Wien 1900. Aufbruch in die Moderne

Jan 21, 2022 at 14:13 1176

Das Leopold Museum in Wien zeigt seit dem 16. März 2019 bis voraussichtlich 2024 die neue Dauerpräsentation oder Dauerausstellung Wien 1900. Aufbruch in die Moderne (gleichnamiger Katalog bei Amazon.de). In Covid-Zeiten bitte die Museums-Seiten vor einem Besuch konsultieren.

Die Präsentation baut auf den von Rudolf Leopold gesammelten Beständen des Wiener Museums auf. Diese wurden ergänzt um ausgewählte Leihgaben aus mehr als 50 privaten und institutionellen Sammlungen. Über drei Etagen hinweg sind auf über 3.000 m2 Ausstellungsfläche rund 1.300 Exponate zu sehen, wobei einige aus konservatorischen Gründen alle paar Monate ausgetauscht werden müssen, weshalb ingesamt gar 1.600 Exponate zu entdecken sind. Diese decken die Jahre von zirka 1870 bis 1930 ab.

Präsentiert werden Malerei, Grafik, Skulptur, Fotografie, Glas, Keramik, Metall, Textilien, Leder, Schmuck, Möbelstücke und ganze Wohnungseinrichtungen. Archivalien ergänzen die thematischen Schwerpunkte der Ausstellung.

Untersucht wird der künsterische, kulturelle, soziale, politische und wissenschaftliche Auf- und Umbruch der Zeit um die Jahrhundertwende in der Kulturwelthauptstadt Wien bis hin zum Untergang der Monarchie und der Etablierung der Republik, die rasch unter Druck gerät.

Nicht nur Malerei, Bildhauerei, Literatur, Musik, Theater, Tanz, Mode, Architektur und Design wandelten sich, sondern auch Medizin, Psychologie, Philosophie, Rechtslehre, Ökonomie und Politik. Ausstellung und Katalog (Amazon.de) Wien 1900. Aufbruch in die Moderne erheben den Anspruch, die Kreativität und widersprüchliche Komplexität jener Epoche darzustellen.

Neben dem Herausgeber Hans-Peter Wipplinger hat ein Dutzend Autoren Beiträge für den Sammelband verfasst. Die Beiträge reichen von der Sammlertätigkeit über Wiens Kultur und Gesellschaft um 1900 bis zu Fassaden der Moderne und zur endlichen Romantik und zur Emanzipation der Dissonanz. Die Experten: Andrea Amort (Tanz), Bazon Brock (Ästhetik), Monika Faber (Fotografie), Allan Janik (Philosophie und Ökonomie), Stefan Kutzenberger (Literatur), Diethard Leopold (Sammlungsgenese), Monika Meister (Theater), Therese Muxeneder (Musik), Ernst Ploil (Angewandte Kunst), Ivan Ristić (Architektur), August Ruhs (Psychologie), Burghart Schmidt (Philosophie) und Thomas Zaunschirm (Kunstgeschichte).

Die Zeit von 1870 bis 1930 umfasst unter anderem die Blütezeit des Historismus, die Wiener Sezession, die Wiener Werkstätte, den österreichischen Expressionismus, die Neue Sachlichkeit und den Magischen Realismus.

Museumsbesucher und Katalogleser begegnen grossen Namen wie Hans Makart, Koloman Moser, Josef Hoffmann, Otto Wagner, Gustav Klimt, Egon Schiele, Oskar Kokoschka, Sigmund Freud und vielen anderen.

Hans-Peter Wipplinger unterstreicht, dass die pulsierende Donaumetropole um 1900 von Gegensätzen geprägt war: Sie war die Hauptstadt des Hochadels und der liberalen Intellektuellen, der prachtvollen Ringstrasse und der endlosen Armenviertel, des Antisemitismus und des Zionismus, des starren Konservativismus und des Aufbruchs in die Moderne. Glanz und Elend, Traum und Wirklichkeit, Symbolismus und Selbstbefragung dokumentieren den existierenden Pluralismus jener Zeit und markieren Wien als Ideenlaboratorium und damit als Motor einer turbulenten Erneuerungsbewegung. In diesem heterogenen Milieu fand jene einzigartige Verdichtung an Kulturleistungen statt, die uns heute von Wien um 1900 als einem Quellgrund der Moderne sprechen lassen, so Hans-Peter Wipplinger.

Rudolf Leopold begann seine Sammlung mit Werken der szenischen österreichischen Stimmungsmalerei des 19. Jahrhunderts, um sie danach über Künstler wie Egon Schiele und Gustav Klimt bis zu Richard Gerstl auszweiten, so sein Sohn Diethard Leopold in seinem Katalogbeitrag. Laut ihm geht die europäische Wertschätzung von Schiele auf eine Ausstellung im Stedelijk-Museum in Amsterdam 1956 zurück, die von Rudolf Leopold kuratiert wurde und deren Erfolg auf frühen, expressiven Werken des Künstlers aus der Sammlung Leopold beruhte. 1965 kam es zur ersten wirklich erfolgreichen Schiele-Ausstellung in den USA im New Yorker Guggenheim Museum, wiederum mit Werken der Sammlung Leopold als Glanzlichter. Hinzu kam 1972 die Schiele-Monografie des Sammlers mit dem durch Stilanalysen und Werkphasen belegten Werkkatalog der Gemälde, die Rudolf Leopolds Sichtweise zusammenfasste.

Objekte der Wiener Werkstätte traten in seiner Sammlung neben Gemälde und Zeichnungen. Und dies zu einer Zeit, als die Wiener Antiquitätenmesse sich noch weigerte, Objekte der Wiener Werkstätte zu präsentieren, weil dies nicht den Qualitätsstandards der Messe entsprächen, unterstreicht Diethard Leopold.

Dies und noch viel mehr ist in der Ausstellung in Wien sowie im gleichnamigen, reich illustrierten Katalog zu entdecken.

Hans-Peter Wippliner, Hrsg.: Wien 1900. Aufbruch in die Moderne. Leopold Museum-Privatstiftung, Wien, 2019, 558 Seiten. Katalog bestellen bei Amazon.de.

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Buchkritik / Rezension vom 21. Januar 2022 um 14:13 österreichischer Zeit.