. Im Kulturbetrieb und bei den Medien hat er zunehmend Leute seiner Wahl installiert.
Zu den zentralen Themen Viktor Orbans gehören der Bürger, die Nation und die Freiheit. Er will mehr Unternehmer und Eigentümer in Ungarn, Bürger, die das Leben in die eigene Hand nehmen und keine ausländischen Investoren, die ihre Gewinne nicht in Ungarn investieren, sondern einfach ins Ausland abfliessen lassen. Die einheimischen Unternehmer müssen zudem mit den ausländischen Investoren konkurrieren können.
Bei Igor Janke fehlen einige dunkle Seiten des Orban-Regimes seit 2010. So zum Beispiel wie der Ministerpräsident in die Kulturpolitik eingreift und von Museumsleitern und anderen die Abdeckung „nationaler“ Themen verlangt. Es gibt zudem Fidesz-nahe Unternehmer, die dank Staatsaufträgen florieren. Diesbezüglich hat Igor Janke immerhin mehrfach verlauten lassen, dass dies bei einer Neuauflage des Buches in einem Kapitel zur Sprache kommen würde, wie auch der Atom-Deal mit Putin, der seit der Krimkrise erst Recht in der Kritik steht.
Die vom Polen Igor Janke geschriebene Biografie wurde offensichtlich nicht von einem Deutschen Korrektur gelesen oder nur sehr schlecht. Doch über die Fehler sieht man gerne hinweg, da dies die einzige Biografie zu Viktor Orban ist und viele Informationen enthält, die weit über die Zeitungsberichterstattung hinausgehen, insbesondere was die frühen Jahre von Viktor Orban angeht. Dieses Buch ist Pflichtlektüre für alle, die sich für das heutige Ungarn und seinen Ministerpräsidenten interessieren. Mehr Licht auf die Schattenseiten der jüngsten Jahre sollte eine allfällige Neuauflage werfen.
Igor Janke: Viktor Orbán. Ein Stürmer in der Politik. Schenk Verlag, 2014, 343 Seiten. Die Biografie bestellen bei Amazon.de. Bücher zu Ungarn bei Amazon.de und Amazon.co.uk.
Artikel vom 25. August 2014 um 22:07 CEST