Wie so viele andere Mitglieder der lettischen Elite ihrer Generation verbrachte Präsidentin Vike-Freiberga (geboren am 1. Dezember 1937 in Riga) die meiste Zeit ihres Lebens im Exil. Zuerst als Flüchtlingskind in Deutschland, danach im damals französischen Protektorat Marokko, um schliesslich in Kanada zu studieren, wo sie bis 1998 als Psychologieprofessorin tätig war. In Exilkreisen wie auch in Lettland wurde sie nicht nur durch ihren unermüdlichen Einsatz für die lettische Kultur, Literatur und Folklore bekannt, sondern auch für ihre Reden und Schriften zur lettischen Identität und zur Bedeutung des Wertes eines unabhängigen Lettland. Bei der Präsidentenwahl 1999 fielen die drei offiziellen Kandidaten der grossen Parteien beim ersten Wahlgang durch. Eine Gruppe von Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern setzte sich für die unabhängige Vike-Freiberga ein. Die drei erwähnten Parteien trugen ihr die Kandidatur zwei Tage vor dem zweiten Wahlgang an. So wurde sie ohne einen Wahlkampf geführt zu haben an die Spitze Lettlands gewählt und vier Jahre später in diesem Amt bestätigt. In Lettland sind nur zwei direkt aufeinander folgende Mandate möglich, weshalb sie 2007 abtreten wird.
Von Louis Gerber Ende November 2005 im Rigaer Schluss geführtes Exklusiv-Interview
Eine gekürzte und dramatisierte Version wurde am 11. Dezember 2005 in der Welt am Sonntag (WAMS) publiziert. Im Unterschied zum ersten, für Cosmopolis auf französisch geführten Interview wurde dieses zweite auf englisch geführt.
L.G.: Am 24. November informierte der polnische Premierminister seinen britischen Amtskollegen über die gemeinsame Position der zehn neuen EU-Staaten betreffend die EU-Budgetpolitik. Könnten Sie uns dazu einige erläuternde Informationen geben?
Vike-Freiberga: Die neuen Mitgliedsländer sind extrem beunruhigt über die Verspätung bei der Verabschiedung des EU-Budgets für die Periode von 2007 bis 2013. Unsere erste Priorität ist eine rasche Übereinkunft, damit wir vorausplanen können, in dieser für uns sehr heiklen Übergangsphase, in der unser Land so viele EU-Fonds wie möglich aufnehmen und daraus den bestmöglichen Gebrauch machen muss. Wir müssen im voraus wissen, welche Projekte sich realisieren lassen werden und welche nicht. Wir müssen rechtzeitig wissen, ob wir allenfalls auf Grund der von der EU uns zugebilligten Fonds Prioritäten verlagern müssen.
L.G.: Haben Sie spezifische Ziele, die sie mit Hilfe des neuen EU-Budgets erreichen möchten?
Vike-Freiberga: All diese Diskussionen haben wir bereits durchlaufen, alle Länder haben ihre jeweiligen Positionen bereits klargemacht. Was Lettland angeht, so haben wir das Paket, das unter der luxemburgischen EU-Präsidentschaft von Herrn Junker offeriert wurde, akzeptiert. Unsere heutige Position ist dementsprechend, dass wir nach einem neuen Kompromiss nicht schlechter dastehen möchten, als es das Junker-Paket für die neuen EU-Länder vorsah.
L.G.: Ebenfalls am 24. November scheinen der britische Premierminister und die deutsche Kanzlerin darin übereingestimmt zu haben, in Europa ökonomische Reformen vorantreiben zu wollen. Wie stehen Sie dazu? Welche Wirtschaftsreformen würden Sie gerne in Europa sehen?
Vike-Freiberga: Es gibt nicht eine Sache, die alle Mitgliedsländer tun müssten. Jedes Land hat verschiedene Massnahmen zu ergreifen, entsprechend den jeweils länderspezifischen Problemen. Zwei Parameter, die jedes Land diesbezüglich zu analysieren hat, sind die Arbeitslosen- und die Inflationsrate. Von hier aus sind dann die jeweiligen Schlüsse zu ziehen und Massnahmen einzuleiten. Generell gesagt sind wir der Lissabonner Strategie verpflichtet. Alle Mitgliedsstaaten sollten sich seriös darum bemühen, diesen Desiderata zu folgen, sie umzusetzen. Dies ist der Indikator, wie weit wir gekommen sind. 2005 ist die Halbwegmarke zum ursprünglich formulierten Ziel, im Jahr 2010 Europa zur wettbewerbsfähigsten, innovativsten und am weitesten entwickelten Körperschaft auf diesem Planeten zu machen. Bis dahin haben wir noch einen weiten Weg vor uns.
President Vike-Freiberga. Photo: Wikipedia. Bücher zu Lettland bei Amazon Deutschland
L.G.: Haben Frankreich und Deutschland zuviel Einfluss auf die EU-Politik? Sehen Sie diesbezüglich mit Kanzlerin Merkel einen Politikwechsel kommen? Die Kanzlerin sagte bei ihrem Antrittsbesuch beim britischen Premierminister, sie sei gegen exklusive Bündnisse innerhalb der EU.
Vike-Freiberga: Die Frage dreht sich darum, was sie damit meinen. Die Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland war das Fundament, auf dem Europa entstand. Ohne sie, gäbe es die EU nicht. Doch es gilt nicht zu vergessen, dass Frankreich und Deutschland von Anbeginn an nicht alleine waren, sondern von den Benelux-Staaten und Italien begleitet wurden. Das Faktum, dass es Luxemburg erlaubt war, als gleichberechtigter Partner akzeptiert zu werden, ist eine Lektion, die wir nicht vergessen sollten.
Wenn in einer auf 25 Staaten angewachsenen Union spezielle Partnerschaften und Beziehungen entstehen, so ist das nur natürlich. Was hingegen niemand sehen möchte, ist, dass einige Staaten anderen gegen deren Willen ihre Wünsche aufdrängen oder aufzwingen. Das wäre gegen das Prinzip einer freiwilligen Staatengemeinschaft, in der jedes Mitglied die Gelegenheit hat, dass seine Stimme in einer transparenten Debatte gehört wird. Wenn wir nun damit begännen, dass zwei, drei oder auch vier Staaten hinter geschlossenen Türen Entscheidungen träfen, so würde das kaum zu einer Atmosphäre des gemeinsamen Vertrauens führen und wäre kaum mit dem Geist der Kooperation vereinbar, auf dem die EU gegründet wurde.
L.G.: Was soll mit der von Frankreich und den Niederlanden abgelehnten EU-Verfassung geschehen?
Vike-Freiberga: Ich denke, dass die Länder, die sich zu dieser Frage noch nicht geäussert haben, dies weiterhin tun sollten. Es ist zwar schwierig, weil im vornherein klar ist, dass die Verfassung so nicht in Kraft treten kann. Bisher haben jedoch erst zwei Staaten „Nein“ gesagt. Diejenigen Länder, die wie Lettland „Ja“ gesagt haben, sind bereit, vorwärts zu gehen. Es liegt an den Neinsagern herauszufinden, was an der Verfassung ihre Bevölkerung abgelehnt hat und dementsprechend Lösungen vorzuschlagen.
L.G.: Liegen die transatlantischen und inner-europäischen Unstimmigkeiten bezüglich des Irakkriegs hinter uns? Wie soll die EU das Ziel einer gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik verfolgen? Welcher institutionelle Rahmen wäre dazu am besten geeignet?
Vike-Freiberga: Es ist kurios, dass die Bemühungen um eine gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik ziemlich neu sind. Lange wurde die Notwenigkeit einer solchen Politik nicht gesehen. Erst mit der Irakkrise wird diese für alle offensichtlich.
Zwei unterschiedliche Fragen müssen hierzu beantwortet werden. Erstens sollten wir zumindest in der Lage sein zu bestimmen, zu welchen Fragen wir bereit sind, eine gemeinsame Politik zu formulieren. Und zweitens gilt es zu definieren, wie diese Politik aussehen soll. Wie stark integriert soll diese sein? Da gibt es die individuelle Souveränität jedes Staates in dieser Frage sowie historische Beziehungen, z.B. der ehemaligen Kolonialmächten zu ihren ehemaligen Kolonien, welche oft über Jahrhunderte gewachsen sind, und die sie kaum aufzugeben bereit sind. Bei der Konsensfindung in der Aussen- und Sicherheitspolitik gilt ebenfalls, dass es nicht sein kein, dass einige Staaten eine Position beziehen und den anderen sagen, Ruhe zu geben.
L.G.: Beunruhigt Sie der nationalistische Trend, der sich bei den polnischen Wahlen manifestiert hat? Könnte dieser die zukünftige Integration Europas in Gefahr bringen?
Vike-Freiberga: Das ist wiederum eine Frage der Semantik: Was heisst „nationalistisch“, und was bedeutet dies in der Praxis? Wenn es bedeutet, dass die Polen der Meinung sind, sie seien ein genügend grosses Land, um in Europa ernst genommen, mit entsprechendem Respekt konsultiert zu werden und ihre Meinung zählen soll, so ist dies ein völlig legitimes Interesse und dagegen nichts einzuwenden.
Als EU-Kandidatenländer und danach als EU-Neumitglieder wurden wir, die zehn osteuropäischen Staaten, mit vielen Anforderungen konfrontiert: Dies ist unser Klub. Ihr wollt rein? Dann tut es nach unseren Regeln oder bleibt draussen. Es war ein wenig eine Einbahnstrasse. Jetzt haben wir diese Hürden überwunden, die Beitrittskriterien erfüllt. Wir möchten jetzt als gleichberechtigte Partner behandelt werden.
L.G.: Welche Bedeutung haben in diesem Kontext die unterschiedlichen historischen Sensibilitäten und kollektiven Gedächtnisse der osteuropäischen Staaten? Werden diese in Westeuropa nicht richtig verstanden?
Vike-Freiberga: Ja, ich denke, das kann man so sagen. In anderen Worten, der Eiserne Vorhang war nicht nur eine physische Barriere, die Bewegungen zwischen Ost- und Westeuropa verhindert hat, sondern da war auch eine mentale Barriere. Die Geschichtsauffassung im Westen nahm die Stimmen der von den Sowjets brutal unterdrückten osteuropäischen Nationen einfach nicht wahr. Die Unterrichtsmittel im Westen wie im Osten – wo die meisten die eigene Geschichte nie richtig kennen lernen konnten – sollten versuchen, die Lücken in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zum gegenseitigen Verständnis zu füllen.
L.G.: Betrachten Sie, wie viele Polen, die Annäherung zwischen Deutschland und Russland unter Kanzler Schröder – der Putin als „lupenreinen Demokraten“ bezeichnete – als Bedrohung, insbesondere im Fall der durch die Ostsee zu bauenden Pipeline, welche Polen und die baltischen Staaten umgeht?
Vike-Freiberga: Bezüglich dem Zitat sind wir wohl beunruhigt über Kanzler Schröders Auffassung von Demokratie. Doch was die Erwärmung der deutsch-russischen Beziehungen angeht, so haben wir nichts dagegen einzuwenden. Die Frage liegt woanders: Werden hier Entscheidungen gefällt, die Drittländer betreffen, ohne dass diese konsultiert werden? Ist es korrekt, wenn eine Pipeline durch den baltischen Seeboden gelegt wird, dies zu einer reinen deutsch-russischen Angelegenheit zu machen, wo doch z.B. die damit verbundenen Umweltfragen alle Anrainerstaaten betreffen. Zudem habe ich vom EU-Energiekommissar, dass die Kommission in dieser Frage nicht konsultiert wurde. Wenn wir eine gemeinsame EU-Energiepolitik haben wollen, und wir über die Unabhängigkeit und Diversifikation unserer Energiezufuhr beunruhigt sind, dann sollten solche Grossprojekte unter Einbezug der Kommission und in voller Transparenz geplant werden. Wenn dadurch Drittländer wirtschaftlich, ökologisch, sozial oder politisch tangiert werden, so sollten diese zumindest ab einem gewissen Zeitpunkt darüber informiert werden.
L.G.: Könnten Sie für uns das Geheimnis des baltischen Wirtschaftswachstums lüften? Gibt es hier Lektionen, die Westeuropa zum Beispiel vom letztjährigen, über achtprozentigen Wachstum Lettlands lernen könnte?
Vike-Freiberga: Wie wir alle wissen, ist Ökonomie keine exakte Wissenschaft. Voraussagen kann sie nicht exakt treffen, und im Nachhinein nicht im Detail erklären. Wir selbst wären froh, wenn wir genau wüssten, wie unser Wachstum zustande kommt, damit wir es weiterhin aufrecht erhalten können. Zudem wären wir glücklich, das Rezept an andere weiter zu geben.
Doch es ist klar, dass unsere Bereitschaft, Sozialreformen durchzuführen, unsere Märkte zu öffnen und unsere Produzenten brutal zur Konkurrenz zu zwingen, so zum Beispiel unsere Bauern, die es mit stark subventionierten ausländischen Konkurrenten zu tun bekamen, mit unserer Geschichte zusammen hängt. Die Herausforderung, unter neuen, schwierigen Bedingungen überleben zu müssen, ist ein Ansporn, ein Wachstumsstimulus.
Die Menschen in Lettland lebten jahrzehntelang in einer stagnierenden Wirtschaft. Das Eintreten in eine freie Marktwirtschaft hatte für uns einen doppelten Effekt: Auf der einen Seite brachte es soziale Kosten mit sich. So müssen die Pensionen aus dem laufenden Budget bezahlt werden, da im Sowjetsystem keine entsprechenden Rücklagen getätigt wurden. Auf der anderen Seite hatte es einen befreienden Effekt. Jetzt können sich unsere Bürger den Wunsch nach besseren Lebensbedingungen erfüllen. Sie können nun ihre Wohnungen erneuern und mit einem modernen Badezimmer ausstatten, sich ein neues Auto kaufen. Viel wird auf Kredit gekauft. Wir laufen Gefahr, dass sich unsere Wirtschaft überhitzt, da das Konsum- und Kreditniveau enorm hoch sind. Die Bereitschaft, schmerzhafte Reformen zu akzeptieren, ist jedoch eindeutig ein positives Ergebnis unser Entwicklung.
L.G.: Ökonomie mag keine exakte Wissenschaft sein, doch haben die letzten fünfzig Jahre klar gezeigt, dass staatlicher Dirigismus nicht funktioniert. Nicht nur in Osteuropa, sondern auch in Westeuropa. So zum Beispiel in der Agrarpolitik, die Jahr für Jahr wie ein schwarzes Loch rund die Hälfte des EU-Budgets verschlingt, ein klares Beispiel einer Fehlallokation von Ressourcen. Haben Sie vielleicht in ihrer neu liberalisierten Wirtschaft diese Lektion schon gelernt, während dem sich Westeuropa vom Auslaufmodell des Wohlfahrtsstaates in seiner heutigen Form erst noch verabschieden muss?
Vike-Freiberga: In dieser Beziehung ist der Vergleich mit den USA bezüglich Wachstum, Innovation und Produktivität hilfreich. Europa hat immer zuerst die wirtschaftliche Sicherheit und die Wohlfahrt betont, und viel weniger Innovation, Selbstverantwortung und Kreativität.
L.G.: Gibt es in der EU keinen Riss zwischen den wirtschaftsliberaleren Ländern Irland und Grossbritannien auf der einen und den interventionistischeren Staaten Deutschland und Frankreich auf der anderen Seite? Irland bildete noch vor 30 Jahren zusammen mit Griechenland und Portugal das europäische Armenhaus. Heute ist das BSP pro Kopf in Irland höher als in Deutschland und Frankreich.
Vike-Freiberga: Die Bürger werden ihnen sagen, dass sie Sicherheit in ihrem Leben möchten. Wir hatten früher keine Freiheit, keine Innovation, kein Wachstum, dafür aber Sicherheit. Wenn man ihnen die Decke der sozialen Sicherheit wegzieht, wenn sie im Altern hungern müssen und sich keinen Arzt und keine Medikamente leisten können, so ist dies dramatisch. Alle sind wohl einverstanden damit, dass eine minimale Sicherheit notwendig ist. Wir können es nicht so wie in einem lettischen Volksmärchen machen und unsere älteren Mitbürger einfach zum Sterben in den Wald senden. So behandelten übrigens gewisse amerikanische Indianerstämme jene Menschen, die nicht mehr jagen konnten. Wir sind hoffentlich weit über dieses Stadium hinaus. Doch wie weit die Sicherheit gehen soll, das ist eine zu diskutierende, offene Frage. Der Staat muss ein Gleichgewicht zwischen diesen Extremen finden.
Sie haben recht, wenn kein Wachstum mehr da ist und die Arbeitslosenrate steigt, so sind das Indikatoren, die auf eine verfehlte Wirtschaftspolitik hinweisen. Ebenso aussagekräftig ist der Ländervergleich des BSP-Prozentsatzes, der in die Sozialwerke fliesst, mit jenem, der Investitionen und Innovationen zu gute kommt. Diese Alarmsignale weisen darauf hin, wo die Probleme liegen, und was getan werden muss.
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Der Jagdsalon des Schlosses. Photo © Chancery of the President of Latvia.
Präsidentin Vaira Vike-Freiberga. Photo © Chancery of the President of Latvia.
Der Amtssitz der Präsidentin, das Rigaer Schloss. Photo © Chancery of the President of Latvia.