Helmut Friedel: Gerhard Richter. Figürliche Malerei 1963-2009

Mrz 11, 2025 at 12:55 187

Im Frühjahr 2024 hat Gerhard Richter die in diesem Buch versammelte Auswahl eigener Gemälde getroffen, die sich der figürlichen Malerei widmen. Im August 2024 fügte der Künstler dann fünf weitere Werke seiner Auswahl hinzu. So sind insgesamt fünfzig zusammengekommen. Dabei handelt es sich durchwegs um Darstellungen von Personen. Es handelt sich innerhalb seines breit gefächerten Œuvres gegenständlicher wie abstrakter Werke um ein besonderes Segment – um Menschenbilder.

Helmut Friedel, ein ehemaliger Direktor des Münchner Lenbachhauses und langjähriger Freund des Künstlers, sucht gemäss seinen eigenen Worten in seinem Essay nach Bezügen zwischen den einzelnen Werken, ihrer malerischen Bewältigung, ihrer Entstehung und den dargestellten Personen.

Helmut Friedel: Gerhard Richter. Figürliche Malerei 1963-2009. Schirmer/Mosel, Oktober 2024, 141 Seiten mit 53 Abbildungen in Farbe. ISBN 978-3-8296-1019-3. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und das Buch bestellen bei Amazon.de.

Helmut Friedel verweist darauf, dass die für diese Publikation ausgewählten fünfzig Gemälde im Original Masse von 30 auf 40 Zentimetern bis zu etwa zwei mal zwei Metern haben. In der reproduzierten Wiedergabe in diesem Buch nähern sich diese Bilder beinahe den Massen der Photovorlagen an, die dem Maler beim Arbeiten an seinen Gemälden dienten.

Beim Thema „Malen einer Photographie“ greift Gerhard Richter neben zahlreichen Photos aus Zeitungen und Magazinen immer wieder auf alte Albumphotos aus der eigenen Familie zurück. Alle Familienbilder zusammen genommen nehmen beinahe die Hälfte aller Gemälde in diesem Buch ein. Dazu gehören Werke, die seine eigene Familie mit seiner Frau Sabine und den gemeinsamen Kinder zeigen. Hinzu kommen Arbeiten mit Bildtiteln wie Onkel Rudi und Tante Marianne. Daneben hat Gerhard Richter Gemälde ausgewählt, auf denen die Familie seiner ersten Frau Ema (Eufinger) zu sehen sind. Hinzu kommt der Künstler selbst mit dem Werk Selbstbildnis aus dem Jahr 1996.

Doch es sind eben nicht nur Bilder seiner Familie. Helmut Friedel unterstreicht, dass Gerhard Richter bewusst die Titel seiner Gemälde immer möglichst lange offen hält. So hiess das Werk Tante Marianne mal Mutter und Tochter bzw. Mutter und Kind, bis weitere Details bekannt wurden, nämlich dass das Kind den kleinen Gerhard zeigt.

Zu den Fotos der eigenen Familie als Vorlage kommen Gestalten der Geschichte, mehrheitlich der Zeitgeschichte, Politiker, Schauspielerinnen, Freunde und Bekannte. Doch für alle in diesem Buch reproduzierten Gemälde griff Gerhard Richter auf Photographien als Motive seiner Malerei zurück.

Die Photovorlagen basieren auf sehr unterschiedlichem Ausgangsmaterial. Dazu gehören Magazine wie u.a. Stern, Neue Illustrierte, Revue, DER SPIEGEL, Abbildungen aus Büchern, Photos aus Familienalben und schliesslich solche, die Gerhard Richter selbst oder andere Menschen aufgenommen haben.

Gerhard Richter hat vielerlei Fragen zum Grund seiner künstlerischen Entscheidung, seine Arbeiten an Hand von Photographien in Angriff zu nehmen, in seinen Texten selbst beantwortet. Gefragt nach dem speziellen Motiv, der Vorlage zu Oswald, antwortete er: „Es ist wie bei all den Photos – sie haben dann mehr Geheimnis und Rätselhaftigkeit als die klaren, ablesbaren Photos. Es liegt mir, weil das Kennen einer Geschichte letztlich gar nichts bringt, sondern uns nur abspeist.“

Daraus schliesst Helmut Friedel, dass es zunächst nicht darum gehen kann, die einzelnen dargestellten Menschen zu benennen, ihre Vita ausführlicher oder nur ausschnittsweise zu erzählen und somit aus einem malerischen Werk eine bebilderte Erzählung, eine eher unzusammenhängende Geschichte zu fabrizieren.

Gerhard Richters Umgang mit den Motiven und die Herangehensweise an die Bildvorlagen variieren stark und weichen deutlich voneinander ab. Die meisten dieser Vorlagen, zum Teil mit Arbeitsspuren von Farbe, Zeichnung (Quadrierung) oder Zuschnitt hat der Künstler im „Atlas“ versammelt. Jedes Gemälde und damit jede dargestellte Person erfährt seine/ihre individuelle maltechnische Behandlung, womit die Besonderheit jeder Person untermauert wird, so Helmut Friedel. Der Essayist unterstreicht, dass darauf hinzuweisen seinen Grund hat, denn die amerikanischen Pop Art-Künstler Andy Warhol und Roy Lichtenstein sind mit ihren für Gerhard Richter wegweisenden Werken ab dem Beginn der 1960er Jahre auch dadurch aufgefallen, dass sie die Druckraster ihrer Bildmotive in Vergrössung zu einem wichtigen, medienspezifischen Aspekt ihrer Darstellung machten.

Helmut Friedel verweist zudem auf Sigmar Polke, einen der engen Freunde Gerhard Richters jener Jahre, der wie die Amerikaner vergrösserte Rasterpunkte für seine Arbeit verwendete, indem er sie nicht technisch im Siebdruck einsetzte, sondern in „Handarbeit“ Punkt für Punkt malte.

Helmut Friedel hält fest, dass sich Gerhard Richters Ansatz von solcher Medienbetrachtung vollständig unterscheidet. Die technische Ausführung einer photographischen Vorlage scheint dem deutschen Künstler nahezu gleichgültig, hingegen „bewegt“ ihn die Aufnahme selbst. Hierzu zitiert der Essayist Gerhard Richter mit den Worten: „Vielleicht weil das Photo mir leid tut, weil es ein so elendes Dasein fristet, wo es doch so ein vollendetes Bild ist, möchte ich es gültig, sichtbar machen … Und das Machen ist so, dass ich es nicht kapieren, nicht bedenken und planen kann. Deshalb male ich immer und immer wieder Photos ab, weil ich nicht dahinterkomme, weil man Photos nur abmalen kann. Weil es mich reizt, einer Sache derart ausgeliefert zu sein, etwas so wenig zu beherrschen.“

Laut Helmut Friedel entdeckt Gerhard Richter andere Potentiale der Gestaltung eines Bildes mittels photographischer Vorlage: zum einen den Bildausschnitt, mit dem er das Format bestimmen kann, wobei er sich dabei die Freiheit nimmt, sein „gefundenes“ und von ihm selbst festgelegtes „Bild“ zum Format des Gemäldes zu machen und/oder den Ausschnitt auf der Leinwand zu platzieren.

In der Folge analysiert Helmut Friedel die von Gerhard Richter ausgewählten Gemälde. Die erste Hälfte der abgebildeten Werke ab sind solche, die der Künstler zwischen 1963 und 1975 nach Schwarzweiss-Photos gemalt hat. Die Herangehensweise variiert von einem Gemälde zum anderen im Format, der Grösse und der Grautönung wie dem jeweils eigenen Pinselduktus. Farbe tritt bereits bei Frau mit Schirm im Jahr 1964 in Erscheinung und übernimmt vollständig in Ema (Akt auf der Treppe) von 1966  sowie bei Königin Elisabeth von 1967.

Helmut Friedel betont, die Farbe fehle in keinem der Gemälde. Sie ist allerdings hauptsächlich in Gestalt von Beimischung zum Grau zu sehen, wobei dieses Grau durch unterschiedlichste Malweise, durch Struktur und Vibration vom dumpfen Anstrich zum Licht gebracht wird.

Um 1971 malt Gerhard Richter Grau-Bilder unter Verzicht jeglicher Abbildung. Laut dem Essay wird so eine zentrale Möglichkeit von Malerei in grösster Klarheit und Vielfalt beleuchtet. Helmut Friedel zitiert hierzu Gerhard Richter von 1964/65 mit den Worten: „Mich interessieren nur die grauen Flächen, Passagen und Tonfolgen, die Bildräume. Überschneidungen und Verzahnungen. Wenn ich eine Möglichkeit hätte, auf den Gegenstand als Träger dieses Gefüges zu verzichten, würde ich sofort abstrakt malen.“

Nach der Analyse der Bilder am Ende dieses Buches folgert Helmut Friedel, da diese so viel Persönliches durch blosses Betrachten preisgeben, lässt sich schliessen, dass es sich bei allen in diesem Band gezeigten Personen um Menschen handelt, die Gerhard Richter wichtig sind und waren. Seine Familie bildet in dieser Bilderserie eine malerische Nähe zueinander und eine Einheit durch das kleine Format. Gerhard Richters Bilderwahl ermöglicht laut Helmut Friedel einen Einblick in die Welt des Künstlers und einen Streifzug durch sein Leben. Den letzten Satz überlässt er Gerhard Richter: „Das Hauptproblem meiner Malerei ist das Licht.“

Dies und noch mehr gibt es zu entdecken in Helmut Friedel: Gerhard Richter. Figürliche Malerei 1963-2009. Schirmer/Mosel, Oktober 2024, 141 Seiten mit 53 Abbildungen in Farbe. ISBN 978-3-8296-1019-3. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und das Buch bestellen bei Amazon.de.

Das Buchcover ziert übrigens das kleinformatige (40 x 31 cm) Werk Ella von 2007. Dazu ist im Essay zu lesen, dass der nach unten gerichtete, versunkene Blick auf etwas Unsichtbares verweist. Wie bei Vermeer gibt es diesen Blick auf Menschen, die träumen, sinnen, lesen oder denken. Das wunderbare Geheimnis der Gedanken-Welt der abgebgildeten Person bleibt unerreichbar für den Maler wie erst recht den Betrachter. Laut Helmut Friedel wählt Gerhard Richter in Ella eine an den Niederländer des 17. Jahrhunderts erinnernde Farbstimmung und Malstruktur. Durch zartes Verwischen mit dem Pinsel entsteht ein Bild mit abgeschwächten Konturlinien. Diese zarte Verschleierung eröffnet es dem Betrachter, tiefer zu sehen und noch mehr zu erahnen. Durch die Vibration der unscharf erscheinenden Darstellung denkt und vollendet sich das Bild erst im Schauen, so der Essay.

Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Buchkritik von Gerhard Richter. Figürliche Malerei 1963-2009 sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Rezension/Buchkritik von Gerhard Richter. Figürliche Malerei 1963-2009 hinzugefügt am 11. März 2025 um 12:55 deutscher Zeit.