Am 7. Juli 2022 beschrieb Timothy Garton Ash im ZDF spezial „Boris Johnson am Ende“ treffend den Abgang des Premierministers: „Das Ende entspricht dem Mann: chaotisch, verlogen, unwürdig, unverschämt.“ Die Lehre, die laut Timothy Garton Ash aus Boris Johnsons Jahren im Amt zu ziehen sei, lautet: Keinen Hochstapler zum Premier zu wählen.
Das an Dramen reiche Vereinigte Königreich hat vom 5. bis am 7. Juli ein neues erlebt. Zuerst traten mit Gesundheitsminister Sajid Javid und Finanzminister Rishi Sunak zwei Schwergewichte zurück. In der Folge schlossen sich ihnen 57 MPs aus der Regierung an, ehe Boris Johnson nach einem Gespräch mit Sir Graham Brady, dem Vorsitzenden des 1922 C0mmittee der Hinterbänkler, das eine Vertrauensabstimmung anordnen kann, am Donnerstag eindlich einsah, dass seine Zeit vorbei ist. Noch am Vortag war Boris Johnson voll entschlossen, weiter zu kämpfen. Selbst bei seinem Rücktritt schwadronierte er noch von den Erfolgen seiner Regierung.
Peinlich ist, dass der nun geschasste Premier gar nicht über seine grösste Verfehlung gestolpert ist: Die Lügen, die zum Brexit führten. Der Premier und seine Brexiters leben in einer Parallelwelt, in welcher der Brexit ungeahnte Möglichkeiten eröffnet. Dafür waren sie bereit, aus der weltweit grössten Freihandelszone, der EU, auszutreten, um weltweit Freihandelsverträge auszuhandeln. Dass dies keinen Sinn macht und dass eine EU-Mitgliedschaft dem Handel überhaupt nicht im Weg steht, war nur eine der vielen dreisten Lügen, mit denen die Brexiters die Briten auf einen Irrweg führten.
Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war die Affäre um Chris Pincher. Dieser wurde von Boris Johnson zum Deputy Chief Whip, der für Parteidisziplin sorgen muss, ernannt, obwohl gegen ihn Vorwürfe sexueller Belästigung im Raum standen. Der Premierminister „bereute“ seinen Fehler und behauptete, er habe davon nichts gewusst. Er musste dann – wie sie oft – seine Story ändern, bis zum Schluss der ehemalige Unterstaatssekretär Simon McDonald of Salford in einem Brief festhielt, dass Boris Johnson in Person über die Christopher Pincher Affäre informiert worden war (Brief hier am Ende angehängt).
Die Parlamentarier und Regierungsmitglieder wurden in ihrer Entscheidung, den Premierminister in die Wüste zu schicken, zudem von Umfragewerten beeinflusst. Am Abend des 5. Juli, dem Beginn der Rebellion, befragte das Umfrageinstitut YouGov die Wähler, die zu 69% der Meinung waren, Boris Johnson solle zurücktreten. Dieser wollte wie erwähnt noch nicht davon wissen, sondern ernannte sofort einen neuen Gesundheits- und einen neuen Finanzminister. Das Programm von Boris Johnson hiess schon immer „Boris Johnson“.
Der Premier überlebte im Juni ein Misstrauensvotum. Doch dabei handelte es sich um ein innerparteiliches Votum der konservativen Parlamentsmitglieder. Rund 40% der eigenen Leute sprachen Boris Johnson das Misstrauen aus. Das bedeutete natürlich, dass er de facto im Parlament über keine Mehrheit mehr verfügte, denn die Oppositionsparteien wollen natürlich ebenfalls sein Ende.
Am 5. Juli hatte der Premier Nadhim Zahawi zu seinem neuen Finanzminister gemacht. Doch selbst dieser gehörte in der Folge zusammen mit Michael Gove, der daraufhin von Boris Johnson gefeuert wurde, Priti Patel und anderen zu jenen Kabinettsmitgliedern, die dem Premier bei einem Gespräch in Downing Street Number 10 den Rücktritt nahelegten. Und selbst da wehrte sich der Premier noch weiterhin.
Wer soll nun auf Boris Johnson folgen? Zu den hoch gehandelten Konservativen gehören zur Zeit unter anderem Verteidigungsminister Ben Wallace, Aussenministerin Liz Truss, die einst gegen den Brexit war, doch seither einige Wandlungen durchmachte, sowie die zwei Kabinettsmitglieder, die die Revolte in Gang brachten: Sajid Javid, der ehemalige Gesundheitsminister, sowie Rishi Sunak, der ehemalige Finanzminister; als „Königsmörder“ könnten allerdings Stimmen fehlen. Rishi Sunak galt bis vor kurzem als heisser Anwärter auf die Johnson-Nachfolge. Doch er war ebenfalls in „Partygate“ involviert und seine vermögenden Frau, Akshata Murty, die durch ihren Vater 0,9% des indischen Softareunternehmens Infosys besitzt, geniesst „Non-Dom Status“. Das heisst, sie bezahlt fast keine Steuern (£30,000 pro Jahr) auf dem im Ausland verdienten Einkommen. Das mag zwar legal sein, doch dann wurde sie die Frau des britischen Finanzministers, der Steuern eintreiben soll. Rishi Sunaks Chancen auf den Einzug in Number 10 sind daher stark gesunken.
Nach dem Rücktritt von Boris Johnson werden die Konservativen einen neuen Leader und damit Premier aus den eigenen Reihen wählen. Das Rennen ist zur Zeit völlig offen. Es dürften sich viele Kandidaten melden. Zu ihnen gehören zudem der Aussenpolitiker Tom Tugendhat und die Generalstaatsanwältin für England und Wales Suella Braverman, um nur zwei weitere zu nennen.
Bei höchst unwahrscheinlichen Neuwahlen liegt die Labour-Opposition zwar in Umfragen vor den Tories, doch der ehrliche Keir Starmer hat ebenfalls seine Limiten. Der ehemalige „Remainer“ und ehemalige Shadow Brexit Secretary, der einst zurecht für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU kämpfte sowie ein zweite Brexit-Referendum kämpfte, hat inzwischen ungeschwenkt. Sein schlechtes Timing will es, dass ausgerechnet am 4. Juli 2022, einen Tag vor der Kabinettsrevolte bei den Tories, eine Rede publik machte mit einem 5-Punkte-Plan unter dem Titel “Make Brexit Work”. Das klingt peinlich nach einem Mix aus Trumps “Make America Great Again” und Boris Johnsons “We are going to get Brexit done.” Hinzu kommt, dass Keir Starmer in ein „Beergate“ verwickelt ist. Bei einem Wahlkampf-Termin trank er Bier zusammen mit Wahlkampfmitarbeitern, die dazu noch etwas assen. Es soll alles mit dem Covid-Massnahmen vereinbar gewesen sein, doch die Polizei untersucht den Fall. Sollte diese Keir Starmer einen Bruch der damals strengen Covid-Regeln vorwerfen, würde er zurücktreten. Da der Labour-Führer eine ehrliche Seele ist, würde er dies wohl wirklich tun. [Hinzugefügt um 13:47: Die Polizei von Durham hat soeben bekannt gemacht, dass keine Busse gegen Keir Starmer verhängt wird].
Die einzige britische Partei, die sich immer für die EU und den Verbleib in der EU ausgesprochen hat, sind die Liberal Democrats (LibDems). Ihnen fehlt leider ein charismatischer Führer. Die LibDems haben im Vereinigten Königreich mit seinem strengen Mehrheitswahlrecht (first past the post) wie alle kleineren Parteien einen schweren Stand.
Lektüre zum Thema: Tom Bower: Boris Johnson: The Gambler. Virgin Digital, October 2020, 578 pages. Das englische Buch bestellen bei Amazon.de, Amazon.co.uk, Amazon.com, Amazon.fr.
Das Photo oben zeigt Boris Johnson (official photo as Foreign Secretary). Photo credit: www.gov.uk
Artikel vom 8. Juli 2022 um 12:21 deutscher Zeit.