Boris Johnson. Porträt eines Störenfrieds

Sep 16, 2020 at 20:01 2496

Der Journalist der Hamburger Die Zeit, Jan Ross, hat mit Boris Johnson. Porträt eines Störenfrieds ein Buch veröffentlicht, das den britischen Premierminister jenseits der Klischees zeigen soll.

Für Jan Ross ist Boris Johnson ein Störenfried, ein Unruhestifter, weil er mit dem Brexit ganz Europa aufgeschreckt und die Ordnung des Kontinents durcheinander gebracht hat, weil die Schotten evenutell aus dem britischen Staatsverband auscheiden könnten, weil er eine ideologische Revolution ausgelöst und bei den Wahlen im Dezember 2019 Wähler aus dem Arbeitermilieu gewonnen hat, weil er als Schelmen- und Abenteurerfigur für das ordentliche deutsche Politikverständnis eine besondere Provokation bedeute.

Die Familie Johnson

Der Autor weist darauf hin, dass Boris Johnson kein typisches Mitglied der englischen Elite ist. Anders als David Cameron gehören die Johnsons nicht zum oberen Rand der oberen Mittelschicht, sondern haben einen viel wackligeren sozialen Status. Sie gehörten einem eher bohemehaften Milieu zu, einer Art Prekariat der Elite.

Alexander Boris de Pfeffel Johnson wurde am 19. Juni 1964 in New York geboren. Seine jungen Eltern lebten mit einem Reise- und Studienstipendium in den USA, das der Vater Stanley in Oxford gewonnen hatte. Sie führten ein unstetetes Wandersein zwischen den USA, England und dem Kontinent, und das mit einer bald sechsköpfigen Familie. Der Vater studierte in Iowa Creative Writing, um danach einen Abschluss in Agrarökonomie in Oxford zu machen. Daraufhin ging es zurück über den grossen Teich zur Weltbank und zur UNO. In London war er Teil des Planungsstabs der Konservativen Partei, in Brüssel Teil der Umweltabteilung der Europäischen Kommission. Von 1979 bis 1984 war Stanley Johnson Mitglied des Europäischen Parlaments in Brüssel.

Boris Johnsons Mutter Charlotte ist Malerin und kommt aus einer linksliberalen und intellektuellen Familie; ihre Grossmutter war die erste Übersetzerin Thomas Manns ins Englische. Boris Johnson hat einen türkischen Grossvater, der als Prominenter Publizist und Politik nach dem Ersten Weltkrieg und dem Untergang des Osmanischen Reiches mit dem Republikgründer Kemal Atatürk aneindergeriet und von Nationalisten ermordet wurde.

Jan Ross schreibt, die Johnsons zählten heute zur britischen Elite, seien aber nicht in ihr zu Hause, hätten in ihre keine tiefen Wurzeln. Daraus entspringe ein eigenentümliches Wechselspiel von Ehrgeiz und Schalkhaftigkeit, ein widersprüchles Bestreben Teil des Establishment und anerkannt zu sein – und im gleichzeitig die Nase zu drehen, es auf die Probe zu stellen, seine Grenzen auszutesten. Mit Gusto werde gegen Konventionen und gute Sitten verstossen.

Vater Stanley Johnson liebt diesselbe Art der Provokation wie Boris. Der Weltbank schlug er zusammen mit einem Freund ein $100 Millionen-Projekt zur Förderung des Tourismus in Ägypten vor. Nur bei genauerer Lektüre des Vorschlags sei zu erkennen gewesen, dass es sich dabei um Geld für den Bau von drei neuen Pyramiden handelte. Das Weltbank-Führungsgremium war allerdings nicht ganz so vertrottelt wie angenommen gewesen und habe Stanley Johnson nahegelegt, sich ein neues Betätigungsfeld zu suchen.

Jan Ross urteilt, um den alten Stanley Johnson liege etwas von der mentalen Haltlosigkeit des unwürdigen Greises. Seine Frau Charlotte urteilte, sie habe nicht mit ihm zusammenbleiben können wegen seiner Unzugänglichkeit und seiner völligen Untreue. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, kann man da bezüglich Boris nur sagen, den sein Freunde übrigens „Al“ nennen, der Kurzform von Alexander, dem ersten Vornamen unseres „Helden“. Jan Ross meint, womöglich habe sich „Boris“ gerade deshalb so überzeugend zu einer Marke, einem populären öffentlichen Besitztum entwickeln lassen, weil dieser Name für das Eigentliche, Wesentliche gar nicht stehe. „Boris“ sei ein Kunstprodukt.

Boris ist ein Schauspieler

Erhellend ist die Geschichte, in der Jan Ross den BBC-Moderator Jeremy Vine zitiert, der in den frühen 2000er Jahren in einem Londoner Hotel bei der Verleihungszeremonie einer Auszeichnung auf dem Gebiet der Finanzdienstleistungen eine Rede halten sollte. Damals war Boris Abgeordneter im Unterhaus und Kolumnist. Es schien, als sei er verloren gegangen und käme nicht mehr rechtzeitig für die After-Dinner-Speech. Doch dann, im letzten Moment kommt er, wirft sich auf den Stuhl neben Jeremy Vine und fragt: „Jeremy. Wo genau bin ich?“ Dann wirft er ein paar Notizen auf einen Zettel: „Schafe“, „Hai“. Kurz darauf tritt er aufs Podium: „Herzlich willkommen zum Internationalen Preis für die, äh, Verbriefung von Wertpapieren. Ja!“, brüllte er trumphierend, und zur Verblüffung von Jeremy Vine johlte der Saal vor Begeisterung. Die Szene wird im Detail beschrieben mit den Anekdoten zu Schafen und Hai.

Doch der Clou der Geschichte kommt erst zwei Seiten später. Eineinhalb Jahre nach dem denkwürdigen Abend zur Verbriefung von Wertpapieren hatte Jeremy Vine bei Preisverleihung einer anderen Wirtschaftsbranche zu sprechen. Der andere Gastredner war Boris Johnson. Er kam erneut im letzten Moment, wirkte erneut desorientiert, warf das Stichwort „Schafe“ auf einen Zettel und wiederholte die Rede von vor 18 Monaten. Jan Ross fasst bilanziert: Der ganze Auftritt ist bis ins letzte Detail präpariert und wird präzise exekutiert, eine einzige perfekt einstudierte, wortgenau vorgetragene Theaterszene.

Die vielen Facetten von Boris Johnson

Jan Ross hat keine eigentliche, ausführliche Biografie verfasst, sondern ein Porträt mit vielen Facetten. Er beschreibt kurz die Studentenzeit von Boris Johnson, seine Zeit als Journalist, in der er Stories erfand oder zumindest mit viel Spin versah; da hätte Ross einige Flunkereien von Boris klarer als solche bezeichnen können. Weitere Themen sind das Verhältnis des Politikers zu Europa, seine politische Ausrichtung als liberaler Konservativer, als moderner Altgrieche – Boris hat Latein und Altgriechisch studiert. Jan Ross betont die Bedeutung von Perikles für Johnson. Sein Ideal der modernen Stadt sei ein Paradies des kompetitiven Hedonismus oder der lustorientierten Konkurrenzgesellschaft. Hinzu kommt noch Homers Ilias mit ihrer Leitungs- und Prestigeethik. Immer der Beste zu sein und die anderen zu übertreffen.

Gleichzeitig ist Boris Johnson ein Politiker, bei dem eine gefährlich pubertäre Seite immer wieder zum Vorschein kommt. In seinem 2004 erschienen Roman Zweiundsiebzig Jungfrauen beschreibt Boris Johnson unter anderem einen blondschopfigen, fahrradfahrenden, skandalgeplagten, prinzipienschwachen Tory-Abgeordneten namens Roger Barlow. In der parodistischen Selbstdarstellung von Boris sagt eine desillusionierte Mitarbeiterin über ihren Arbeitgeber: „Für Roger Barlow schien die ganze Welt bloss ein komplizierter Witz zu sein, zufällig zusammengeschüttete Zutaten auf der kosmischen Herdplatte, aus denen unsere egoistischen Gene hervorgebrodelt waren. In Barlows Augen konnte man alles immer drehen und wenden, alles liess sich bestreiten und diskutieren…“ Für Jan Ross handelt es sich beim Roman um das Werk eines Künstlers, eines von Phantasie und Imagination beherrschten Menschen – und eben darin um Boris Johnsons erhellendstes, merkwürdigstes Selbstzeugnis. Trotz aller Fixierung auf die Macht sei nicht die Politik, sondern die Fiktion der eigentliche Fluchtpunkt dieses seltsamen Geistes.

Beim Brexit-Drama verweist der Autor darauf, dass Boris Johnson vor dem Referendum für den Daily Telegraph zwei diametral entgegengesetzte Artikel entwarf: einen für den britischen Verbleib in der EU und einen für den Austritt. Erst im letzten Moment entschied er sich für Leave. Politische Meisterschaft oder doch Willkür und Verantwortungslosigkeit? Jan Ross will nicht entscheiden, wirft aber die Möglichkeit in den Raum, dass es sich um reinen, atemberaubenden Nihilismus handle. Gegen Ende des Buches geht Jan Ross nochmals detailliert auf das Brexit-Drama ein.

Premierminister David Cameron appellierte bis zuletzt an den damaligen Londoner Bürgermeister, sich für Remain zu erklären, denn wenn es Johnson um die Souveränität des Vereinigten Königreiches gehe, dann müsse man bei den Beratungen und Voten der EU mit am Tisch sitzen. Der Brexit bedeute die Illusion von Souveränität, aber keine Macht, keine Kontrolle, man könne nichts bewirken. Dies war Boris Johnsons eigenes Argument für die EU aus dem Jahr 2001, merkt Jan Ross an.

Zur Erklärung von Johnsons Einsatz für den Brexit zitiert der Autor Michael Gove mit den Worten, das ganze Geschäft des Regulierens und Harmonisierens widerstehe Boris instinktiv und innerlich, er finde es freier Menschen und freier Völker unwürdig.

Jan Ross zitiert Kritiker von Johnson wie Amber Rudd, die meinten, Boris gehe es nur um seine eigene Karriere, und er sei nicht der Mann, von dem man am Ende des Abends nach Hause gefahren werden möchte. Doch die Attacken auf Boris dienten Remain nicht, und Johnson blieb populär.

Der Johnsonismus

Den „Johnsonismus“ beschreibt unser Autor in einem eigenen Kapitel. Boris habe seinen Wahlkampf für den 12. Dezember 2019 auf Wähler aus dem Arbeitermilieu ausgerichtet, weg von der Geschichte der Tories als Partei der Privilegierten. Der Brexit habe, so das Kalkül der Wahlkampfplaner, die gewohnten Parteiloyalitäten untergraben und neue Chancen für die Konservativen geschaffen.

Jan Ross beschreibt kurz, wie Boris Johnson sich als fabelhaft inkompetenter Aussenminister erwies. Als Premierminister agierte er nicht besser und verlor die Mehrheit im Parlament. Laut Jan Ross kam Boris aus dem Dreck raus, indem er und sein Chefberater Dominic Cummings es verbrachten, die endlose Reihe von schlagzeilenträchtigen Misserfolgen als irrelevante Nebensache zu behandeln, als side show zur angeblich einzig wichtigen Story: dass nämlich die Mehrheit der Briten das ganze Gewürge um den EU-Abschied satt hatte und die immer neuen Einwände und Einsprüche im Parlament zunehmend für Obstruktion hielten.

Jan Ross war im traditionell Labour wählenden Stoke-on-Trent unterwegs und kam zum Schluss, dass die Tory-Wahlkampagne einer wohlüberlegten, konsequent umgesetzten Strategie folgten. Sie führte zum Sieg mit einer Mehrheit von 80 Stimmen im Unterhaus. Hier hätte der Autor anmerken müssen, dass im first-past-the-post Mehrheitswahlrecht der Briten die Konservativen diesen Erfolg mit lediglich  43,6% der Stimmen erreichen konnten.

Jan Ross wehrt sich gegen die Sicht, der Sieg sei die alleinige Frucht von Populismus gewesen. Er sieht den Johnsonsimus als echte politische Philosophie mit einem langfristigen Plan, einer Idee von der Zukunft der Konservativen. Der Autor beschreibt ihn mit den Worten von Boris als Volkskonservatismus, der auf Premierminister Benjamin Disraeli und dessen one nation conservatism zurückgehe. Disraeli wollte die Tories als „nationale“ Partei, die Patriotismus nach aussen, Integration nach innen vertrat, während dem die Liberalen damals, im 19. Jahrhundert, für eigensüchtige Spezialbedürfnisse, von den Wirtschaftsinteressen der Fabrikantenbourgeoisie bis zu den regionalen Sonderwünschen von Schotten und Iren, gestanden hätten. Lord Randolph Churchill und sein Sohn Winston seien spätere Verehrer von Disraeli gewesen. Churchill ist nach Perikles der grosse Held von Boris Johnson. Kein Wunder, so Jan Ross, dass Boris an Disraeli anknüpfe. Die Rechte habe die Linke als politische Vertretung der Arbeiterklasse (oder was davon übrig sei) praktisch abgelöst. Zurecht erwähnt er (kurz), dass sein Gegenspieler Jeremy Corbyn offenkundig unwählbar war.

Corbyn ist meiner Meinung nach der bedeutend wichtigere Grund als der one nation conservatism, warum die Tories gewannen. Hinzu kommt, dass Jo Swinson von den Liberaldemokraten leider zu jung (als mögliche Premierministerin nicht glaubwürdig) und taktisch und strategisch unerfahren war, um im Wahlkampf mit der richtigen Botschaft Remain durchzudringen.

Zurück zu Jan Ross: Für ihn sei es ein paradox, dass mit dem Brexit-Betreiber Boris Johnson, in dem Moment, in dem sich das Vereinigte Königreich von der EU verabschiede, der britische Konservatismus „europäischer“ werde, sich vom unbedingten Marktglauben seit Margret Thatcher löse. Für Jan Ross dürften sich die Tories den Christdemokraten auf dem Kontinent annähern, er sieht keinen Grossangriff auf den Sozialstaat kommen. Im Gegenteil, alles deute auf seinen Ausbau und seine Pflege hin. Die PIS in Polen operiere ähnlich, mit „linker“ Sozialpolitik und „rechten“ Kultur- und Symbolthemen. Mit seinem Kurs habe Boris die Brexit Party von Nigel Farage, noch unter Premierministerin May als tödliche Gefahr für die Tories gesehen, kein Mandat im Unterhaus erobern lassen. Johnson habe als erster Politiker eines grossen westlichen Landes den populistischen Impuls aufgenommen und in den parteipolitischen Mainstream umgeleitet – und so die Populisten als selbständige politische Kraft zum Verschwinden gebracht. Für Jan Ross wirkten die Jahre des Hochmuts und der Ignoranz gegenüber dem vermeintlich durchgeknallten Inselvolk und dem „Clown“ an der Spitze auf einmal ein bisschen voreilig, wenn nicht geradezu peinlich.

Zwei Gefahren sieht Jan Ross für Johnsons Volkskonservatismus: Die Altgläubigen des Thatcherismus, die auf Deregulierung, etc. hofften, sowie die Hybris (Mass- und Skrupellosigkeit). Der Autor sieht die Gefahr, dass der Premierminister zum Schürer eines britischen Dauerkonfliktes werden könnte. Er könnte aber auch etwas Neues, Produktives, Heilsames versuchen: die Überwindung der sozialen und regionalen Zerrissenheit seines Landes, die Lösung für den Populismus in Europa und der westlichen Welt.

Jan Ross schiebt noch ein letztes Kapitel nach: „Der Komödiant in der Tragödie.“ Darin geht es um den Premierminister in der Corona-Krise, der selbst erkrankt, nur knapp davonkommt, an Ostern aus dem Spital entlassen wird, seine Verlobte ihn zwei Wochen danach nochmals zum Vater macht, und Johnson ein Loblied auf den NHS anstimmt und von einem New Deal für sein Land spricht.

Affaire à suivre. Es sieht für mich eher so aus, als führe Johnson sein Land – aus vielerlei, buchfüllenden Gründen – in eine Sackgasse. Kommen dann die Populisten wieder hervor oder kriegen die Briten unter neuer Führung dann noch die Kurve?

Jan Ross: Boris Johnson. Porträt eines Störenfrieds. Taschenbuch, Rowohlt Verlag, 2020, 173 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

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Buchkritik / Rezension vom 16. September 2020. Hinzugefügt um 20:01 deutscher Zeit.